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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

308-310

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reynolds, Benjamin

Titel/Untertitel:

John among the Apocalypses. Jewish Apocalyptic Tradition and the »Apocalyptic« Gospel.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2020. 272 S. Geb. £ 65,00. ISBN 9780198784241.

Rezensent:

Martin Karrer

Die These der Arbeit von Benjamin Reynolds setzt eine wesentliche begriffliche Entscheidung voraus: Das Attribut »apocalyptic« (Titel usw.) verweise auf einen durch Offenbarung geprägten Text und Offenbarung (»revelation«) auf Sachverhalte, die vor der Enthüllung unbekannt waren (7 u. ö.). Das Verb φανερόω aus Joh 2,11 (Jesus enthülle seine Herrlichkeit) eröffne zusammen mit dem Prolog eine zentrale Linie von Offenbarung im Evangelium (6; ἀποκάλυψις fehlt im Joh, und ἀποκαλύπτω begegnet nur im Zitat Joh 12,38). Das Joh gehöre demnach als narrative Jesuserzählung zu den Evangelien (1), sei aber durch wesentliche Motive der Offenbarung geprägt. R. verweist dazu auf die Forschung seit Rudolf Bultmann, der die Offenbarung von Jesu Herrlichkeit zum Leitmotiv seiner Joh-Auslegung machte (4 f.; Bultmanns These einer Offenbarungs-Quelle braucht dazu nicht erneuert zu werden), und Bernhard Weiß (5).

Diese Perspektive auf das Johannesevangelium setzt R. in Beziehung zur Apokalyptik, genauer zur weit verbreiteten Definition der Apokalypsen aus Semeia 14 (J. J. Collins, Introduction: Towards the Morphology of a Genre, Semeia 14, 1979, 1–20, hier 9). Apokalypsen sind demzufolge ein Genre der Offenbarungsliteratur mit narrativem Rahmen, in dem Offenbarung einer transzendenten Wirklichkeit durch ein »otherworldly being« mitgeteilt wird und auf eschatologische Rettung zielt (so die wichtigsten Aspekte; voller Wortlaut der Definition zitiert 33).

Die Betrachtung des Joh als Offenbarungsliteratur und die ausgewählte Definition von »Apokalypsen« besitzt laut R. erhebliche Schnittflächen:

– Die Weise der Offenbarung ist laut R. vergleichbar, so gewiss der Jesus des Joh anderweltliche Enthüllungen im Diskurs und Dialog, nicht über Visionen mitteile (Kap. 2; 37–66).

– Der Inhalt der Offenbarung enthalte wie die Apokalypsen protologische und eschatologische Akzente mit Ausrichtung auf eschatologische Rettung (Kap. 3; 67–92).

– Die Funktion der Offenbarung betrifft in Apokalypsen und Joh das glaubende Verstehen und ethische Verhalten (Kap. 4; 93–116).

Von diesen Beobachtungen aus wendet R. sich in Kap. 5 »John’s Gospel as ›Apocalpytic‹ Gospel« zu (117–143). Das Kapitel führt zur These: »The Gospel of John contains many of the elements of the Semeia 14 ›master-paradigm‹ of apocalypse, which implies that it participates in the genre of apocalypse.« (142–143)

Laut R. liegt damit mehr als nur eine Schnittfläche zwischen Evangelium und Apokalypse vor. Er löst statische Genre-Begriffe mit einer Tendenz gegenwärtiger Gattungsdiskussionen auf und schlägt vor: Ein Werk könne einem Genre angehören, aber dieses Genre in einem bestimmten Modus entfalten. Angewandt heißt das: »In generic terms, John is a gospel in kind and ›apocalyptic‹ in mode.« (144–166)

Als Konsequenz sei der Vergleich mit jüdischen Apokalypsen auch inhaltlich fruchtbar (Kap. 6, 144–166). Die Haltung zur Tora exemplifiziere das: Alle Apokalypsen und das Joh schätzten Mose/ die Torah hoch, und doch ermögliche himmlische Offenbarung/Enthüllung auch die Möglichkeit zu Spannungen (die bes. im Joh vorliegen).

