Buch des Monats: Februar 2016

Höffe, Otfried

Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne.

München: C. H. Beck Verlag 2015. 398 S. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-406-67503-4.

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Es gibt wenige Denker in Philosophie, Ethik oder Politik, von denen man so viel lernen kann wie von Kant. Einer der jüngsten Belege dafür ist Otfried Höffes große Studie Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne. Das Buch ist eine Summe der moral-, politik- und rechtsphilosophischen Arbeiten des emeritierten Tübinger Philosophen. Es belegt in eindrücklicher Weise, wie man in Auseinandersetzung mit aktuellen Freiheitsproblemen in Technik, Medizin und Erziehung, in Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst, in Politik, Recht und Neurowissenschaft, ohne einen dogmatischen Kantianismus zu vertreten, mit Kant produktiv über Kant hinausgehen und offen für Einsichten von Aristoteles über Hegel bis zur Gegenwartsphilosophie zentrale Probleme unserer Zeit kritisch, konstruktiv und erhellend durchdenken kann.
„Die Freiheit“, so stellt Höffe im ersten Satz seines Buches klar, „ist das höchste Gut des Menschen, sie macht seine Würde aus.“ (11) Das galt schon immer, aber erst in der Moderne rückten die vielschichtigen und vielfältigen Phänomene der Freiheit umfassend und in allen Facetten in den Fokus. Deshalb konstruiert Höffe sein Buch um die beiden Problempole Freiheit und Moderne, liefert also nicht nur einen Beitrag „zu einer philosophischen Anthropologie“, sondern auch „zu einer kritischen Theorie von Freiheit und Moderne“ (11). Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Eine judikative Kritik hat beides ernst zu nehmen: einerseits, dass „die Freiheit ein Konstitutiv des Menschen“ ist, aber dass sie zugleich auch eine „noch zu bewältigende Aufgabe“ darstellt, und andererseits, dass die Moderne ohne das „Prinzip Freiheit“ nicht zu denken ist, aber dass sie auch durch die „Kehrseiten ihres Freiheitsprojektes“ gezeichnet ist, die zu Skepsis Anlass geben (11). Wer die Leistungen der Freiheit kritisch würdigen will, darf ihre Gefahren und Gefährdungen nicht ignorieren oder leugnen. Ein abgewogenes Urteil muss beides beachten.
In einem einleitenden Kapitel skizziert Höffe Aufgabenstellung, Methode und Umrisse seines Projekts, das er in fünf Teilen durchführt. Freiheit ist ein vieldeutiges Phänomen, sie wirft nicht nur einen Problemzusammenhang auf und setzt „kein homogenes Freiheitsverständnis“ voraus (15). Statt der linearen Entfaltung eines einzigen Prinzips untersucht Höffe daher ein Phänomencluster verschiedener Freiheitsdiskurse in fünf Teilen, die jeweils relativ eigenständige Abhandlungen darstellen. Gerade so aber machen seine beispielreichen, phänomennahen und differenzierten Gedankengänge das Werk insgesamt zu einem kritischen Kommentar zur Situation unserer Zeit – zu einem Kommentar, der an keiner Stelle verleugnet, dass er Kants Perspektive verpflichtet ist, einen aufgeklärten Liberalismus vertritt und die gegenwärtige Situation menschlichen Miteinanders von der Position einer konstitutionellen Demokratie her beurteilt. Sie hält Höffe mit Recht für eine zivilisatorische Errungenschaft von Rang und eine der „größten kulturellen Innovationen der Menschheit“ (241).
