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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

975-978

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schilling, Heinz

Titel/Untertitel:

Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa. Aufbruch in die Welt von heute.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2022. 480 S. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783451385445.

Rezensent:

Andreas Holzem

Erst am Ende der Lektüre (381–384) erklärt Heinz Schilling, dass dieses Buch nicht aus einem Guss ist, sondern als eine Kompilation älterer Aufsätze zusammengefügt wurde. Und Leserinnen und Leser beginnen ihren Lektüre-Eindruck zu verstehen, dass ihnen über hunderte von Seiten eine durchgängige These, aber keine durchgehende Darstellung angeboten wird.

Die These ist die altbekannte des Konfessionalisierungsparadigmas auf dem Stand der 1980er und 90er Jahre. Der Antagonismus der Konfessionen habe den Weg Europas in die Moderne nicht gehemmt, sondern befördert, und zwar durch die »Formierung einer disziplinierten, rational gesteuerten Untertanengesellschaft als Voraussetzung für die moderne Industriegesellschaft« sowie durch die »Festigung der frühneuzeitlichen Stadtbürgergesellschaft als Brückenglied zur bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts« (383 f.). Oder als ähnlich klassisches Selbstzitat: »Vor allem in der ›Konfessionalisierung‹, die alle europäischen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 16. und im frühen 17. Jh. erfasste, flossen religiös-kirchlicher und politisch-gesellschaftlicher Wandel zu einem gewaltigen Prozess der Erneuerung zusammen und verhalfen in Kirche und Religion ebenso wie in Politik, Gesellschaft und Kultur endgültig den neuzeitlichen frühmodernen Formen und Funktionen zum Durchbruch.« (19) Damit ist zweierlei ausgesagt: zum einen, dass das seinerzeit von S. (mit-)entwickelte Paradigma »Konfessionalisierung« für mehr oder minder alle Gesellschaften (West-)Europas funktioniere, und zum anderen, dass man diesen Konnex von frühneuzeitlicher Konfessionalisierung und europäischer Moderne plausibilisieren könne, auch wenn man eine genauere Auseinandersetzung mit der Phase zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges in der Mitte des 17. Jh.s und den Revolu-tionskriegen an der Wende zum 19. Jh. unterlässt.

S. will keine »Theologie- oder Kirchengeschichte im engeren Sinne« schreiben, sondern eine »Geschichte des Christentums in der Welt« (13). Die »religiöse, kulturelle und politische Differenziertheit« des »alteuropäischen« Christentums sei »gegenwärtig und zukunftsrelevant«. Denn, so die Botschaft an den angezielten weiteren Leserkreis: »Nicht Einheitlichkeit, sondern Vielfalt, auch und gerade der religiösen Ausrichtung, ist die einzig tragfähige Grundlage des Zusammenlebens« in der global verflochtenen Gegenwart (17).

Teil A: Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die »dualistische Grundstruktur von Religiösem und Weltlichem« als Kernmerkmal des »lateinisch-christlichen Zivilisationstypus« (25), der spätestens mit der Einfügung des Christentums in die Stabilisierungsbemühungen des römischen Staates gegeben war. Das Erbe der Vormoderne sei eine produktive wechselseitige Dynamik des Weltlichen und des Religiösen; beide strebten nach universaler Geltung und Repräsentation, die aber jeweils mit der gentilen, später (proto-)nationalen Vielgestaltigkeit Europas vermittelt werden musste. Von der Grundidee der Gleichheit der Menschen vor Gott her setzte sich eine gattenzentrierte Ehe- und Familienform gegen die Unterwerfung des/der Einzelnen unter die Sippe durch. Und die rationale Orientierung an Bildung und Wissenschaft beförderte ein »In-die-Welt-Treten der Religion«, das S. als wellenartige Zu- und Abnahme von »Säkularisierung« beschreibt (57), womit er die je mehr oder minder große Eigenständigkeit weltlichen Wissens und weltbezogener Praktiken meint.

