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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1382–1384

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Mittl, Florian

Titel/Untertitel:

Hoffnung als anthropologische Grundkategorie. Fundamentaltheologische Beiträge aus der Diskussion mit Gabriel Marcel.

Verlag:

Regensburg: Friedrich Pustet Verlag 2013. 272 S. = ratio fidei, 49. Kart. EUR 34,95. ISBN 978-3-7917-2465-2.

Rezensent:

Michael Ulrich Braunschweig

Die mit dem Josef Krainer-Förderungspreis der Universität Graz ausgezeichnete und 2013 in der Reihe ratio fidei des Pustet-Verlags erschienene Dissertation des Theologen und Romanistikers Florian Mittl versteht sich als Beitrag zur Rechtfertigung des Glaubens, die jenseits szientifisch-positivistischer Reduktionismen und postmoderner Beliebigkeitshermeneutiken nach »neue[n] Sprach- und Denkformen [verlangt], um verantwortet Theologie treiben zu können« (6). Die Philosophie Gabriel Marcels erscheint dem Vf. geeignet, »um angesichts der je eigenen Pathologien von Ratio und Religion einen vernünftigen Glauben verkünden zu können« (6). Dabei soll nicht nur Marcels Ansatz für die Fundamentaltheologie fruchtbar gemacht, sondern auch der vom Vf. konstatierten weitgehenden Unbekanntheit des französischen Philosophen im deutschen Sprachraum entgegengewirkt werden.
Ihren Ausgangspunkt nehmen die Überlegungen bei Marcels Philosophie, von der aus »eine zur Glaubensoption führende Heuristik der Erkenntnis entwickelt [wird], welche dem objektiven abstrakten Wahrheitsbegriff der positivistischen Wissenschaften eine pathische Wahrheit glaubhaft gegenüberzustellen im Stande ist. […] Die Frage der Vernünftigkeit des Glaubens […] soll fern von jeder extrinsezistischen [sic!] Apologie neu begründet werden, indem im Menschen Spuren und Schnittstellen letzten Sinns ge­sucht werden.« (9 f.)
Dieses Unterfangen wird in drei Schritten verfolgt, die zugleich die von einem Vorwort (5), einer Einleitung (6–11) und einem Schlusswort (254–256) gerahmten und jeweils mit einer kurzen Zusammenfassung abgeschlossenen Hauptkapitel des Buches bilden. Ein Literaturverzeichnis sowie ein für eine Dissertation überraschend kurzes Personenregister (265) schließen den Band ab.
Das erste und zugleich ausführlichste Kapitel Vom Haben zum Sein: Gabriel Marcels Philosophie der Hoffnung (12–112) bietet, ausgehend von Marcels existenziellem Wahrheitsbegriff als einem nicht auf objektive Tatsachenbeschreibung reduzierbaren, sondern partizipativen In-der-Welt-Sein, eine Rekonstruktion wichtiger Dimensionen von Gabriel Marcels Philosophie anhand der Explikation eines Feldes von Begriffspaaren, die sich zurückführen lassen auf zwei einander gegenüberstehende Denkweisen: einerseits ein objektivierendes, alle Beteiligung des Subjekts ausschließendes (abstraction) und andererseits ein ebenjener Bedeutung des Involviert-Seins des Subjekts (présence) Rechnung tragendes Denken. Marcels Herleitung dieser Unterscheidung aus konkreten Lebenserfahrungen (vom Vf. »Kernerfahrungen« genannt) wie Wahrnehmung, Intersubjektivität, Treue, Liebe, Leiden und Tod sowie ihre begriffliche Fassung in intentionaler (triadisch/dyadisch), ontologisch-relationaler (Haben/Sein), phänomenaler (Problem/mystère), kognitionstheoretischer (réflexion primaire/réflexion seconde) und ethischer (indisponibilité/disponibilité) Hinsicht wird nachvollziehbar rekonstruiert.
