19.01.2024

Bericht zur Tagung »Kirche ist Geschichte. Historische Dimensionen in religiöser Bildung« am 13. und 14. Oktober 2023 in Hannover

Veranstalter: Dr. Hendrik Niether, Florian Wiedemann M.Ed., Prof. Dr. Harry Noormann (alle Leibniz Universität Hannover)

Seit 2020 trifft sich am Institut für Theologie der Leibniz Universität Hannover in regelmäßigen Abständen eine Projektgruppe, um aktuelle Fragen der Kirchengeschichtsdidaktik zu diskutieren. Gegründet wurde diese Gruppe von Hendrik Niether und durchgängig dabei waren Harry Noorman und Florian Wiedemann. Darüber hinaus nahmen auch Kai-Ole Eberhardt, Achim Detmers und Olga Lorgeoux an den Treffen teil. Um die Mehrwerte dieses dreijährigen Dialogs dem Forschungsdiskurs sowie einer breiteren Öffentlichkeit theologisch und historisch Interessierter zugängig zu machen, veranstalteten die drei ständigen Mitglieder vom 13. bis 14. Oktober 2023 eine Tagung mit dem Thema »Kirche ist Geschichte. Historische Dimensionen in religiöser Bildung«. Zehn Referent:innen aus der Theologie, aber auch der Geschichtsdidaktik und der Gedenkstättenpädagogik sowie 22 Gäste aus der Hochschulöffentlichkeit nahmen an der Tagung teil.

Die Tagung gliederte sich in drei Panels. Zunächst war es den Veranstaltern wichtig, eine Verzahnung von wissenschaftlicher Theorie und didaktischer Praxis vorzunehmen. Dafür wurden im ersten Panel »Religiöse Bildung und die Pluralisierung histori¬scher Narrative« die Verbindungen der Kirchengeschichte zu den interdisziplinären Forschungsfeldern der Interkulturalität, des Postkolonialismus, der Mehrperspektivität sowie der Multidirektionalität analysiert. Das zweite Panel »Religiöse Dimensionen in der historischen Bildung« schloss hieran an und setzte einen dezidiert nichttheologischen Blick auf das Thema der Tagung. Das dritte Panel »Kirchengeschichtsdidaktik in der Praxis« widmete sich mit vier exemplarischen Beiträgen den Fragen nach einer Vermittlung kirchengeschichtlicher Themen unter der Berücksichtigung postkolonialer und multiperspektivischer Ansätze. Der Schwerpunkt lag dabei auf der der Hochschuldidaktik.

Die Eröffnung der Tagung erfolgte durch den Einführungsvortrag von Prof. Dr. Harry Noormann (Hannover). Er beschrieb den Zuhörern zunächst die Ausgangslage der Projektgruppe zur Kirchengeschichtsdidaktik und die Problem- und Fragestellungen, mit denen sie sich beschäftigt hat. In der Wechselwirkung von Religion und Geschichte steht die Kirchengeschichtsdidaktik heute vor der Herausforderung, insbesondere drei Diskursstränge miteinander zu verbinden: Erstens muss sie der weiter zunehmenden Pluralität historischer Narrative gerecht werden, zweitens muss die Entwicklung multiperspektivischer Ansätze und Me¬tho¬di¬ken der Geschichtsdidaktik und forschung in den didaktischen Diskursen um die Kirchen¬geschichte stärkere Beachtung finden und drittens muss die Kirchengeschichte in Bildungs¬prozessen in einen neuen ethischen, postkolonialen Rahmen gestellt werden.