Teil B: Renaissance und Reformation des 15. und 16. Jh.s gelten S. als »doppelter Aufbruch in die Neuzeit« (67). Von dieser Voraussetzung her liefert S. eine Kurzfassung der Reformationsgeschichte, die, wie schon seine Lutherbiografie, Theologie, Frömmigkeit und kirchliche Neugestaltung der Protestantismen und die Vielgestaltigkeit ihrer religiösen Szenarien zwar knapp erwähnt, aber immer wieder zurücktreten lässt hinter das, was ihn eigentlich beschäftigt: die »staatlich-gesellschaftliche Situation« der »kirchlich-religiösen Partikularisierung Europas«, nachdem Luther, »auch in einer langfristigen Perspektive […] der Geistes- und Glaubensheros, […] für seine Anhänger mit einem Streich alle Unsicherheiten und Unklarheiten beseitigte« (96, 100, 104). Wenn es denn so einfach gewesen wäre. Für die »Behauptung der Reformation« war »letztlich der frühmoderne Staat entscheidend« (107), in all den verschiedenen Formationen, die sich in Europa ausprägten. Dem entsprechend führt der »Weg in die frühmoderne Fundamentalfeindschaft der Konfessionen« nicht zu einer negativ zu bewertenden Kirchenspaltung, sondern zu einer positiv konnotierten kulturellen und weltanschaulichen Differenzierung, in der die »Welthaftigkeit« der Religion «Säkularisierung« ermöglicht, also einen »welthaften« Glauben, der sich im Alltag statt in der Leistungsfrömmigkeit bewährt (vgl. 122–124).

Das »Weltliche« ist für S. vornehmlich der Staat (und, vor allem mit Blick auf den Calvinismus, die Ökonomie). Der in verschiedensten Abschnitten immer wiederkehrende Etatismus ist ein durchgängiges Merkmal dieses Ansatzes. Er ist in der Rezeptionsgeschichte der ursprünglichen Konfessionalisierungsthese breit und kritisch diskutiert worden. Er führte seit den 2010er Jahren teilweise zu deren Zurückweisung, teilweise zu deren intensiver Reformulierung. Es kann nach der Lektüre dieses Buches kein Zweifel bestehen, dass für S. das eigentliche »in-die-Welt-Treten« des Christentums sich im und durch den Staat vollzieht, sei es der calvinistische Stadtstaat Genfer oder Emdener Prägung, der lutherische Fürstenstaat oder der Staat der modernen Bürgergesellschaft des 19. Jh.s.

Die modernisierungstheoretische Engführung dieses Denkens zeigt sich, wo an der Religion der Reformation und der Frühen Neuzeit ausschließlich diese modernisierenden Effekte beobachtet werden. Religionsphänomenologisch fällt praktisch alles unter den Tisch, was sich zur Teleologie der Grundthese nicht vermitteln lässt, obwohl an anderer Stelle die Fremdheit frühneuzeitlicher Religionswelten als beachtenswert geradezu beteuert wird (vgl. 319). Ohnehin ist das Interesse an konkreten Lebenswelten bäuerlicher oder bürgerlicher Gesellschaften gering: »Die tiefe kulturelle und gesellschaftliche Prägung des neuzeitlichen Alltags durch das Christentum wurde von allen neuzeitlichen Konfessionskirchen vorangetrieben.« (125) Aber wessen Alltag wie und wodurch geprägt wurde, ist von geradezu marginalem Interesse; jedweder »Hoch- und Volkskultur« wird ein »Anteil an der modernisierenden Umgestaltung von Kultur und Mentalität« zugeschrieben (198). Nicht die religiösen Semantiken, Praktiken und Emotionen stehen im Mittelpunkt, sondern deren Effekte für den Aufbruch in die Welt von heute. Das alles wird in europäischer Weite konstruiert, aber die Verhältnisse des Reiches stehen doch im Mittelpunkt. Europäische Ausblicke erscheinen oft zufällig und episodenhaft; es wird nicht systematisch geprüft, ob ein solcher Ansatz für ganz (West-)Europa Geltung beanspruchen kann.

Teil C: S.s lange Bemerkungen zur »Epoche der Konfessionen als ›Vorsattelzeit‹ der Moderne« (129–198) variieren dieses Grundmuster. S. weiß, »dass die tiefgreifende Prägung der Menschen des konfessionellen Zeitalters durch Kirche und Religion keineswegs allein über Kontrolle erfolgte« (162). Aber für den Gang der Darstellung bleibt das eigentümlich folgenlos; der Blick auf »konfessionelle Kulturen« beschreibt vorwiegend hochkulturelle Implementierungsprozesse (188–198). Jenseits der Kirche und Staat beherrschenden Eliten kommt dieses Buch fast vollständig ohne konkrete Menschen und die Logik ihrer Lebensweisen aus.