In einem ersten Teil steht die „Freiheit von Naturzwängen“ im Zentrum (43-109), wobei neben den Problemfeldern der „äussere[n] Kultivierung“ in Technik und Medizin auch die „innere Kultivierung“ im Programm einer – an Kants Pädagogik angelehnten – „Erziehung zur Freiheit“ durch Disziplinieren, Kultivieren, Zivilisieren und moralische Verantwortungsbildung entfaltet wird. Ein zweiter Teil widmet sich dem Thema „Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft“ (111-194) und geht dem Freiheitsphänomen vor allem in der Ökonomie („freier Markt“) und in der Gesellschaftstheorie „(„Gerechtigkeit im Namen der Freiheit“) nach. Ein dritter Teil verfolgt die Fragestellung in „Wissenschaft und Kunst“ (195-232), die in Deutschland aus gutem Grund besonderen Rechtsschutz genießen. Ein vierter konzentriert sich auf das Themenfeld der „Politi-sche[n] Freiheit“ (233-322) und entfaltet in einem konzentrierten Gedankengang einen Bogen, der vom Konzept einer „konstitutionelle[n] Demokratie“ über die „Freiheitsrechte“ und die Probleme von „Minimalbürger, Staatsbürger, Weltbürger“ bis zu Überlegungen zu einer „Freiheitliche[n] Weltordnung“ führt. Dieser Teil mit seinen fünf Kapiteln stellt zweifellos einen der Höhepunkte dieser Studie dar. Der abschließende fünfte Teil fundiert die Überlegungen der vorangehenden Teile in einer Abhandlung über „Personale Freiheit“ (323-375), die den Gedanken einer gestuften Willensfreiheit und – im Anschluss an Kant – vor allem der Autonomie in kritischer Auseinandersetzung mit neurowissenschaftlichen Ansätzen von Libet bis Singer entwickelt und verteidigt. Ein Anhang mit Bibliographie, einer Liste der einschlägigen Vorarbeiten des Autors sowie Personen- und Sachregister beschließt den überaus lesenswerten Band.
Drei Punkte sind zentral für Höffes Verständnis von Freiheit in allen Bereichen. Zum einen ist Freiheit immer zugleich als Wirklichkeit, als Aufgabe und als Sehnsucht der Menschen zu verhandeln (14 f.). Freiheit ist „Merkmal des Menschen, bloß weil er Mensch ist“ (19) und als anthropologisches Grundphänomen entlang der drei Kantischen Leitfragen im Modus des Seins (Wissen), des Sollens (Tun) und des Dürfens (Hoffen) zu konstruieren. Zum anderen hat Freiheit sozialphilosophisch den Vorrang vor anderen Prinzipien: Die Freiheit und nicht die Gerechtigkeit ist das maßgebliche sozialphilosophische Thema. Damit unterscheidet sich Höffes Projekt nicht nur von der gerechtigkeitszentrierten Liberalismusdiskussion der letzten Jahrzehnte im Gefolge von John Rawls, sondern auch von jüngsten Parallelentwürfen wie Philip Pettits Gerechte Freiheit. Ein moralischer Kompass für eine komplexe Welt (Berlin 2015). Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität sind Prinzipien, die der Freiheit nachfolgen und sie unter bestimmten Gesichtspunkten präzisieren. Sie sind soziale Konkretionen der Freiheit, die diese immer schon voraussetzen und sie nicht ersetzen können. Zum dritten ist Freiheit in allen Versionen stets zweipolig zu denken, als Unabhängigkeit von Zwang (negativer Freiheitsbegriff) und als „positive Fähigkeit, selbst Ziele zu setzen und Mittel zu wählen“ (21) (positiver Freiheitsbegriff). Mit Kant wird der negativen Freiheit individual- und gattungsgeschichtlich eine „entwicklungsgeschichtliche Priorität“ eingeräumt (22), während die positive Freiheit im Projekt einer moralisch selbstbestimmten personalen Freiheit ihren höchsten Ausdruck findet.
So überzeugend Höffe über weite Strecken argumentiert, so deutlich ist, dass er sich weithin auf die ersten beiden Fragen Kants konzentriert (Was kann ich wissen? Was soll ich tun?), während er das Themenfeld der dritten Frage (Was darf ich hoffen?) allenfalls streift. Die Freiheit wird primär als Wirklichkeit und als Aufgabe, aber kaum als Sehnsucht verhandelt. Insofern ist das Hauptdefizit dieses Entwurfs der fehlende sechste Teil, der sich auf die Grundlagen und Voraussetzungen der Freiheit in den fünf dargelegten Bereichen konzentriert. So stellt Höffe an keiner Stelle die Frage nach dem Grund der Möglichkeit von Freiheit, blendet also das gesamte Problem- und Theoriegeflecht aus, das in der Entwicklung nach Kant bei Fichte, Schelling, Schleiermacher oder Hegel zu Fortbildungen führte, die das Freiheitsvermögen der Menschen in einer grundlegenderen Struktur sich frei vermittelnder Vernunft bzw. von jenseits ihrer selbst her konstituierten Subjektivität angelegt sahen. Höffe betont nachdrücklich: „Der Mensch ist nicht einfachhin frei und verantwortlich; er muß es werden“ (356). Und er geht detailliert der Frage nach, wie man solches Frei- und Verantwortlichwerden pädagogisch fördern und kultivieren kann (89–109). Aber er fragt nicht über die Kultivierung hinaus nach dem, was in der klassischen Freiheitsphilosophie des deutschen Idealismus oder den theologischen Entwürfen einer freiheitsbegründenden kreativen Passivität des Menschen zu denken versucht wird. Die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit wird nicht nur nicht beantwortet, sie wird gar nicht gestellt.
