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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1077–1078

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bosenius, Bärbel

Titel/Untertitel:

Reversio animae. Studien zu den frühchristlichen Totenerweckungserzählungen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2023. 349 S. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 238. Kart. EUR 99,00. ISBN 9783170425828.

Rezensent:

Gudrun Guttenberger

Bärbel Bosenius, apl. Professorin an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität, hat nach ihrer in der Markusforschung einflussreichen Habilitationsschrift 2014, in der sie bereits ihre narratologische Fingerfertigkeit eindrücklich dargelegt hat, sich neutestamentlichen Therapieerzählungen und in der zu besprechenden Monographie der Textsorte der Totenerweckungserzählungen zugewandt. Ziel der Untersuchung ist es, die spezifischen Merkmale frühchristlicher Totenerweckungserzählungen im Ver- gleich mit alttestamentlich-frühjüdischen und griechisch-römi-schen Erzählungen dieser Textsorte herauszuarbeiten (15). In einem knappen forschungsgeschichtlichen Überblick führt sie von den rationalisierenden Deutungen des 19. Jh.s über die formgeschichtliche Forschung des 20. Jh.s bis zu den jüngsten monographischen Untersuchungen von Gérard Rochais (1981) und Stephanie Fischbach (1992). Methodisch verschiebt sie den Akzent von einer textfokussierten Untersuchung auf eine Analyse der Text-Leser-Interaktion und greift dafür auf kognitionslinguistische Konzepte zurück, insbesondere die Kategorien der Schemata, scripts oder frames (18 f.), die durch einzelne Lexeme eines Textes aktiviert werden und Verstehen ermöglichen. Diese Konzepte kombiniert sie mit Ecos Modell-Leser; als Bindeglied fungiert die Kategorie der Enzyklopädie dieses Modell-Lesers, der sie eine hohe Affinität zu den frames zuschreibt (19). B. zielt also darauf, zu rekonstruieren, wie diese Modell-(Erst-)Leser die neutestamentlichen Totenerweckungserzählungen gelesen und verstanden haben, indem sie deren frames bzw. Enzyklopädie rekonstruiert, wie sie sich aus der Kenntnis anderer Toten- erweckungserzählungen und kulturspezifischer anthropologischer Vorstellungen vor allem von Tod und Sterben nähren.

Die Arbeit ist dreigliedrig: Im I. Teil werden die mit Elia und Elisa verbundenen Totenerweckungserzählungen in biblischer und antik-jüdischer Überlieferung untersucht (21–118). Im II. Teil geht es vor allem um Erzählungen über Polyidos und Asklepios aus der griechisch-römischen Literatur (119–216); angefügt sind Untersuchungen von Erzählungen, die von Scheintoten handeln. Im III. Teil werden die einschlägigen neutestamentlichen Erzählungen in der Reihenfolge ihrer Entstehung (217–304) untersucht. Vorangestellt ist eine Einleitung (11–20), am Ende stehen Ergebnis und Ausblick (305–313). Neben einem Quellen- und Literaturverzeichnis wird ein Stellenregister beigegeben.

B. beginnt im I. Teil mit den Elia- (23–45) und Elisaerzählungen (45–64) der Königsbücher in ihrer kanonischen Endgestalt. Die masoretische Textform wird als Leitversion verwendet, Septuaginta und Kaige-Rezension werden beachtet. B. deutet diese Erzählungen als Wiederbelebungserzählungen und bestimmt als wesentliches außertextliches Datum für die Rekonstruktion der frames der Leserschaft die antik-jüdische Konzeptionalisierung des Sterbens als eines Prozesses, der mit dem Aussetzen des Atems beginne, die næfæš dann eine Zeitlang in einem Zwischenstadium halte, bis diese schließlich vergehe oder in die šeol absteige. In diesem Zwischenstadium könne die næfæš in den nicht mehr atmenden Menschen zurückkehren (šub 30–37), was in 1Kön 17 und 2Kön 4 JHWH durch die Bitten Elias und Elisas und deren performativ konzipierte ritualsymbolische Handlung der Synanachrosis veranlasse. Diese Vorstellung ist es, die für die Monographie (auf Latein) titelgebend geworden ist (reversio animae).

