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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

299-301

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Landmesser, Christof, u. Andreas Schüle [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Eigenanspruch – Geltung – Rezeption. »Heilige Texte« in der Bibel.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 264 S. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 72. Geb. EUR 78,00. ISBN 9783374072293.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Spätestens seit Luthers Bibelübersetzung von 1534 ist der titelgebende Begriff »... die gantze Heilige Schrifft« in Theologie und Kirche allgegenwärtig. Ebenso lange wird er auch schon diskutiert. Denn worin genau jene »Heiligkeit« der Schrift besteht, bedarf erst noch einer genaueren Bestimmung. In jüngster Zeit hat dieses alte, ewig junge Thema erneute Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der vorliegende Band, der auf eine Tagung der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig vom November 2021 zurückgeht, setzt in dieser Debatte einen besonderen Akzent. Er konzentriert sich auf die biblischen Schriften und wählt einen hermeneutischen Zugang: Im Mittelpunkt des Interesses steht die Spannung zwischen Konformität und Einzigartigkeit der kanonisch gewordenen Texte; untersucht werden Eigenanspruch und Zuschreibung sowie die Geltung von Texten in Auslegungs- und Interpretationsgemeinschaften. Elf Beiträge nehmen das Thema aus exegetischer, systematischer und praktisch-theologischer Perspektive in den Blick.

Jörg Jeremias, »Die Vollkommenheit der Schrift. Anspruch und Zumutung alttestamentlicher Texte«, geht von der Beobachtung aus, dass innerhalb des hebräischen Kanons »heilig« nirgends als ein Attribut der Texte selbst erscheint. Ihr Status beruht auf dem Anspruch, abgeschlossen und unverkürzt Gültiges auszusagen. Das kommt vor allem in den Kanonformeln (z. B. Dtn 4,2; Prov 30,5 f.; Sach 13,2–6) zum Ausdruck, erstreckt sich zunehmend auf alle Textbereiche des Alten Testaments und findet schließlich in der Vorstellung einer »vollendeten Prophetie« seine wirksamste Verdichtung.

Andreas Schüle, »Die Heilige Schrift, die sich selbst auslegt. Überlegungen zu einer reformatorischen Programmformel zwischen theologischer und historischer Forschung am Alten Testament«, unterzieht Luthers berühmte These einer kritischen Sichtung. Ihre kontroverstheologische Veranlassung wie ihre pneumatologische Begründung haben mit dem Aufkommen des historischen Bewusstseins an Relevanz verloren. Eine moderne Hermeneutik vermag jedoch das Anliegen dieser Formel auch in einem veränderten Setting erneut fruchtbar zu machen: die Schrift »ist mit sich selbst im Gespräch«; sie lässt »gewachsene dialogische Strukturen« bzw. »Textbereiche, die theologisch miteinander interagieren«, erkennen; es gibt statt einer stringenten Theologie einen »theologischen Diskurs des Alten Testaments« (kanonisch geschlossen und kommunikativ offen zugleich); die »Verdichtung von Textbeständen« begründet eine Art »diskursiver Gravität«, mit der die Schrift ihre Wirkung durchaus zu lenken vermag.

Auf diesen Ansatz reagiert Michaela Bauks, »Alttestamentliche Theologie in der Spannung von Geschichte und Hermeneutik. Eigenanspruch, Geltung und Rezeption der Hebräischen Bibel als Heilige Schrift«. Am Beispiel der Debatten um eine Theologie des Alten Testaments oder Religionsgeschichte Israels bzw. um eine »Mitte« der Schrift plädiert sie für die Sinnoffenheit und Polyphonie der Texte, die auch durch den Anspruch ihrer Einheit und Geltung nicht aufgelöst werden, und sieht die Besonderheit »heiliger« Schriften gerade in ihrer Eigenschaft, zu fortgesetzten Aktualisierungen der überlieferten Offenbarung Gottes anzuregen.

Christof Landmesser, »Heilige Texte im Neuen Testament. Ein Fallbeispiel (1Kor 8,6)«, entwickelt die These, dass sich »heilige Schriften« als solche in konkreten Situationen erweisen. Ihre »Heiligkeit« beruht somit auf ihrer »tatsächlichen und das Leben prägenden und verändernden Bedeutung« bzw. auf ihrer Orien-tierungsfunktion. Aufschlussreich ist dafür die Rolle, die Dtn 6,4 in 1Kor 8,6 spielt, um eine Krisensituation der korinthischen Gemeinde zu klären.

Lukas Bormann, »Heilige Texte im Neuen Testament. Von den heiligen Schriften zum Wort Jesu«, erweitert das literarische Feld. Im Hintergrund von Röm 1,2 nimmt er die Auffassung Philos wahr, dass sich die Heiligkeit der Schriften prophetischer Offenbarung verdanke, und verfolgt von hier aus die Spuren prophetischen Geistes über den pln. Gemeindekreis bis hin zu Lukas und Johannes. »Die Heiligkeit der Texte ist demnach nicht von der Heiligkeit der Gemeinde zu trennen.« (109) Es ist das Wirken des göttlichen Geistes, der die Propheten wie auch die »Heiligen« erfüllt und den Schriften, die unter ihnen entstehen, ihre besondere Dignität verleiht.

Udo Schnelle, »Die Teilhabe an Gottes Schöpfer- und Lebenskräften. Das Zentrum neutestamentlicher Theologie«, stellt den Selbstanspruch der Schriften als Wort Gottes an den Anfang. In der Entfaltung dieses Gedankens verfolgt er sodann die Frage nach der Beziehung beider Testamente zueinander sowie nach dem Profil einer Theologie des Neuen Testaments. Den Schluss bildet die Perspektive, in der das Ganze das Format einer Evangelischen Theologie gewinnt.

