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Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

743-745

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gruber, Franz u. Markus Knapp [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Wissen und Glauben. Theologische Reaktionen auf das Werk von Jürgen Habermas »Auch eine Geschichte der Philosophie«. Mit einer Replik von Jürgen Habermas.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2021. 256 S. Geb. EUR 32,00. ISBN 9783451388910.

Rezensent:

Michael Moxter

Die beiden Bände »Auch eine Geschichte der Philosophie« haben dem Werk Jürgen Habermas’ erneut höchste religionsphilosophische und theologische Aufmerksamkeit verschafft. Einem (auch in dem hier anzuzeigenden Band gepflegten) Gerücht zufolge ist diese Resonanz vor allem ein Produkt katholischer Rezeption, jedenfalls hat der von Franz Gruber und Markus Knapp herausgegebene und mit einer Habermas-Replik versehene Band eine deutlich konfessionelle Prägung. Die Beiträge werden im Folgenden unter thematischen Schwerpunkten vorgestellt.

a) Da Habermas seine historischen Beobachtungen zum Verhältnis von Glauben und Wissen in die Perspektive einer »Genealogie nachmetaphysischen Denkens« stellt, konzentrieren sich mehrere Beiträge auf diesen bereits vor geraumer Zeit geprägten Denktitel und die mit ihm verbundenen Herausforderungen. Als was wird Metaphysik gedacht, wenn Philosophie heute nur noch »nachmetaphysisch« möglich sein soll? Da eine solche Behauptung einen untilgbaren Kantbezug hat (seine Kritiken bilden die eigentliche Zeitenwende zu einem nachmetaphysischen Zeitalter), lädt sie einerseits dazu ein, alternative Kantinterpretationen auf den Weg zu bringen (Matthias Lutz-Bachmann) oder andererseits ein nicht-theistisches Gottesverständnis zu entwickeln, das sich von der vorkantischen Schulmetaphysik lossagt (Saskia Wendel, Magnus Striet, Martin Breul). Heißt »nachmetaphysisch« ein Denken, das sich von den Errungenschaften der sog. achsenzeitlichen Religionen verabschieden muss, die ein Bild von der Welt im Ganzen erzeugten, indem sie der Vielfalt des Kosmos die Einheit des transzendenten Gottes gegenüberstellten, so kann die heute als ratifiziert geltende Unmöglichkeit eines einheitlichen, alles Wissen integrierenden Weltbildes sowie der Verlust einer Welt zur Immanenz relativierenden Transzendenz (etwa der eines Schöpfers) (9.11.23) keine Garantien eines letzten Zusammenhalts mehr bieten. Zeichnet es ein nachmetaphysisches Denken darüber hinaus aus, auf extramundane Größen überhaupt zu verzichten, also auch auf ein weltkonstituierendes Ich, so ist es auf De-Transzendentalisierung ausgerichtet (132), weshalb die insbesondere von der neueren katholischen Theologie errichteten transzendentaltheologischen Brücken zwischen geltungstheoretischer Wissensbegründung und subjekttheoretischer Ursprungsreflexion die Vermittlungslast zwischen Philosophie und Theologie nicht mehr zu tragen in der Lage ist. Nach der Abkopplung von Naturphilosophie, von Monismus und existenzsetzender Hinterwelt bleibt dann nur ein in Praktiken und in religiöser Performance verkörpertes Subjekt, über dessen angemessenes Selbstverständnis im Streit der Fakultäten gerungen werden kann und muss (Hans-Joachim Höhn). Nennt man »metaphysisch« schließlich das anthropologische Be- dürfnis, einen Sinn für letzte Fragen, für Unbedingtes (Wendel, Breul) zu entwickeln, dann lässt sich die alte Fußballweisheit »nach dem Spiel ist vor dem Spiel« auch auf die Habermaswelt anwenden: Selbst diesseits von Ontologie und Theismus erweist sich der Sinn für Transzendenz (etwa die Suche nach über das Recht hinausführender Gerechtigkeit) als unabweisbar. Eine Transzendenz (nur) nach innen (Habermas) wird nur deshalb zum Schibboleth nachmetaphysischen Denkens, weil verkannt bleibt, dass Gott mitten im Diesseits jenseits ist (Markus Knapp und Franz Gruber mit Bonhoeffer).

