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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

181-183

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Haacker, Klaus

Titel/Untertitel:

Zeugnis und Zeitgeschichte. Studien zum lukanischen Werk.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2022. 244 S. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 35. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783170416468.

Rezensent:

Wilfried Eisele

Drei Jahre nach dem Erscheinen seiner Auslegung der Apg im Theologischen Kommentar zum Neuen Testament (2019) präsentiert Klaus Haacker einen »ergänzenden Aufsatzband« (8), in dem er Texte vereinigt, die als Exkurse den Rahmen des Kommentars gesprengt hätten und deshalb ausgelagert worden seien. Von den vierzehn Studien stammen nur fünf aus früheren Veröffentlichungen, während die übrigen neun für diese Publikation neu verfasst wurden. Dem Anlass entsprechend ist das Themenspektrum breit gefächert. Es fällt jedoch nicht auseinander, sondern wird von dem Grundanliegen zusammengehalten, den historischen Quellenwert des lukanischen Doppelwerkes, vor allem der Apg, höher zu veranschlagen, als dies zumal in der deutschsprachigen Forschung gemeinhin geschieht. Die einzelnen Untersuchungen dienen dem Zweck, diese Position durch philologische Beobachtungen, literarische Analysen und historische Erwägungen zu begründen und plausibel zu machen. Sie folgen nicht streng einem roten Faden, sondern gruppieren sich eher assoziativ und verstärken sich gegenseitig.

H. geht von der Frage aus, »was uns denn fehlen würde, wenn es die Apostelgeschichte nicht gäbe« (9). Seine grundlegende Antwort liegt ganz auf der historischen Ebene: »Die Apostelgeschichte ist der einzige erhaltene Originalbericht über die Anfänge des Christentums.« (9) Entsprechend vermittle die Apg in erster Linie exklusive »Kenntnisse zur Geschichte des Urchristentums« (12) und »Hintergrundwissen zum besseren Verständnis der Paulusbriefe« (16). Das Zeugnis für Jesus, auf das die Apostel in Apg 1,8 verpflichtet werden, versteht H. im Sinne einer »verpflichtenden Norm: der Wahrheit der Geschichte« (24).

Aus der anschließenden Diskussion zeitgeschichtlicher und geographischer Probleme (29–91) seien nur zwei Punkte exemplarisch herausgegriffen, an denen H. zu überraschenden Ergebnissen mit weitreichenden Konsequenzen kommt. Im einen Fall setzt er das Zusammentreffen des Paulus mit Jakobus, Kephas (Petrus) und Johannes in Jerusalem (Gal 2,1–10) nicht mit dem Apostelkonvent in Apg 15,1–35, sondern mit der Kollektenreise in Apg 11,27–30 gleich und identifiziert den fraglichen Jakobus nicht mit dem Herrenbruder (Gal 1,19), sondern mit dem Zebedäussohn (Lk 5,10), von dessen Enthauptung durch Agrippa I. Apg 12,1–2 kurz darauf erzählt. Im anderen Fall schließt er aus der kritischen Bemerkung Natanaels über Nazaret (Joh 1,46) und dem schlechten Ruf der von Herodes Antipas gegründeten Hauptstadt Tiberias, dass diese an der Stelle des ansonsten nicht lokalisierbaren Gennesaret (Mk 6,53 par. Mt 14,34) erbaut worden sei und Jesus von dort und nicht aus dem unbedeutenden Höhlendorf Nazaret stammen könnte.

Drei Aufsätze beschäftigen sich mit dem Bildungsstand und dem Verhältnis der frühen Christen zur vorherrschenden griechisch-römischen Kultur und Religion (92–134). Zwar werden Petrus und Johannes als »ungebildete Laien« (Apg 4,13) und die Weisen in der Gemeinde von Korinth als Minderheit bezeichnet (1Kor 1,26). Das darf H. zufolge aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Leitfiguren wie Stephanus, Apollos oder Paulus zweifellos gebildet waren und auch die frühchristlichen Schriften bei ihren Adressaten einen gewissen Bildungsgrad voraussetzen. Nur so konnten sie auch eine Haltung einnehmen, welche die heidnischen Götter als unwirkliche Schattenbilder wahrgenommen, sie aber gleichwohl nicht polemisch abgewertet habe. Freilich verhinderte das nicht, dass die Jesusanhänger trotzdem vielfach als Unruhestifter beargwöhnt worden seien.