Damit verbunden ist ein eigentümlich einseitiger Blick auf das Religionsthema. Zwar wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Konzentration auf Freiheit eine wichtige Wurzel in der vorchristlichen und christlichen Tradition hat (26-29) und in der Reformationsepoche in neuer Weise aufgebrochen ist, wenn auch mit „fraglos freiheitsfeindlichen Folge[n]“ (35). Aber das christliche und insbesondere paulinische Freiheitsdenken wird doch ganz einseitig als Fortsetzung der stoischen „rein inneren Freiheit“ (28) ausgegeben, und theologische Themenbestände wie göttliche Gnade, Vorherbestimmung oder göttliches Recht werden eher als „freiheitsgefährdende[...] Faktoren“ (29) verstanden und nicht in ihrer freiheitsermöglichenden, freiheitsfördernden und freiheitskonkre-tisierenden Funktion bedacht. Insgesamt wird das Religionsthema viel zu pauschal, viel zu undifferenziert und – das zeigen vor allem die oft in Frageform eingestreuten Bemerkungen zum Islam – viel zu moralaffin und ohne Beachtung der Eigenart des Religiösen verhandelt, zum Schaden der Sache der Freiheit. Höffe weiß zwar sehr gut, dass nicht alle Religion über einen Leisten geschlagen werden darf und Unterschiede zu machen sind, wenn man zu einem judikativen Urteil kommen will. Aber er macht sie kaum – weder im Blick auf Religion im Allgemeinen noch im Blick auf das Christentum im Besonderen.
Das zeigt sich schließlich auch dort, wo Höffe nach dem „Preis der Freiheit“ fragt (364-372), also danach, dass wir Freiheit nicht nur gebrauchen können, sondern müssen („der kleinere Preis“), und dass wir sie nicht gebrauchen können, ohne sie auch missbrauchen zu können („der große Preis“). Dass die Fähigkeit des Menschen zur Freiheit die Fähigkeit „zum Mißbrauch bis hin zur radikalen Perversion der Freiheit, zum Bösen“ (371) einschließe, wäre einer gründlicheren und differenzierteren Diskussion würdig gewesen. Was Höffe zum Bösen sagt, ist allenfalls eine Aufgabenbestimmung, deren genauere Ausarbeitung allerdings dem ganzen Ansatz eine andere Richtung geben könnte. Nach Höffes Sicht ist der Missbrauch die nicht auszuschließende Seite jedes Freiheitsgebrauchs. Doch dieses häufig angeführte Argument ist fragwürdig. Zum einen ist, wenn überhaupt, nicht der Missbrauch, sondern nur die Möglichkeit des Missbrauchs ein Preis der Freiheit, und die Frage nach dem Grund der Wirklichkeit des Missbrauchs bleibt weit offen. Zum anderen ist zwar die Wirklichkeit der Freiheit stets ein Mehr oder Weniger, aufgespannt zwischen den Polen der Freiheit und der Unfreiheit, doch die Möglichkeit der Freiheit ist nicht so zu charakterisieren. Was vom faktischen Gebrauch der Freiheit gelten mag, gilt keineswegs auch für das Ideal, das im Gedanken der Freiheit gedacht wird, ob diese als Ziel menschlicher Hoffnung, als Attribut Gottes oder als göttliche Gabe an den Menschen bestimmt wird. Das Ideal macht die Gefährdungen der Freiheit (im Doppelsinn des Genetives) überhaupt erst deutlich und leitet dazu an, sich in der Hoffnung auf Freiheit klug zu verhalten und die möglichen Abgründe und Abstürze des Freiheitsgebrauchs nicht zu unterschätzen. Aber die Fragwürdigkeiten faktischer Freiheit machen das Ideal der Freiheit selbst nicht fragwürdig. Was in diesem Ideal zum Ausdruck kommt, ist nicht ambivalent: Die Hoffnung auf Freiheit setzt auf ein Gut, nicht auf ein Entweder-Oder des Guten oder