b) Neben der nachkantischen Konstellation zählt die These einer durch Luther der Moderne mitgegebenen fideistischen Abspaltung des Glaubens vom Wissen zu einem zentralen Debattengegenstand. Aus katholischer Sicht folgt die entsprechende Diagnose Habermas’ aus zu großer Nähe zu protestantischen Einseitigkeiten wie der Dichotomie von blindem Vertrauen und Erkenntnis, von personalem Treue- und sachbezogenem Wahrheitsverhältnis, auch von individueller Dezision und gemeinsa­mer Gewissheit. So argumentiert Markus Knapp, Vertrauen könne »als ein rationales Phänomen gelten«, das zwar anders zustande kommt als empirisches Faktenwissen, aber mit tatsächlich gemachten Erfahrungen vermittelt ist. Auch sei Glaube keine Weltanschauung, sondern ein das Weltverhältnis und alles Wissen in eine eigentümliche (eschatologische) Perspektive rückende Antwort auf eine Zusage Gottes (15–39; insb. 28 ff.). Franz Gruber beharrt auf der traditionellen Unterscheidung von Weltwissen und Heilswissen und deutet Letzteres als Orientierungswissen, als ein Wirklichkeitsverhältnis eigener Art, auf das zurückzugreifen nötig bleibe, wo immer modernes Weltwissen entgleise (63–85). Diesem von der Inklusion des Wissens in den Glauben ausgehenden Anspruch korrespondiert die apologetische Aufgabe, »dem philosophischen Gesprächspartner zu verstehen zu geben, dass zu einem authentischen Selbstverständnis […] Bezogenheit auf Transzendenz gehört« (84). Habermas’ Reaktion (224–252) auf diesen Debattenstrang ist wie immer konziliant im Ton, aber unbeugsam in der Sache: zwar gebe er eine fideistische Überzeichnung des Glaubensbegriffs zu, könne aber neben der Zirkularität der Argumentation nur eine Verwechslung des universalen Anspruchs auf soziale Inklusion aller Menschen mit dem Anspruch uneingeschränkter diskursiver Allgemeinheitsfähigkeit bescheinigen. Für religiöse Begründungen seien Agnostiker eben nicht nur unmusikalisch, sondern »taub« (230).

c) Was Habermas die »Verkapselung« religiöser und vor allem dogmatischer Aussagen nennt, zu denen der nachmetaphysische Denker, bei allem Respekt für die Religion, keinen Zugang finden kann, wird von Magnus Striet in einer Analyse der Habermas- schen Kierkegaardinterpretation (206–223) feinsinnig in die Binnenrationalität dogmatischer Verfahren rücküberwiesen. Als Beitrag zu einer dritten Debattenebene, die sich um den Autonomiebegriff dreht, fordert Striet eine uneingeschränkte Zuspitzung menschlicher Freiheit, die nicht erreicht werde, wenn Gott am Leitfaden der Kausalität als Urheber freier Geschöpfe gedacht werde. Frei sei der Mensch nur, insofern er seine Freiheit allein sich selbst verdankt. Gott könne nur warten, ob sich in seiner Schöpfung Freiheit regt, und auch nicht als einer gedacht werden, der über das Heil oder Unheil seiner Geschöpfe in eigener souveräner Freiheit entscheide. Insofern der augustinische Gnaden- und Erbsündenbegriff diesbezüglich anderes lehre, enthalte das Gottesverständnis in der Tat einen »opaken Kern« (223). Ihm könne auch der Theologe nur die kalte Schulter zeigen, weil schwere Traumatisierung unzähliger Menschen der »Erfindung der Erbsündenlehre« zu bescheinigen sei. »Überhaupt wäre vermutlich die westliche Kulturgeschichte anders verlaufen, hätten sich in der antiken Welt Pelagius und Origenes und nicht Augustinus durchsetzen können« (217).