Zum Höhepunkt gelangt die Argumentation in Kapitel 7, das Joh und Apk nach einer Erörterung des gegenwärtigen Forschungsstandes (der Berührungen der Texte ebenso wie Differenzen herausstellt; 168–180) auf einem wirkungsgeschichtlichen Umweg in eine enge Relation setzt: Nach einer alten kirchlichen Tradition ist die Apk vor dem Evangelium geschrieben (R. zitiert dafür als ältesten Zeugen das umstrittene Fragment aus Hippolyt, Apologia pro apocalypsi et evangelio nach einer Übersetzung durch Boxall, ohne eigene Quellenarbeit; 183). In der Alten Kirche tauchen Erwägungen auf, der Auftrag von Apk 10,11 (der Seher müsse noch einmal prophetisch tätig werden) ziele auf die Mitteilung des Evangeliums. In diesen Kontext fällt auch die Deutung des Büchleins von Apk 10,9 f. bei Chromatius, die über R. hinaus genannt sei: »Liber [...] ad edendum liber erat evangelii quem postea scripsit«, das zum Essen bestimmte Büchlein aus Apk 10 meine »das Evangelium, das er danach schrieb«; Chrom. serm. 21,1). Vom Muratorischen Fragment an gilt das Evangelium als durch göttliche Mitteilung ausgezeichnet. In Verbindung mit der Prochoruslegende entwickelt sich das zur Auffassung, das Joh sei auf Patmos diktiert worden (187–191); R. bietet ikonographische Besprechungen des Bildtypus mit Johannes, der göttliche Mitteilung empfängt, und Prochoros, der schreibt (191–198). Eine junge Fassung des Bildtypus integriert die Rolle der Apk in die Szene, in der Prochoros das Evangelium niederschreibt, während Johannes sich spirituell der Hand Gottes über ihm zuwendet (Emmanuel Lombardos 1602; Ikone in Venedig).

Das skizzierte Kapitel ist wirkungsgeschichtlich interessant. Doch muss R. konstatieren, dass »later iconographic traditions cannot answer our historical questions« (198), und der Rezensent unterstreicht diese Bedenken energisch. Denn trotz der Bedenken wagt R. am Ende Vermutungen: Die Beziehung zwischen den Texten sei stilistisch möglich und werde wirkungsgeschichtlich sehr unterstützt. Man könne daher etwa erwägen, dass die Autoren der Apk (die zuerst geschrieben wurde) und des Evangeliums beide Schüler ein- und derselben Gestalt (»John«) waren (199).

Das Dilemma der Studie ist nun leicht erkennbar. Sie verwebt zentrale theologische Aspekte und gattungsgeschichtliche Diskussionen. Der Unterschied der Narrativik des Evangeliums (Bezüge zur idealisierten Biografie) zur Narrativik der jüdischen Apokalypsen (Bedeutung von Visionen etc.) und zur Narrativik der Apk (die ihren Autor nennt, während das Evangelium anonym verfasst ist) verliert sein Gewicht. Die deutlich abstrahierende Definition von Apokalypsen, die R. zum Maßstab wählt, und seine Relativierung des herkömmlichen »statischen« Gattungsbegriffs verstärken dieses Gefälle. Eine Nähe von Evangelium und Johannesapokalypse und ein »Modus« »apokalyptischer« Textstruktur des Joh tun sich auf, die im beschriebenen Raster in sich geschlossen dargelegt sind und doch fraglich bleiben. Die Unterschiede der Texte müssen nach Ansicht des Rezensenten stärker beachtet werden.

Die Studie ist durch Autoren-, Stellen- und Sachregister gut erschlossen. Die altkirchlichen Quellen sind oft nur in Übersetzung benützt (187–191). Englische Literatur überwiegt, aber deutschsprachige Literatur wird stets mit einbezogen (der Kommentar Bultmanns zum Joh in der englischen Übersetzung von 1971).