Josephus behalte bei seiner Neuerzählung der Elia- und Elisa-erzählungen in den Antiquitates (1Kön 17, 2Kön 13) die Vorstellungen seiner Vorlage von der Wiederbelebung als reversio animae bei, öffne seine Darstellung aber für Skeptiker, indem er offenlasse, ob die Verstorbenen tatsächlich bereits tot gewesen seien (73–102). Im Lob der Väter des Buches Sirach (93–105) würden die Erzählungen erstmals mittels der Vorstellung vom Tod als Schlaf gedeutet; B. zeigt, wie die hebräische Fassung für die Wiederbelebungsvorstellung noch anschlussfähig ist, die griechische sich hingegen davon löst. In beiden Fassungen bleibe Gott der eigentliche Akteur. Abgeschlossen wird der erste Teil mit einer Untersuchung der Vita Prophetarum (107–118): In beiden Rezensionen der Jona-Vita werde die Erweckung (ἐγείρνω, ἀνίστημι) überraschend unspektakulär erzählt und als Erziehungsmaßnahme Gottes gedeutet.

B. beginnt im II. Teil mit der Analyse der drei überlieferten Versionen des Glaukos-Mythos (121–140): Der Peripatetiker Palaiphatos erzähle den Mythos rationalisierend als Heilung eines Ohnmächtigen durch den als Arzt gezeigten Polyidos. Apollodor setze den Akzent auf die Darstellung des (Iatro-)Mantikers Polyidos als Tricksterfigur, die für die schwierigsten Herausforderungen, eben auch für die Erweckung eines toten Kindes, Lösungen findet. Hyginus zeige die Auffindung des vermissten Kindes als mantische Leistung, die Totenerweckung jedoch als bloße Nachahmung des Verhaltens der Schlangen, die somit zu den eigentlich verantwortlichen Akteuren würden. Der zweite Schwerpunkt in Teil II liegt auf mit Asklepios verbundenen Texten (145–178). Asklepios werde vor allem als sehr fähiger, zuweilen aber auch geldgieriger Arzt gezeigt; ein Teil der Texte lege den Akzent auf den Konflikt, in den er mit den Göttern gerät (Blitztod und Vergöttlichung). Vergil und Ovid zeichneten ihn auch als eine von Mitleid mit den Trauernden bewegte Gestalt. Vielfältig sei die Art und Weise der Erweckungen dargestellt. In ihrer besonders glänzenden Analyse der Alkestis des Euripides (179–198) zeigt B., dass Alkestis’ »Wiedererweckung« derart dargestellt werde, dass uneindeutig bliebe, ob diese denn überhaupt erfolgt sei. Zusammengefasst: Die »pagane Antike« betrachte Totenerweckungen als »unmögliche Möglichkeit« (216).

Der III. Teil beginnt mit Mk 5,21–43 (219–235) und der mt Parallele (239–246). Die mk Version lasse im Unklaren, ob Jaïri Töchterlein wirklich gestorben sei. Die Darstellung der Jesusfigur aktualisiere sowohl das Wissen um typisch ärztliche Verhaltensweisen griechisch-römischer Kultur als auch die Elia-/Elisatradition, lege den Akzent aber auf die Präsenz der dynamis Gottes in Jesus, durch die er ohne Gebet und ohne ritualsymbolische Handlung das Mädchen retten könne. Mt verstärke die Bezüge zur Elia-/Elisatradition und zeige die nun eindeutig als Totenerweckung klassifizierbare Handlung als Bestandteil des messianischen Programms Jesu (Mt 11,5). Die Totenerweckungserzählungen aus dem lk Doppelwerk (Lk 7,11–17: 247–254; 8,40–56: 255–265; Apg 9,36–43:267–275; 20,7–12, 277–283) verstärkten einerseits intertextuelle Bezüge zur Elia-/Elisatradition (in Lk 7;8; Apg 9), zeichneten Jesus aber auch ins Bild antiker Ärzte ein. Insbesondere in Lk 7,11–17 gewinne das Geschehen epiphanale Züge (253). In Joh 11,1–46 werde die Totenerweckung einerseits in ihrer Wunderhaftigkeit extrem gesteigert, anderer-seits aber vor allem die theologische Überfüssigkeit einer Erweckung als Rückkehr ins irdische Leben aufgezeigt (11,25 f. als Höhepunkt). Die joh Erzählung benötige die Auferweckung als Motivierung für die Kreuzigung Jesu und zeige somit in der Plotstruktur Ähnlichkeiten zur Asklepiostradition (285–304).

Ihren besonderen Glanz erhält die Monographie durch zahlreiche vor allem narratologische Textbeobachtungen, die die Analysen lesenswert und die Lektüre häufig auch kurzweilig machen.