Teil D: Das Letztgesagte gilt selbst dort, wo konkrete »Erfahrungsfelder christlichen Lebens in der Frühen Neuzeit« – mit Seitenblicken auf die jüdische Diaspora – und die soziokulturellen Folgen der Sittenzucht thematisiert werden. Ganz ungebrochen wird das nach wie vor als »Sozialdisziplinierung« konzeptualisiert. Die hier vorherrschende Vorstellung von historischem Wandel imaginiert vor allem Sozialtechnologien eines sich mit Hilfe der Religion festigenden Staatswesens. Das letzte dieser Erfahrungsfelder, die S. ansteuert, ist die Problematik von Krieg und Frieden. Er führt hier die Begriffe »Christlicher Fundamentalismus« und »Heiliger Krieg« ein. Dabei geht es sowohl um die »Macht der Staaten« als auch um »das Heil der Seelen« (276), zugespitzt auf eine »heilsgeschichtliche Konfrontationsdynamik« (287). Es war, so die Darstellung, gerade die unbedingte Verschränkung der Gewaltpotentiale konfessionel-ler Sakral- und Machtrepräsentationen, die den Dreißigjährigen Krieg nährte. Der schillernde Fundamentalismusbegriff, ebenso der gar nicht zeitgenössische Begriff des »Heiligen Krieges«, nivellieren freilich die Motivationen der Krieg führenden Parteien und ihrer politischen und geistlichen Berater ebenso, wie sie die Kriegserfahrung einfacher Menschen ausblenden. Der Umschwung von »Friedlosigkeit« und »Bellizität« (Johannes Burckhardt) zu Friedenssehnsucht und Friedensschluss musste ja auf vielschichtige nicht fundamentalistische Potentiale zurückgreifen können, um schließlich wirksam zu werden. Die hoch differenzierte Forschung zu dieser Frage wird den Lesern weitgehend vorenthalten.

Nur noch schemenhaft kommen im Epilog die etwa 150 Jahre zur Sprache, die sich zwischen den Westfälischen Frieden und den Anbruch der Moderne durch die Französische Revolution schieben. Hier wird das Buch mit einem Mal merkwürdig einseitig. Der »Anachronismus päpstlicher Staatspolitik im säkularen Mächteeuropa«, dem schon im Teil D des Buches mehr Aufmerksamkeit gilt als dem Westfälischen Frieden selbst, wird im Epilog über »die Christenheit im modernen Europa« zu einer umfassenden antikatholischen Polemik ausgeweitet. »Der katholische Konfessionalismus reagierte [auf Jansenismus, Aufklärung etc.; A. H.] mit einem bedingungslosen Vernichtungswillen, und zwar in der Kirche, wie im Staat«, weiß S. (356). Und in dem Moment, in dem S. sich entschließt, dem Siegeszug des Ultramontanismus im 19. Jh. und seiner Aufgipfelung im Unfehlbarkeitsdogma Pius‘ IX. nicht die verschiedenen Spielarten des zeitgenössischen Protestantismus, sondern eine Typologie des Reformators Martin Luther selbst gegenüberzustellen (364–370), fragt man nach der Methode und dem Aussagesinn eines solchen Vergleichs. Dem Autor geht es dabei um die »Perspektive des Eintritts der christlichen Konfessionen in die moderne Welt« – und da steht nun unversehens »in diachroner Versetzung« Luther gegen Pius IX., der »Reformator des 16. Jahrhunderts« gegen den »Restaurator des 19. Jahrhunderts«. Man fühlt sich unversehens in eine Art akademischen Kulturkampf versetzt: »Auf dem Feld der Organisation und Verfassung war der von Pius IX. etablierte antimoderne Katholizismus auch von den erstarkenden partizipatorischen Bewegungen abgeschottet. Der Protestantismus dagegen, voran die Reformierten, Calvinisten und Freikirchen unter Leitung des frühen Wirtschaftsbürgertums […], konnte sich Zug um Zug die partizipatorischen, demokratischen Elemente moderner Verfassungen aneignen […].« (371) Der Fundamentalismus-Begriff fällt hier häufig, und Fundamentalismus ist nun ausschließlich katholisch. Die Idee von moderner Bürgergesellschaft im 19. Jh., begründet auf »Laienpartizipation« und »Wege der Selbstorganisation und des Hineinwirkens in die Welt von der Gemeindebasis her« sei »dem Katholizismus verschlossen« gewesen, »seit Pius IX. die Papstkirche in die heroische Selbstisolation gezwungen hatte« (372). Über das Ineinander von antimodern-hieratischen und modern-partizipatorischen Elementen des ultramontanen Katholizismus konnte man 1988 bei Thomas Nipperdey Wesentliches lernen: »Religion im Umbruch« hieß das bemerkenswerte Büchlein. Und schon Heiko Obermans großartige Luther-Biografie insistierte, dass Luther kein Mann der Neuzeit war, sondern ein Mann der Endzeit. Dieses Buch erschien 1983.

