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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

281-283

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Britt, Brian

Titel/Untertitel:

Religion Around Walter Benjamin.

Verlag:

University Park: The Pennsylvania State University Press 2022. 254 S. m. 13 s/w Abb. Kart. US$ 29,95. ISBN 9780271094502.

Rezensent:

Marian Nebelin

Dass Grad und Art der Auseinandersetzung mit Religion und dem Religiösen im Werk Walter Benjamins (1892–1940) Gegenstand intensiver Debatten sind, ist eigentlich überraschend, da diese Themenbereiche nur selten der vorrangige Gegenstand der Arbeiten des Literatur- und Kulturwissenschaftlers gewesen sind. Dies gilt umso mehr, als viele der Texte, die heute im Rahmen der florierenden Auseinandersetzung mit Benjamins Werk herangezogen werden, unveröffentlicht, zum Teil gar Fragment geblieben sind. In dem dadurch hervorgerufenen »konstruktiven Fragmentarismus« (Detlev Schöttker) liegt allerdings auch die bleibende, produktive Provokation von Benjamins Werk: Gerade der fragmentarische Zustand seines Werkes macht es nicht nur möglich, sondern sogar erforderlich, Benjamins Texte beständig neu zu lesen und unter anderen Gesichtspunkten zu betrachten.

Brian Britt, Professor für »Religion and Culture« an der Virginia Tech, der durch Forschungsbeiträge zu Walter Benjamins religionsbezogenen Schriften und insbesondere zu dessen Rezeption der Bibel ausgewiesen ist, widmet sich in seinem jüngsten Buch der Beziehung zwischen den religionsbezogenen Schriften des jüdischen Autors und den religiösen Vorstellungen und Praktiken in dessen, sich durch viele Reisen und schließlich das Exil verändernder sozialer Umwelt. Dazu greift Britt auf das Konzept der »lived religion« zurück, wie es vor allem von Nancy Ammermann und Meredith B. McGuire profiliert worden ist (7 f.). Dieser religionswissenschaftliche und -geschichtliche Ansatz zielt darauf ab, die lebensweltliche Religionspraxis zu erfassen und dabei insbesondere das Verhältnis zwischen prominent institutionalisierten Formen einerseits und bis ins Subkulturelle hineinragenden alltäglichen Praktiken andererseits zu erkunden (vgl. 188 f.). Dadurch wird das Religiöse in seiner immanenten Pluralität in den Blick genommen.

Konkret verschränken sich in B.s Darstellung das Leben und Werk Benjamins mit dessen komplexem zeitgenössischen religiösen Kontext. Auf diese Weise wird nicht nur ein Teil der Religionsgeschichte zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg in den Blick genommen, sondern manch verborgene oder auch nur mögliche Beziehungen zwischen Benjamins Werk und dessen Umwelt offengelegt. Häufig erfolgt dies über das Inbeziehungsetzen von Benjamins Werk mit dem anderer Autoren (selten: Autorinnen), deren Werk religionsbezogene Aspekte aufweist. Dadurch erweckt B.s Buch teilweise den Eindruck einer netzwerkorientierten Ideengeschichte, die durch die Vielzahl der vorgestellten strukturellen wie personellen Beziehungen von den Lesern durchaus etwas Vorwissen erfordert, um die erwähnten Phänomene adäquat erfassen zu können.

Die Lektüre aber lohnt sich: In dieser Weite ist die religionsgeschichtliche Einbindung Benjamins und seines Werkes bisher noch nicht rekonstruiert und verdichtet vorgestellt worden. B.s Perspektive eröffnet zudem einen gelasseneren Blick auf manch alte Forschungsfrage, die noch die Freunde und Weggefährten Benjamins umgetrieben hat, und die nun als zu forciert erscheint, weil es die einstmals gesuchte Reinheit oder auch nur Eindeutigkeit in den Priorisierungen etwa von Religion und Politik bei Benjamin vermutlich nie gegeben hat. Dadurch wird ein grundlegendes Problem- als Spannungsverhältnis verständlich, das bereits die erste Generation der Rezipienten von Benjamins Schriften umgetrieben hat: Benjamins religionsbezogene Texte sind durch das Zusammenwirken jüdischer, christlicher und säkularer Vorstellungen geprägt – weil diese Konstellation, wie B. demonstriert, Benjamin und seine Lebenswelt prägte.