Christian Strecker, »Buch – Buchstabe – Bildung. Zur ›kleinen Heiligkeit‹ der Bibel im antiken Christentum«, geht die Frage gleichsam von der materialen Seite her an. Von Anfang an setzt die christliche Buchproduktion Akzente – mit der Bevorzugung des Kodex wie mit der Entwicklung der nomina sacra. Daraus entsteht im Kontext der spätantiken Bildungslandschaft eine eigen- tümliche »Mischung aus Profanität und Sakralität, aus Niedri-gem und Hohem«. Die Paideia der »kleinen Leute« spiegelt sich in ihrer Buchkultur wider, was Strecker auf anregende Weise als ihre »kleine Heiligkeit« zu beschreiben vermag.

Der Beitrag von Ingolf U. Dalferth, »Heilige Texte und die Heilige Schrift. Bibel, Schrift und Wort Gottes im Christentum«, erweist sich als eine Art Gravitationszentrum des gesamten Bandes; er führt weiter, was Dalferth bereits 2018 (Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche, Leipzig) grundlegend bedacht hatte. Ausgehend von der Beschreibung maßgeblicher Leitdifferenzen (heilig-profan, göttlich-menschlich) analysiert er die »Fallstricke«, die in der Verwendung von Begriffen wie Bibel, Schrift oder Wort Gottes ausliegen. Ihnen sind auch die Figur von Gesetz und Evangelium oder die Bezeichnung Altes und Neues Testament zuzuordnen. »Heilig« werden Schriften in einem Prozess der Sakralisierung. »Das Christentum lässt sich am Leitfaden der Kategorie des ›heiligen Textes‹ daher nicht erfassen. [...] Ihm geht es nicht um die Heiligkeit seiner Texte, sondern um die Universalität des Evangeliums.« (183 f.)

Jörg Dierken, »Heilige Texte? Zum Verständnis von Bibel, Schrift und Wort Gottes im Christentum – im Gespräch mit I. U. Dalferth«, sieht in diesem Konzept eine »kritische Vermessung des Menschlichen« und fragt, inwiefern eine solche »in das von Differenz bestimmte Verhältnis von Gott zu den Menschen« hineingenommen werde. Konkrete Rückfragen betreffen die Relation von »Text und Gebrauch« (im Horizont des Reizwortes »Tradition«), die Vollzugsweise des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium, sowie den Zusammenhang von »Altem« und «Neuem Testament« im Horizont des Gottesgedankens.

Auch Alexander Deeg, »The (Un-)Making of the ›Holy‹ Bible. Praktisch-theologische Beobachtungen und Fragen in enzyklopädischer Perspektive«, macht sich die terminologischen Klärungen Dalferths zu eigen und setzt bei dem liturgischen Gebrauch an, in dem die Bibel zur Schrift wird. Ihre »kommunikatorische Heiligkeit« lässt sich präzisieren: Texte werden »als heilig erfahren durch individuelle bzw. gemeinschaftliche Praktiken des Umgangs mit ihnen« (228). Bereits Luthers »Schriftprinzip« eignet eine Dynamik, die mit beständiger Lektüre verbunden ist und zu immer neuen Anfängen führt. Zwei Praxisfelder der gottesdienstlichen Inszenierung des Wortes fungieren als Beispiel: die Lesung und die »dramaturgische Homiletik«. Von da aus öffnet sich der Horizont in den Alltagsgebrauch der Bibel hinein: Studien belegen einen höchst unterschiedlichen und selektiven Zugriff auf biblische Texte und legen »faktische Kanones« wie auch »faktische Hermeneutiken« frei; die »Heiligkeit« des Bibelbuches korrespondiert dabei konkreten Lebensgeschichten.

Birgit Weyel, »De/Sakralisierung von Texten. Konturen einer Praxistheorie Heiliger Texte«, nimmt das Gespräch mit Alexander Deeg auf und spielt Erfahrungen aus der Tübinger DFG-Forschungsgruppe »De/Sakralisierung von Texten« ein, auf die bereits Christof Landmesser verwiesen hatte. »Textgebräuche sind sowohl für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als auch für Ambivalenzen offen.« (256) In der Predigt gehören die Inszenierung und die Deutung des Textes zusammen. Praktiken der Sakralisierung und Desakralisierung von Texten bilden ein »dynamisches Wechselspiel«.

Alle Beiträge beruhen auf einer gemeinsamen Grundüberzeugung, die sich durch vielfache Querverbindungen im Gespräch bestärkt: »Wer von ›heiligen Texten‹ spricht, muss von der Gebrauchsgemeinschaft reden, für die diese Texte den Status heiliger, heiligender oder geheiligter Texte haben. Die Kategorie des ›heiligen Textes‹ ist eine kultur- oder religionswissenschaftliche, keine textwissenschaftliche Kategorie.« (180) Weder fundamentalistische Sakraliserung noch liberale Desakralisierung werden dem Potential der biblischen Bücher, Wort Gottes zu Gehör zu bringen und im Gebrauch als »Schrift« erfahrbar zu machen, gerecht. Die »Heiligkeit« von Texten ist vor allem als Phänomen ihrer kommunikativen Aneignung zu verstehen, wofür die Titelstichwörter Eigenanspruch, Geltung und Rezeption die maßgeblichen Koordinaten bleiben.