Dem Phänomen der Treue kommt im Gesamtbogen der vorliegenden Rekonstruktion eine entscheidende Bedeutung zu. Der Vf. expliziert, wie Marcel anhand des Phänomens der Treue und der damit verbundenen Frage nach der Möglichkeit einer absoluten und damit authentischen Treue angesichts der prinzipiellen Er-gebnisoffenheit zukünftiger Entwicklungen die anthropologische Bezogenheit auf ein transzendentes absolutes Du herleitet. Denn für Marcel ist solche Treue nur möglich aufgrund der Teilhabe am ontologischen Fundament einer Urtreue (62), die als Treue zu einem absoluten Du zu verstehen ist und sich als »umfassendes Ziel des menschlichen Strebens nach Sein« (66) herausstellt. Phänomenal greifbar wird diese »Erfahrung des Transzendenten« im Sinne einer »vertikalen Transzendenz« (dépassement vertical) in den Kernerfahrungen, die damit selbst zu »Orte[n] der Epiphanie des absoluten Du in der sichtbaren Welt« und so zu Erschließungsformen dieser als »Angerufensein von einem Du« wahrgenommenen Transzendenz werden (68).
Die Erfahrungen von Leiden und Tod als ultimative Prüfungen (épreuve) im Kampf um das Sein stellen den Einzelnen vor die exis­tenzielle Wahl zwischen Hoffnungslosigkeit und Hoffnung. Nur eine angesichts des Todes (der anderen und meiner selbst) tragende Hoffnung, die ihren Ausdruck in der vielzitierten Formulierung »ich hoffe auf dich für uns« (Marcel, Homo viator, 76) findet, kann als eine authentische Hoffnung ­gelten, weil sie selbst im Tod der ge­liebten Person die Treue hält. Denn, wie Marcel es in der anderen weithin bekannten Formulierung ausdrückt: »Einen Menschen lieben, heißt sagen: du wirst nicht sterben.« (Marcel, Geheimnis des Seins, 421) Dieser an der konstitutiven Intersubjektivität menschlichen Seins als co-esse orientierten Perspektive auf das Sein entspricht ethisch gewendet die disponibilité als Haltung authentischer innerer Verfügbarkeit gegenüber dem Anderen, die in ihren Bezugsmomenten authentischer Partizipation, Gegenwart und Treue zur Unterscheidung von authentischem und verblendetem Glauben dient: »Die Realität und Legitimität des Glaubens ­können also nur mittels Rekurs auf die Art und Weise, wie dieser Glaube gelebt wird, gezeigt werden.« (106)
Das zweite Kapitel Zeugnis als Ort gelebter Hoffnung (113–205) bringt zunächst Marcels Philosophie ins Gespräch mit Überlegungen des emeritierten Freiburger Fundamentaltheologen Hansjürgen Verweyen (118–168) und lotet in einem zweiten Schritt die im ersten Kapitel gewonnene Konzeption einer begründeten Hoffnung als Erkenntniskategorie aus für die als »klassische Reibebäume« titulierten fundamentaltheologischen Fragen der Theodizee, des Gebets- und des Wunderverständnisses (168–200). Für den Vf. ist Verweyens Theologie insofern anschlussfähig für Marcels Philosophie, als dieser »im Finden und Aufweisen des letztgültigen Sinns […] die absolut unausweichliche Möglichkeitsbedingung für Of­fenbarung« (116) sieht, wobei der philosophisch gebildete Begriff von letztgültigem Sinn als Korrelat eines theologischen Offenbarungsverständnisses behauptet wird. Hier kommt dem Begriff des Zeugnisses die entscheidende Funktion zu: »Der Zeuge bezeugt die Notwendigkeit von Offenbarung für den Menschen und sein Zeugnis ist Offenbarung, da die ihn erfüllende Ergriffenheit seine Lebenswelt bestimmt.