Benjamin wird von B. in einer auffälligen Doppelstellung analysiert: Zum einen als Intellektueller, der rekonstruktiv in die Vielfalt der religiösen Bezüge seiner Lebenswelt eingebettet wird; zum anderen aber auch als früher Analytiker der »lived religion« in der Moderne. B. folgt dabei seinem Protagonisten durch verschiedene Zeitabschnitte: Vor allem der Erste Weltkrieg und das Ende des Kaiserreiches mit ihren Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft erweisen sich auch als Momente einer tiefen Erschütterung religiöser Gewissheiten. Benjamins religiöse Stellung als säkularer Jude in einer christlich-protestantisch geprägten, sich zunehmend säkularisierenden Umwelt bildet dabei eine wichtige Hintergrundfolie für sein Werk. Dabei arbeitet B. vor allem Bezüge zum theologischen Diskurs heraus: So lassen sich z. B. Überschneidungen zwischen Karl Barths und Benjamins Zeitauffassung ausmachen (144 f.). Wie Barth (143) und der dem Nationalsozialismus nahestehende Staatsrechtler Carl Schmitt (152) beteiligte sich Benjamin mit seinem Buch über das barocke Trauerspiel am zeitgenössischen Souveränitätsdiskurs unter dem Paradigma einer Politischen Theologie (151–155). Benjamins Exil in Frankreich bedeutete schließlich für den Kulturwissenschaftler eine gewaltsame Loslösung aus den deutschen Binnendiskursen, die intellektuell zwar eine Weitung nach sich zog, in ihren Auswirkungen aber dennoch beschränkt blieb, da Benjamin nur eingeschränkt in die religiöse Lebenswelt seines französischen Exils eingebunden war. Infolgedessen blieben die Bezugnahmen auf die zeitgenössische »lived religion« in Frankreich vereinzelt und auf Benjamins »typically touristic mentions of sites« beschränkt (178). Darüber hinaus ist es sicher auch eine Konsequenz seiner Exilserfahrungen, dass Benjamin zunehmend apokalyptische Vorstellungen, Bilder und Begriffe in seine Texte integrierte.

Bemerkenswert ist auch die zweite Perspektive, aus der B. heraus Benjamin immer wieder in den Blick nimmt. Als früher Vordenker von B.s eigener Forschungsrichtung habe Benjamin nämlich, meint Britt, »the scholarly interest in ›lived religion‹« »anticipated« (196). So habe der Kulturwissenschaftler einer zeitgenössischen Tendenz entsprechend (29) zunehmend religiöse Gehalte in anderen Feldern und Phänomenbereichen ausgemacht: Benjamins Analyse des Kapitalismus, den er als eine »religion of action« wahrnahm, sei bspw. auf »cult and ritual« fokussiert gewesen (37). Hergebrachte Formen institutionalisierter Religiosität stießen hingegen weniger auf das Interesse Benjamins als solche, die er als neuartig, abseitig, fremd (vgl. 137 f.) wahrnahm oder einfach nur an anderen Orten beobachtete, wie er es in seinen Reiseberichten (140.190) und dann später – mit historischem Fokus – in seinen um Paris kreisenden Studien (178) reflektierte. Für spätere Studien der »lived religion« halte Benjamins Auseinandersetzung mit Religion und Religiosität deshalb trotz ihres »unsystematic« (189) Zugriffs Inspirationen bereit, denn »Benjamin chose indirect ways to engage with lived religion« (194). Eine zentrale Rolle spielte dabei nach Auffassung B.s im Fall Benjamins »a kind of postsecular thinking that challenges the sharp dichotomy of religion and secularity« (194).

Insgesamt ist B. das Kunststück einer in gut lesbarem Englisch verfassten, jedoch inhaltlich nicht voraussetzungslosen, zugleich die religionsbezogenen Anteile im Werk Walter Benjamins und deren religiöse Umwelt diskutierenden Darstellung gelungen. Da fällt kaum ins Gewicht, dass das (immerhin vorhandene) Register äußerst knapp und nicht immer präzise ausfällt.