Prof. Dr. Britta Konz (Mainz) vertiefte diese Gedanken zu Beginn des ersten Panels, indem sie betonte, dass Deutschland als Migrationsgesellschaft vor der Herausforderung stehe, Aushandlungsprozesse über kollektive Erinnerung immer wieder neu zu gestalten. Nur so könne man der zunehmenden Pluralität an Stimmen im Sinne einer inklusiven Erinnerungsarbeit gerecht werden. Auch die Kirche stelle in diesem Prozess einen wichtigen Akteur dar. Konz hob hervor, wie wichtig in diesem Zusammenhang der postkoloniale Ansatz in religiös-historischer Bildung sei, und zwar nicht als additive Komponente, sondern als epistemologischer Paradigmenwechsel, der die Narrative grundsätzlich verändere. Allerdings gebe es noch keine postkoloniale Kirchengeschichtsdidaktik mit ausdifferenzierten Konzepten. Zudem sprach Konz eine weitere zentrale Herausforderung für religiöse Bildung an, nämlich den Aspekt des Adultismus und die generationellen Ordnungen als erste erlebte Diskriminierungsform. Dementgegen müsse es in Bildungsprozessen eigentlich darum gehen, die Kinderperspektive auch in die Kirchengeschichte verstärkt einzubringen und den Bezug zum Lernsubjekt stärker herzustellen. So könne die Reflexion der eigenen Geschichtlichkeit bspw. über Kunst sehr gut erreicht werden.

Daran unmittelbar anschließend sprach Prof. Dr. Claudia Gärtner (Dortmund) über Kunst und Artefakte als Teil sozialer Praktiken im kirchengeschichtlichen Lerngeschehen. Auch sie betonte die Mehrperspektivität des christlichen Kulturerbes und die Notwendigkeit, darüber religiöse Bildungspotenziale zu erschließen. Ding-Praktiken im Hinblick auf Motive, Ikonographie, Schrift und Ornamentik spielen hier eine zentrale Rolle, um Ankerpunkte von religiöser bzw. kultureller Mehrperspektivität zu entdecken und unterschiedliche Deutungen anzustreben, ohne dabei in Beliebigkeit abzugleiten. Vielmehr müsse es auch in der Kirchengeschichte darum gehen, Gemeinsamkeiten zu erkennen und Unterschiede zu benennen, Ungerechtigkeiten aufzudecken und diskriminierende Deutungen kritisch zu reflektieren, um so schließlich Deutungen auszuhandeln.

Den Abschluss des ersten Panels bildete der Vortrag von Dr. Hendrik Niether (Hannover), der sich theoretisch mit dem Ansatz einer multidirektionalen Erinnerungsdidaktik auseinandersetzte, um die Theorie dann auf ein aktuelles Beispiel christlicher Friedensbildung anzuwenden. Angesichts der von Harry Noormann genannten Herausforderungen könne der von Michael Rothberg geprägte Begriff der »Multidirektionalen Erinnerung« ungeachtet seiner Kontroversität auch für die kirchen- und religionshistorische Didaktik wichtige Impulse liefern. So versuche Rothberg mit seinem Konzept, ein sich gleichsam ergänzendes kollektives Gedächtnis und Gedenken im Sinne einer produktiven erinnerungskulturellen Dynamik zu etablieren, die unter der Voraussetzung, Erinnerung nicht als Eigentum von bestimmten Gruppen zu verstehen, auf ein inkludierendes Mehr an Erinnerung hinauslaufe. Digitale Archive und Karten stellen in diesem Kontext wichtige Medien dar, wie Niether am Beispiel des digitalen EKD-Friedenshandbuchs und der damit eng verbundenen EduMaP (Education Makes Peace!) verdeutlichte. Bei Letztgenanntem handelt es sich um eine digitale Weltkarte, in der Lernende überall auf der Welt in Projektarbeit eigene virtuelle (Erinnerungs-)Orte zu Frieden und Konflikten eintragen und gestalten können.

Das zweite Panel zu religiösen Dimensionen in historischer Bildung eröffnete Prof. Dr. Michele Barricelli (München). Er präsentierte zunächst drei Hinsichten auf Religion im Prozess historischen Lernens: Erstens die gegenständliche Ebene, d.h. Religion als Thema des Geschichtsunterrichts. Hier konstatierte Barricelli ein Vorherrschen der Säkularisierungsthese. Zwar gab es um 2000 einige Forschungsprojekte zum Thema Religion im Geschichtsunterricht, jedoch ging es dabei überwiegend um Methodenentwicklung. Eine zweite Hinsicht ist die der religiösen Kulturen, v.a. der Bildkultur und der Ikonographie. Drittens ging es um die Weiterentwicklung von pädagogischen Rahmen, z.B. die Entwicklung von der Inkulturation (Evangelisation/Mission) hin zur interkulturellen Bildung. Darüber hinaus finden sich gerade in den Sinnbildungslogiken historischen Erzählens (traditional, exemplarisch, kritisch, genetisch) Strukturen religiösen Erzählens wieder.