Was bedeutet das für die Gesamtthese des Buches? »Die Moderne«, so S.s Einschätzung zu Beginn des Bandes, »ist nicht ein von der Reformation verschuldeter Betriebsunfall, sondern wurde auch dem neuzeitlichen Katholizismus bereits vorreformatorisch eingepflanzt« (81). Und an anderer Stelle erneut: »›Modernität‹ kann daher nicht länger als Monopol des Protestantismus gelten.« (125) Hier widerspricht der Epilog offenkundig der These, die durch das ganze Buch hindurch immer wieder variiert und repetiert wird. Denn wäre das so, wären also katholische und protestantische Christen durch ›Konfessionalisierung‹ gleichermaßen Moderne-tauglich geworden, dann bliebe doch die entscheidende Frage noch zu klären: warum sie nämlich auf den tatsächlichen Anbruch der Moderne so unterschiedlich reagierten. Weil diese zentrale Frage gar nicht gestellt wird, wird der liberale Bürgerprotestantismus des 19. Jh.s für das Ganze genommen, während der katholische Ultramontanismus nur noch als anachronistischer Fundamentalismus abgekanzelt werden kann. Hier hat das »missing link« dramatische Folgen: Man kann nicht das konfessionelle Zeitalter komplett auf Modernisierung trimmen, und man kann nicht einfach Pietismus/Quietismus, Aufklärung und Revolution überspringen, wenn man die Unterschiede verstehen will, mit denen Katholizismus und Protestantismus (beide in großer Pluralität und Entwicklungsdynamik) das religiöse Feld des 19. Jh.s beackern.

Hier nährt S. den Verdacht, dass aktuelle Wahrnehmungen einen bias begründen, der zu dem Grundtenor des ursprünglichen Konfessionalisierungsparadigma nicht passen will. Der Rezensent ist sich mit S. einig, dass die Strukturprobleme, die die katholische Kirche derzeit schwer belasten, ein Ergebnis ultramontaner Durchdringungspraktiken des 19. Jh.s sind. Aber gerade dann wäre doch zu analysieren, warum gerade dieser antimodern-moderne Katholizismus für fast ein Jahrhundert enorm erfolgreich werden konnte, und zwar keineswegs völlig gegen die Welt der Moderne, sondern in ihrer Mitte und mit den Mitteln, die sie bereitstellte. Das Buch ist an ökumenischer Verständigung sichtlich interessiert und will »ökumenische Narrative« entwerfen (vgl. z. B. 99.108 f.119 f.126), doch gleichzeitig ist es durchzogen von einem Anti-Papalismus und Anti-Jesuitismus, der Gefahr läuft, alles Katholische dann doch von diesen Idiosynkrasien her zu lesen und heutige Katholiken von dort her vor eine »historische Aufgabe« zu stellen (372).

Das Buch ist leider an einigen Stellen ungenau oder gar falsch: Es gibt im Mittelalter keine »dogmatische Richtgewalt des Papstes« (36). Die Taufe des ersten Frankenkönigs Chlodwig war in keiner Weise »römisch« (ebd.), nur weil sie nicht arianisch war. Jan Hus steht nicht für »die grausame Effizienz römischer Ketzergerichte«, sondern für den Anspruch des Konziliarismus, in Fragen der Rechtgläubigkeit auch ohne den Papst bindend urteilen zu können (66). Der engelgleiche Papst ist ein papa angelicus, nicht angelus (85). Die normative Zentrierung der lutherischen Kreuzestheologie läuft auf solus Christus hinaus (nicht sola, 112).

Fazit: Die Entstehungsgeschichte des Buches – eine Zusammenfügung alter Aufsätze und kursorische Ergänzungen durch einige aktuellere Zufallsfunde – macht auch deutlich, warum die herangezogene Literatur so gewaltige Lücken aufweist. Die jüngere Spätmittelalter-, Reformations- und Konfessionalisierungsforschung ist nicht einmal in den prominenten Monografien rezipiert; die Debatten sind längst weitergegangen.