Buch des Monats: Januar 2023

Kupferberg, Shelly

Isidor. Ein jüdisches Leben.

Diogenes 2022. 256 S. Kart. EUR 24,00. ISBN 978325072068.

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Wer Deutschlandfunk oder das Kulturradio von RBB hört, wird die Stimme der Autorin nicht nur von Musiksendungen her gut kennen. Im vorliegenden Buch lernt man nun die Familie von Shelly Kupferberg kennen, vor allem den namensgebenden Kommerzialrat Dr. Isidor Geller, ihrem Urgroßonkel. Er schafft den Aufstieg aus einem kleinen Schtetl Ostgaliziens bei Lemberg zu einem Wiener Multimillionär, ein typischer Selfmademan im Habsburgerreich. Isidor Geller verdient sein Geld in der Lederindustrie, organisiert aber auch die industriellen Zusammenschlüsse und die Versorgung in den Kriegs- und Notzeiten. Dazu hat er Talent, ein Millionenvermögen zu machen und verkehrt als gleichberechtigtes Mitglied in der Wiener Gesellschaft. Offenbar ist er nicht religiös, aber geht nach wie vor an hohen Festtagen in die Synagoge. Und lebt einige Jahre mit einer Sängerin zusammen, die später in Hollywood Filmkarriere macht.
Geblieben ist von all‘ dem heute wenig mehr als ein großer Silberbesteckkasten samt Inhalt für 24 Personen und verstreute Erinnerungen, die die Autorin beispielsweise in Briefen ihres Großvaters und Akten findet. Materielle Spuren gibt es nämlich kaum: Die Kunstsammlung, die Bibliothek und aller sonstiger Besitz aus der Wohnung in der Beletage des Rothschild-Palais wurden 1938 von den Nationalsozialisten geraubt, nachdem Isidor Geller verhaftet, gefoltert und gezwungen wurde, sein Vermögen dem Staat zu übertragen. Gebrochen starb er an den Folgen von Folter und Haft. Shelly Kupferberg entwirft um das, was sie gründlich recherchiert hat, ein farbiges Bild insbesondere der Wiener Gesellschaft und des Abgrundes, in den die jüdische Einwohnerschaft gestürzt wird. Das von ihr nüchtern, manchmal leicht melancholisch erzählte Buch ist ungemein spannend und macht eine schreckliche Geschichte in den Details fassbar.

Christoph Markschies (Berlin)

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