Um im Rahmen der Tagung auch der außerschulischen Bildung Raum zu geben, referierte Andreas Mischok (Hannover) anschließend über Dimensionen von Religion und Religiosität in der Gedenkstättenpädagogik. Er sah dabei durchaus institutionelle Parallelen zwischen Gedenkstätten und Kirchen, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die oben genannten Sinnbildungslogiken. In gewisser Weise spiegelt sich die religiöse Dimension zudem im Postulat von der Singularität der Schoah wider. Schließlich spielen religiöse Prägungen bei Gedenkstättenbesuchen grundsätzlich eine wichtige Rolle, wenn sie auch nicht immer explizit thematisiert werden.

Am folgenden Tag eröffnete Sabine Hübner (Wuppertal) das dritte Panel zur Kirchengeschichtsdidaktik in Theorie und Praxis mit einem Vortrag zum Forschenden Lernen. Sie hob hervor, dass sich Forschendes Lernen und Postkolonialismus insofern wechselseitig produktiv ergänzen, als Forschendes Lernen einen geeigneten Rahmen darstelle, um postkoloniale Perspektiven zu konkretisieren. So gehe es im postkolonialen Lernen darum, Narrative zu dekonstruieren oder zu erweitern, Selbstreflexion einzuüben und die Relevanz von Geschichte deutlich zu machen. Forschendes Lernen bietet vor diesem Hintergrund ein gemeinsamen Lernereignis und kann die Entschleunigung und Vertiefung von Lernprozessen fördern. Hübner machte dies an einem interdisziplinären Projekt zur Bildauswertung von bis dato unausgewerteten historischen Fotos aus dem Kontext der Missionsgeschichte anschaulich, das sie an der Universität Oldenburg durchgeführt hatte.

Im Anschluss daran sprach Florian Wiedemann (Hannover) über verbreitete Narrative des Lebens von Galileo Galilei (1564–1642), die eine angemessenere historische Darstellung bis heute verhindern. In einem Dreischritt wurden diese Narrative deshalb dekonstruiert: Zuerst ging es um die Entdeckungen und Erfindungen Galileis, danach um Galileis Bedeutung in der Diskussion um das geozentrische und das heliozentrische Weltbild und zum Schluss um den Inquisitionsprozess, der Galilei gemacht wurde. Auch wenn Galilei bereits das richtige Gespür für das heliozentrische Weltbild hatte, mangelte es ihm an einer sattelfesten Begründung dafür. Darüber hinaus ignorierte er fast schon dilettantisch den Forschungsstand seiner Zeit – im Gegensatz zu den Jesuiten. Einen wissenschaftlich fundierten Durchbruch für das heliozentrische Weltbild konnte Galilei deshalb nicht erzielen, auch wenn es häufig so dargestellt worden ist. So können weniger Galileis wissenschaftliche Leistungen für seinen Mythos verantwortlich gemacht werden, als das unsägliche kirchliche Gerichtsverfahren, dem er sich ausgesetzt sah.

Dem folgte der Vortrag von Dr. Kai-Ole Eberhardt (Dortmund), der sich, in Anlehnung an die Ausführungen von Claudia Gärtner zu Kunst und Artefakten als Teil sozialer Praktiken im kirchengeschichtlichen Lerngeschehen, mit Dürers Reuther von 1513 als bilddidaktischen Zugang zu Luthers Theologie der Anfechtung auseinandersetzte. Auch Eberhardt betonte die Gefahr der Deutungsbeliebigkeit, die sich mit der Mehrdeutigkeit von Bildwelten verbinde. Daher müsse es in der Deutung von Kunstwerken und Artefakten um einen Mittelweg zwischen Beliebigkeit und historischer Vereindeutigung gehen. Zu diesem Zweck könne man, so Eberhardt, den Blick auf die Rezeptionsgeschichte gezielt als zentralen Teil bilddidaktischer Arbeit einsetzen.