« (114) Wahrhafter Zeuge ist für den Vf. im Anschluss an Verweyen allerdings nur Jesus Christus, da dieser sich in vollkommener Hingabe zum Bild Gottes gemacht hat und so bereits in seinem Leben den Tod überwunden und zum Erfahrungsort von Gottes Gegenwart (présence) geworden ist. Die Heiden-Bekenntnisse im Mk-Evangelium sind für den Vf. wiederum mit Verweyen Zeugnis dieses »Osterglauben[s] vor den österlichen Ereignissen« (136 f.): In der »Modalität des Todes Jesu« (141) als Festhalten an Gott trotz scheinbarer Verlassenheit ist für den heid-nischen Hauptmann und durch ihn für den Leser Jesu authentische Beziehung zu Gott erkennbar, die dem fundamentalen, an­hand von Marcels Philosophie im ersten Kapitel aufgewiesenen Alteritätsbezug menschlichen Seins entspricht und Jesus zum historischen Zeugen für die Präsenz des Absoluten im Endlichen macht.
Am Anschluss an Marcel und Verweyen skizziert der Vf. die in seinen Augen wichtigsten fundamentaltheologischen Konsequenzen: Die als Frage nach dem Sinn des Leidens erörterte Theodizeefrage wird mit dem Hinweis auf die durch Leiderfahrungen eröffnete Möglichkeit von Solidarität und intersubjektiver Partizipa-tion beantwortet. Das Phänomen des Gebets erscheint als Aus-druck eines gestifteten Hoffnungshorizonts und der Bezogenheit auf Gott, das keiner instrumentellen Wirkungstheorie eingeschrieben werden darf. Die Kategorie des Wunders schließlich wird nicht auf einzelne Ereignisse verwandt, sondern in der historischen Wirklichkeit der Vergegenwärtigung des Unbedingten in Jesus Chris­tus gesehen.
Das ungleich kürzere letzte Kapitel Theater: Die Ästhetik des ›sanften, leisen Säuselns‹ (206–253) versucht schließlich Überlegungen zu Marcels Verständnis von Theater mit der dramatischen Theologie Hans Urs von Balthasars ins Gespräch zu bringen. Die Lektüre dieses letzten Teils erweckt allerdings eher den Eindruck einer relativ hastigen und entsprechend undurchdachten Hinzufügung, deren inhaltlicher Mehrwert und Verhältnis zu den vorangehenden Teilen unklar bleibt.
Es ist der Arbeit sicherlich gelungen, Gabriel Marcels Philosophie ins Gespräch mit theologischen Fragestellungen zu bringen und ihre Konsequenzen für hermeneutische und fundamentaltheologische Fragen herauszuarbeiten. Doch bleiben erhebliche Zweifel an der kritischen Distanz und der analytischen Schärfe des hier Geleisteten: Die Position der untersuchten Autoren wird jeweils rein affirmativ referiert, eine kritische Auseinandersetzung, die explizite Probleme und Fragen der Konsistenz der vertretenen Positionen erhellen könnte, fehlt weitestgehend. Deutlich erkennbar ist dies u. a. am Umgang mit Direktzitaten, die oftmals kommentarlos in Fußnoten eingefügt werden (dabei ist auch nicht transparent, nach welcher Logik die gelegentliche Hervorhebung bestimmter Stellen vorgenommen wird). In inhaltlicher Hinsicht stellt sich insbesondere die Frage, ob hier wirklich eine Hoffnung, die Gründe nennt, expliziert oder nicht viel eher eine aus einer bestimmten Phänomenologie hergeleitete und in einer bestimmten Metaphysik begründete Hoffnungskonzeption dargestellt wird. Ganz generell wäre mehr explizite Darlegung der Gründe für die Auswahl der Gesprächspartner und die Konzeption der vorliegenden Arbeit wünschenswert gewesen: So kann beispielsweise über die Gründe, warum in der materialen fundamentaltheologischen Anwendung gerade die Theodizee, das Gebet und die Wunder thematisiert werden und nicht etwa Schöpfung, Eucharistie oder andere »Reibebäume«, nur gemutmaßt werden.