Buch des Monats: November 2023

Schröter, Susanne

Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass.

Freiburg i.Br. u.a.: Herder 2022. 240 S. Kart. EUR 20,00. ISBN 9783451393679.

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Das Buch der an der Goethe-Universität Frankfurt/Main lehrenden Professorin für »Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen« wendet sich an eine breite Leserschaft und bietet eine kritische Sicht auf Wahrnehmungsgewohnheiten, Trends und Diskurse in westlichen Gesellschaften. Dabei wird eine Reihe von Themen in den Blick genommen, die auf den ersten Blick nicht unmittelbar miteinander zusammenzuhängen scheinen. Susanne Schröter setzt nach einer Einleitung mit »Der russische Überfall auf die Ukraine« (11–34) ein, gefolgt vom Kapitel »Interventionsromantik« (35–56), dass sich mit dem internationalen Einsatz in Afghanistan beschäftigt. Die folgenden Kapitel sind den Themen »Herausforderung Islamismus« (57–78), »Im ideologischen Dschungel des Postkolonialismus« (79–98) sowie dem Thema »Rassismus« unter »Kulturkrieger auf dem Weg zur Macht« (99–126) gewidmet. Der Blick weitet sich sodann auf die Themen »Fallstricke der Migrationspolitik« (127–148), »Geopolitische Machtspiele« (149–168) sowie »Zeitenwende« (169–190) und »Die Zukunft des Westens« (191–206).

Bei einer solchen Fülle von Themen, deren jedes einzelne Thema einer Monographie würdig wäre, stellt sich die Frage nach dem Cantus firmus des Buches: Was ist der rote Faden, der sich für die Ethnologin durch alle Thematiken zieht? Es ist – pointiert – das »Scheitern des Westens«. Schröter sieht das Scheitern des Westens begründet in einer »krude[n] Mischung aus Hybris und Selbsthass, die gleichermaßen zum Aufstieg von Diktaturen wie zur Eliminierung fundamentaler demokratischer Errungenschaften führt« (7). Die Hybris sieht Schröter im Blick auf Afghanistan etwa in der politischen wie medial kolportierten Erwartung, diese weitgehend tribal verfasste Gesellschaft von außen her verändern zu können oder in der über viele Jahre gehegten Hoffnung, mit der Devise »Wandel durch Handel« einer bereits seit langer Zeit erkennbar totalitären Tendenz in Staaten wie Russland oder China entgegenwirken zu können. Der Selbsthass des Westens wird auf den Aufstieg postkolonialer Theorien im Gefolge des Buches von Edward Said »Orientalism« (1978) zurückgeführt, in denen – je länger desto deutlicher – der »Westen« als Ursache aller möglicher Übel erklärt werde:

»Der Umstand, dass die Hybris des Westens durch einen pathologisch anmutenden Selbsthass konterkariert wird, macht die Situation zusätzlich kompliziert. Beides nährt sich aus der gleichen Quelle, nämlich aus der Vorstellung, im Guten wie im Schlechten allmächtig zu sein. Dass Narrativ, der Westen sei für Armut, Kriege und Umweltkatastrophen in aller Welt verantwortlich, wird wider besseres Wissen von Kirchen, Medien und zivilgesellschaftlichen Lobbyorganisationen kolportiert und im globalen Süden gerne aufgegriffen. Es enthebt korrupte Eliten der eigenen Verantwortung und garantiert einen stetigen Fluss finanzieller Mittel für die sogenannte Entwicklungszusammenarbeit, die wiederum von findigen Akteuren in die eigenen Taschen gelenkt werden. Seit Langem fordern afrikanische Intellektuelle einen Stopp dieser Praktiken, doch im Westen möchte man nicht von dem Konzept der Hilfe lassen, das immer zwei ungleiche Partner, nämlich einen mächtigen Helfer und einen ohnmächtigen Hilfeempfänger, produziert.« (194–195)

Da eine breite Strömung postkolonialer Theorie sich grundlegend am (einlinigen) Schema von Täter und Opfer orientiert, verwundert es nicht, dass die Zuschreibung als »Opfer« von bestimmten Akteuren gerne aufgegriffen wird, um als Vehikel des eigenen Ressourcenerwerbs zu dienen. Insbesondere den Einfluss der Critical Race Theory sieht Schröter hier kritisch, da diese Theorie – ausgehend von Universitäten in den USA und mittlerweile auf europäische Länder ausstrahlend – »den Anspruch einer allgemeinen Gesellschaftstheorie« erhebe (94). Ein Problem bestehe darin, dass ein »Othering« in dieser Theorie allein »dem Westen« angelastet werde, was ethnologisch betrachtet unzutreffend sei, da das »Othering, die Wahrnehmung von Menschen als nicht identisch mit der eigenen Gruppe, […] zur kognitiven menschlichen Grundausstattung« gehöre (94). Auf der Basis postkolonialen Denkens werde mittlerweile eine Vielzahl von Rassismus-Vorwürfen erhoben bis hin zu einem »Rassismus ohne Rassen«, was (inzwischen auch etwa an deutschen Universitäten und anderswo) zu einer bedenklichen »Cancel-Culture« führe, die sowohl den freien und kritischen Diskurs wie auch die Wissenschaftsfreiheit bedrohe. Kritisch bemerkt Schröter:

»In einer Zeit, in der man glaubte, bei der Überwindung des Rassismus signifikante Fortschritte zu machen und in der Personen nicht mehr anhand unveränderlicher äußerlicher Merkmale beurteilt werden sollten, erfolgt durch die Critical Race Theory ein Rückschritt in eine finstere Vergangenheit, in der Hautfarbe die Grundlage einer Eingruppierung von Menschen war. Dass der neue Rassismus sich das Mäntelchen einer Gleichheitsideologie umlegt, kann nur als Borniertheit oder Zynismus verstanden werden.« (105)


Die Folgen der Idee, eine Gleichheit nach Proporz administrativ herstellen zu wollen, da dies »Gerechtigkeit« verbürge, sind ebenso bedenklich wie demokratiegefährdend, wie Schröter anhand von Beispielen herausstellt:

»Cancel Culture ist Zensur im Namen einer höheren Gerechtigkeit und soll dem Schutz vermeintlich vulnerabler Personengruppen dienen. Deren Schutzbedürftigkeit wird mit einem abstrusen Sicherheitsbegriff begründet, der bereits eine Gefährdung als gegeben sieht, wenn eine feministische Professorin Biologie für Realität hält. Sicherheit bedeutet also nichts anderes als den Schutz vor einer Meinung, die nicht der eigenen entspricht. Für dieses Ziel müssen alle Stimmen zum Schweigen gebracht werden, die die Welt anders betrachten als die vulnerable Person. Jeds Mittel gilt als gerechtfertigt: Mobbing, Gewalt und die Zerstörung beruflicher Existenzen. Das ist nicht nur für die Betroffenen desaströs, sondern auch für die Gesellschaft. Besonders trifft es Journalisten, Beschäftigte im Kultursektor und die Universitäten. Professoren, die sich kritisch zu Islamismus oder der herrschenden Einwanderungspolitik äußern, werden gemobbt, diffamiert und unter Druck gesetzt, Studenten erhalten Punktabzüge, wenn sie nicht gendern. Missliebige Forschungsthemen werden nicht mehr finanziert oder fallen als Abschlussarbeiten durch. Junge Wissenschaftler, die in der Regel auf zeitlich befristeten Stellen arbeiten, sind in besonderem Maße gehalten, sich dem Zeitgeist anzupassen und ausschließlich gefällige Themen zu bearbeiten, weil ihre Karriere andernfalls ein abruptes Ende nehmen könnte.« (110–111)

Ein postkoloniales Denken dieser Art führt zu »Identitätspolitiken«, deren vielfältige Auswirkungen dazu führen können, den Zusammenhalt in westlichen Gesellschaften zu zerrütten, da sie zu Opfer-Konkurrenzen führen, da Menschen immer weniger als Individuen und Staatsbürger mit gleichen Rechten wahrgenommen werden, sondern als Angehörige verschiedener Opfergruppen, sei es nach Geschlecht, sexueller Orientierung, Hautfarbe, Religion oder anderen Zuschreibungen. Dass eine Identitätspolitik dieser Art zu zutiefst illiberalen, die verschiedenen Freiheiten einschränkenden und gefährdenden Konsequenzen führt, liegt auf der Hand.
Schröter gibt zu bedenken, dass gesellschaftliche Diskurse darunter leiden, dass kritische Fragen zu Themen wie Islamismus, Außenpolitik, Einwanderungspolitik, Gendern oder Sexualethik von derzeit tonangebenden Akteuren reflexhaft unter das Label »rechts« oder »rechtsextremistisch« gefasst werden, um sie so aus dem Diskurs heraus zu drängen. Damit nehme die Demokratie Schaden, da wichtige Themen nicht mehr kontrovers diskutiert werden können. Auch im Spiel seien hier oft

»Identitätspolitiken, die von gut organisierten Minderheiten genutzt werden, um sich einen privilegierten Zugang zu materiellen und immateriellen Ressourcen zu verschaffen. Hypermoralisierungen, abstruse Sprachregelungen, die Etablierung eines antiweißen Rassismus und die generelle Abwertung der autochthonen Bevölkerung des Westens, die im Konzept des strukturellen Rassismus festgeschrieben sind, werden von großen Teilen der Gesellschaft nicht mehr mitgetragen. Auch in der Mitte der Gesellschaft entstehen dadurch abgeschottete Segmente, die sich von anderen abkapseln.« (201)

Die hier angedeuteten Aspekte werden in diesem Buch materialreich, hellsichtig und kritisch für außenpolitische wie innenpolitische Themen diskutiert. Es leistet damit einen wichtigen Beitrag dazu, eine Reihe von Begriffen zu überdenken, die teils demokratie- und freiheitsgefährdenden Konsequenzen von bestimmten Theorien in den Blick zu nehmen und allzu wohlfeile Stereotypen zu hinterfragen. Schröter plädiert für die Rückbesinnung auf Prinzipien eines aufgeklärten Denkens, in denen es um eine ebenso robuste wie konstruktive Streitkultur auf der Basis wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse als Grundlage von Wissenschaft, Gesellschaft und Diskurs geht. Dem Buch ist – in Gesellschaft wie Kirchen gleichermaßen – eine breite Rezeption zu wünschen.

Henning Wrogemann (Wuppertal)

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