Bösen. Gottes Freiheit ist eine Freiheit, die des Missbrauchs nicht fähig ist, und eine daran ausgerichtete menschliche Freiheit sollte das auch sein. Und Gottes Freiheitsgabe ist und bleibt ein Gut, auch wenn Menschen sie pervertieren. Die menschliche Wirklichkeit mag dem Ideal der Freiheit nie vollkommen entsprechen. Aber seine Realisierung anzustreben, sollte eine Aufgabe eines menschlichen Lebens sein, und die Hoffnung und Sehnsucht der Menschen nach Freiheit ist ein Grundmovens, sich um eine Gestaltung gelebter Freiheit zu bemühen, die Missbrauch wenn nicht unmöglich, so doch unwahrscheinlicher macht. Werden die moralische Aufgabe der personalen Freiheit oder kulturelle Institutionen wie die des Rechts in diesem Gabecharakter erfahrener Freiheit verankert, dann sind sie nicht nur negativ an der Vermeidung von Übel, Bösem und Unrecht, sondern positiv auf ein gerechtes, gutes und wahres Leben im Miteinander der Menschen ausgerichtet. Freiheit wird dann als das verstanden, was Kant auf seine Weise im Gedanken einer freien Person zu denken suchte. Denn ein solches Leben hat man zwar nicht, ohne es zu leben, aber man kann es nur leben, wenn einem die Möglichkeit dafür gegeben wird.
Das gilt grundsätzlich: Als moralische Person ist der Mensch Mitglied einer Freiheitsgemeinschaft, die ihren Grund jenseits ihrer selbst hat, durch Menschen also gestaltet, aber nicht ermöglicht werden kann. Höffe sieht durchaus, dass es sich nicht von selbst versteht, dass wir frei sein können. Aber er beschreibt dieses Vermögen als vorfindliche Anlage der Menschen, die wir (mit Kant) disziplinieren, kultivieren, zivilisieren und moralisch veredeln können und müssen, um ein gutes menschliches Leben im Vollsinn zu führen (93-104): Wir sind als animal rationabile geboren und können, müssen aber nicht, zum animal rationale und zu einer moralischen Person werden. „Nach Kant ›macht‹ man sich zu einem moralischen Wesen“ (366), wie Höffe richtig vermerkt. Aber wie es möglich ist, dass man kann, wozu man sich machen soll, wird nicht noch einmal gefragt. Und entsprechend wird die Frage nach der Wirklichkeit, in der diese Möglichkeit gründet, nur naturgeschichtlich, aber nicht radikal gestellt. Kant denkt den Menschen durchgehend als Täter, nicht als Empfänger, und Höffe folgt ihm in dieser Sichtweise. So sehr ihm beizupflichten ist, dass „die Freiheit jedes einzelnen Menschen“ den „freiheitstheoretischen Höhepunkt der Freiheit bildet“ (374), so sehr ist doch zu fragen, ob Freiheit nicht erst dort wirklich zu Ende gedacht wird, wo sie als Wirklichkeit, Aufgabe und Sehnsucht des Men-schen in ihrem Gabecharakter ernst genommen und als Ausdruck der kreativen Passivität verstanden ist, die den Menschen als Menschen auch dort auszeichnet, wo dieser sich nicht als Gottes Geschöpf versteht.
Diese Anfragen machen keine Abstriche an dem, was dieses Buch leistet, sondern notieren ein Desiderat, das offen bleibt. Wer sich über die Bedeutung und Rolle der Freiheit im menschlichen Leben gut und verständlich orientieren will, wird unter deutschsprachigen Publikationen gegenwärtig kein besseres Buch finden. Aber auch das beste Buch zur Freiheit kann nur deutlich machen, dass immer noch viel zu tun bleibt, um alle Facetten und Dimensionen der Freiheit kritisch zu durchdenken.

Ingolf U. Dalferth (Claremont/Tübingen)

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