Habermas zeigt sich von diesem »Stoßseufzer« (233) irritiert, weil er sich in seiner luziden Kantinterpretation gerade um vernünftige Spielräume zur Integration des augustinisch-lutherisch-kierkegaardschen Rechtfertigungsglaubens in ein kantisches Freiheitsverständnis bemüht hatte und sich nun über die vorbehaltlose Preisgabe des Problembestandes seitens eines katholischen Theologen wundert. Freilich ist, was immer theologisch dazu zu sagen wäre, anzuerkennen, dass Striet mit seiner Argumentation das Entweder-Oder von Glauben oder Unglauben ganz frei hält von Defizitdiagnosen und Unzulänglichkeitsvorwürfen, die bei anderen Autoren laut werden und wechselseitige Anerkennung nicht zustande bringen.

d) Der weit ausgreifende Beitrag von Matthias Lutz-Bachmann (145–205) teilt, wenn auch in unaufgeregter argumentativer Rekonstruktion, die Distanz gegenüber der kantischen Rezeption protestantischer Sündenlehre und entwickelt eine Deutung der von Kant geleisteten Einführung des Hoffnungsbegriffs in die Philosophie, mit der die Rationalität der Religion gegen Habermas auf neue Weise bekräftigt wird. Kants Geschichtsphilosophie (und nicht die Postulatenlehre) wird zum Bezugspunkt der Hoffnung und zwar im Sinne einer Erweiterung der Moral um materiale Zwecke, unter denen die Idee eines ethischen (nicht: rechtlichen) Gemeinwesens hervorsticht. Es handele sich um eine Pflicht der Menschheit gegenüber sich selbst, die auf einer begründeten Hoffnung beruhe und darin dem Habermasschen Zentralmotiv Rechnung trage, dass die Stimme der Vernunft der Ermutigung bedürfe. Nicht ein mitgesetztes Ideal moralischen Handelns, sondern der systematische Gegenhalt einer Verpflichtung zur Solidarität, lässt die rational gerechtfertigte Hoffnung kräftig werden. Ein striktes Argument für Religion, für ein Reich Gottes oder eine Kirche im kantischen Sinne dürfte das freilich nicht sein. Der Autor denkt in erster Linie an NGOs, erst im Nachsatz an die notwendigerweise sichtbare und also katholische Gemeinschaft der Heiligen.

Während andere Beiträge Probleme diskutieren, die seit geraumer Zeit in Habermas’ Werk virulent sind (oder die mit ihm theologisch fruchtbar bearbeitet werden könnten: so Martin Breul zum Handeln Gottes: 40–62), sind diejenigen von Matthias Lutz-Bachmann (Ermutigung), Magnus Striet (Kierkegaard) und Martin Dürnberger (Lernprozesse) direkt auf die beiden 2019 erschienenen Bände bezogen. Das gilt auch für den Beitrag von Hans-Joachim Höhn (105–123), der zu Recht von Habermas gelobt wird, weil er die zentrale Rolle des Ritus für Sozialtheorie, Anthropologie und Religionstheorie in dessen jüngsten Arbeiten erkennt. Die genuin katholischen Motive des Bandes sind offensichtlich, rechtfertigen aber nicht unbedingt die Einschätzung eines konfessionellen Ungleichgewichts der Habermasrezeption. Die von den Herausgebern angeführte Liste nennt viele Stimmen nicht (Klaus Kodalle zum Beispiel), rechnet andere fälschlich zum katholischen Lager (Hermann Düringer) und nimmt vor allem nicht hinreichend wahr, wie stark Habermas’ Eindruck von der Unzumutbarkeit des Glutkerns der Religion und ihrer Dogmatik von seinen Begegnungen mit einer auf der Linie Augustinus-Luther-Kierkegaard-Barth operierenden Wort-Gottes-Theologie bestimmt ist.