Die Vorträge abschließend setzte sich Dr. Achim Detmers (Hannover) mit einer didaktischen Annäherung an das Marburger Religionsgespräch von 1529 zwischen Martin Luther und Huldrych Zwingli auseinander. Als didaktische Zugänge dienten ihm die Feldtheorie Pierre Bourdieus und das historische Erzählen. Detmers verdeutlichte in einer detaillierten, theatralischen Darstellung des Gesprächsverlaufs und mithilfe der Feldtheorie, dass Luther als Symbolfigur der Reformation im reformatorischen Feld über das höchste kulturelle, soziale und symbolische Kapital verfügte und sein damit verbundenes Prestige wesentlich besser nutzen konnte als die Gegenseite, obgleich er nicht so überzeugend argumentierte. Letztlich waren es jedoch äußere Umstände, nämlich die grippale Infektion »Englischer Schweiß«, die eine Lösung des Disputs im Marburger Religionsgespräch verhinderten.

In der darauffolgenden Abschlussdiskussion wurde erstens deutlich, wie wichtig eine inklusive bzw. multidirektionale Erinnerungsarbeit für kirchengeschichtliches Lernen heute sein kann. Zweitens erscheinen Methoden historischen Erzählens sowie die Dekonstruktion und Neukonstruktion historischer Narrative sehr relevante Mittel, Lernenden kirchengeschichtliche Themen näher zu bringen und ihr Geschichtsbewusstsein zu stärken. Drittens stellt das Konzept des Forschenden Lernens einen geeigneten Rahmen, postkoloniale Perspektiven zu konkretisieren. Und schließlich, viertens, hat die Tagung noch einmal die große Relevanz von Bildinterpretation und Ikonographie für kirchengeschichtliche Bildung aufgezeigt. Die Beiträge beschäftigten sich weitaus weniger mit Textquellen als mit Artefakten.


Veranstaltungsverlauf:

13.10.2023
13:00–13:30 Prof. Dr. Harry Noormann (Hannover): Begrüßung und Einführung
Kirchengeschichtsdidaktik im Geflecht von religiöser Bildung und der Pluralisierung historischer Narrative
13:30–14:15 Prof. Dr. Britta Konz (Mainz): Interkulturelle Theologie und Postkolonialismus als Herausforderung im Religionsunterricht
14:30–15:15 Prof. Dr. Claudia Gärtner (Dortmund): „Das ist auch meine Geschichte!“ Mehrperspektivität des christlichen Kulturerbes entdecken und kritisch reflek-tieren
15:30–16:15 Dr. Hendrik Niether (Hannover): Multidirektionale Erinnerungsdidaktik am Bei-spiel eines Projekts zur christlichen Friedensbildung
Religiöse Dimensionen in historischer Bildung
16:45–17:30 Prof. Dr. Michele Barricelli (München): Tiefe Gründe. Zur Dimension des Reli-giösen in der historischen Bildung für eine scheinbar säkulare Zeit
17:45–18:30 Andreas Mischok (Hannover): Dimensionen von Religion und Religiosität in der Gedenkstättenpädagogik

14.10.2023
Kirchengeschichtsdidaktik in Theorie und Praxis
09:00–09:45 Sabine Hübner (Wuppertal): Forschendes Lernen zur Kirchengeschichte
10:00–10:45 Florian Wiedemann (Hannover): Der historische und der kerygmatische Galilei. Von der Entstehung eines naturwissenschaftlichen Mythos
11:00–11:45 Dr. Kai-Ole Eberhardt (Dortmund): Glaube zwischen Tod und Teufel. Ein bild-didaktischer Zugang zu Luthers Theologie der Anfechtung mit Albrecht Dürers Reuther (1513)
12:00–12:45 Dr. Achim Detmers (Hannover): Das Marburger Religionsgespräch 1529. Praktische Zugänge mit Hilfe der Feldtheorie Pierre Bourdieus
12:45–13:15 Abschlussdiskussion und Feedback

Autoren: Dr. Hendrik Niether und Florian Wiedemann M.Ed., beide Institut für Theologie, Leibniz Universität Hannover
Kontakt: hendrik.niether@theo.uni-hannover.de; florian.wiedemann@theo.uni-hannover.de