Zwei Studien widmen sich der Beziehung des lukanischen Denkens zur zeitgenössischen Apokalyptik (135–170). Im Blick auf Apg 23,6; 24,25 f.; 26,6 f.; 28,20 stellt H. fest: »Nicht nur der engere Kontext und Wortlaut der Beteuerungen des Paulus, sondern auch die Durchsicht des ganzen lukanischen Werkes ergibt, dass das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels ehrlich gemeint ist, d. h. daß [!] Paulus hier sagt, was Lukas selber denkt« (143), nämlich dass sich diese Hoffnung in der Auferstehung der Toten, angefangen mit dem gekreuzigten Jesus, verwirklicht. In ähnlicher Weise hebe das Wirken des Heiligen Geistes in der Gegenwart der christlichen Gemeinden deren Naherwartung nicht auf, sondern qualifiziere ihre Geschichte als Endzeit bis zur baldigen Wiederkunft Christi.

Immer schon haben die Reden der Apg ein besonderes Augenmerk auf sich gezogen. H. nähert sich ihnen von verschiedenen Seiten (171–212), stets jedoch in klarer Opposition zu dem seit Martin Dibelius gängigen Auslegungsparadigma, das die Reden als Kunstprodukte des Lukas ohne nennenswerten historischen Informationsgehalt betrachtet und sich dafür auf die entsprechende Aussage im Methodenkapitel des Thukydides (I,22) beruft. Dieser räume zwar ein, dass er die Reden natürlich nicht wortwörtlich behalten oder überliefert bekommen habe, bestehe aber darauf, »den Gesamtsinn des in Wahrheit Gesagten« (Übers. M. Weißenberger, Berlin/Boston 2017) jeweils zutreffend wiedergegeben zu haben. Die Reden spiegelten daher sowohl die geschichtlichen Umstände, in denen sie gehalten worden seien, als auch das Persönlichkeits- und Meinungsprofil des jeweiligen Redners.

Abschließend bietet H. eine Lektüre von Lk 1,1–4 als Prolog nicht nur zum Evangelium, sondern zum zweibändigen Werk des Lukas, den er mit dem Arzt und Paulusbegleiter der kirchlichen Tradition identifiziert (213–242). Dabei bezieht er V. 1 auf vor- und nachösterliche Ereignisse, während in V. 2 nur die Jesusgeschichte und in V. 3 nur die Geschehnisse in den ersten Gemeinden gemeint seien. Ziel des Lukas sei es, von den Gerüchten über all diese Vorgänge nur die tatsächlichen Vorfälle durch seine Erzählung zu bestätigen (V. 4). Das ganze Werk sei ursprünglich zum Zwecke der Verteidigung des Paulus vor dem römischen Kaiser abgefasst worden. Der Widmungsempfänger, der sich hinter dem Pseudonym »Theophilus« verberge, könne ein einflussreicher Fürsprecher des Paulus gewesen sein, vielleicht Tiberius Julius Alexander, ein Jude mit römischem Bürgerrecht, der nacheinander Präfekt von Judäa und von Ägypten war.

Man mag zu H.s Positionen im Einzelnen stehen, wie man will, durch die gründliche Lektüre der lukanischen Texte und die kritische Distanz zu häufig kaum noch hinterfragten Mehrheitsmeinungen geben seine Studien der wissenschaftlichen Debatte wertvolle Impulse. Eine ähnlich kritische Reflexion auf den eigenen Standpunkt vermisst man indes zuweilen, vor allem dort, wo über den historischen Wahrheitsgehalt von Texten hinaus kaum nach deren Sinn und Bedeutung gefragt wird. Als Testfall dienen seit Langem die Reden der Apg. Zu Recht weist H. darauf hin, dass Thukydides als Gewährsmann für völlig frei erfundene Reden historischer Persönlichkeiten im Rahmen antiker Geschichtsschreibung nicht taugt. Für die Beurteilung der Reden in der Apg ist damit aber noch nicht viel gewonnen. Auch wenn man geneigt sein sollte, in der Pfingstansprache des Petrus (Apg 2,14–36) oder der Synagogenpredigt des Paulus (Apg 13,16–41) oder dessen Areopag-rede (Apg 17,22–31) authentische Verkündigung der beiden histo- rischen Persönlichkeiten zu finden, wird man kaum darüber hinwegsehen können, dass die von Lukas geformten Reden im literarischen Zusammenhang der Apg exemplarischen Charakter haben und nicht in erster Linie das in einer bestimmten historischen Situation gesprochene Wort wiedergeben wollen. Die Wahrheit liegt wohl wieder einmal in der Mitte zwischen den Extremen.