Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2023

Spalte:

739-740

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Williams, Nicholas John u. Christoph Picker [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die Kirche und die Täter nach 1945. Schuld – Seelsorge – Rechtfertigung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 192 S. m. 2 Abb. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 136. Geb. EUR 85,00. ISBN 9783525554609.

Rezensent:

Nora Andrea Schulze

Nicht jeder Tagungsband hat ein Thema, das über den rein fachwissenschaftlichen Diskurs hinaus Relevanz beanspruchen kann. Der vorliegende Band, der die Beiträge der von der Evangelischen Akademie der Pfalz und der Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz veranstalteten Tagung »Die Kirche und die Täter« vom Oktober 2019 in Speyer dokumentiert, behandelt zweifelsohne ein solches Thema, geht es hier am Beispiel der pfälzischen Landeskirche und ihres Präsidenten Hans Stempel (1894–1970) doch um das hoch problematische Engagement der evangelischen Kirche für NS-Täter nach 1945. Der Band weist schon deswegen über rein (kirchen-)historische Horizonte hinaus, weil sein Thema in vielerlei Hinsicht von seltener Brisanz ist – z. B. mit Blick auf die Erinnerungskultur –, nicht zuletzt aber deswegen, weil der von den Herausgebern erhobene Anspruch, »nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die gesellschaftliche Debatte zur ›zweiten Geschichte‹ des Nationalsozialismus begleiten und unterstützen« (11) zu wollen, tatsächlich erfüllt wird.

Wer angesichts der Fokussierung auf Stempel und die Pfalz eine kleinteilige lokalgeschichtliche Darstellung eines einzelnen Akteurs und seiner Landeskirche befürchtet, wird positiv überrascht, denn der kirchliche Einsatz für NS-Täter wird aus einer Vielfalt von Perspektiven und Fragestellungen betrachtet und umfassend kontextualisiert. Den Auftakt macht Katharina von Kellenbach mit ihrem Beitrag über »Schuld und Schuldgefühle«, in dem sie NS-Täter und Opfer unter psychologisch-psychotherapeutischen sowie theologischen Gesichtspunkten analysiert. Erich Schunk untersucht das Verhalten der pfälzischen Pfarrbruderschaft und ihrer Hauptprotagonisten während der NS-Herrschaft und nach 1945, die sich trotz ihrer Loyalität zum NS-Staat nach dem Krieg zum »Objekt der Unterdrückung« stilisierten (55). Gabriele Stüber und Christine Lauer problematisieren Stempels jahrzehntelangen Einsatz für NS-Täter, seine Motive und Netzwerke und stellen sein Verhalten in den Kontext des Handelns der EKD und der bundesrepublikanischen Politik. Nicholas John Williams ordnet den Einsatz des pfälzischen Pfarrers und Mitarbeiter Stempels Theodor Friedrich für deutsche NS-Täter in Frankreich in die Mentalitäten in den ehemals besetzten Ländern am Beispiel Frankreichs ein und resümiert zu Recht, dass das kirchliche Engagement zu einer Verklärung »der Mörder von einst […] zu Opfern« führte (104). Durchgängig wird von den Beiträgerinnen und Beiträgern auf das mangelnde Bewusstsein der kirchlichen Protagonisten für die NS-Opfer hingewiesen.

Ebenfalls mit Schwerpunkt auf Frankreich stellt Claudia Moisel die Strafverfolgung von NS-Tätern durch die Siegermächte dar und geht dabei über eine reine Justizgeschichte hinaus, indem sie den Wandel der Strafverfolgungspolitik im Kontext neuer politischer Großwetterlagen analysiert. Stephan Linck erweitert in seinem Beitrag über »Kirche im antikommunistischen Kampf« am Beispiel der schleswig-holsteinischen Landeskirche, des holsteinischen Bischofs Wilhelm Halfmann und seiner Einstellungspolitik die Perspektive nochmals. Manfred Gailus fügt in seinem Beitrag über den antisemitischen Theologen Gerhard Kittel und die kirchliche Fürsprache für ihn einen weiteren bedeutenden Aspekt hinzu, nämlich den christlichen Antijudaismus, der kirchliche Akteure beider christlicher Konfessionen während der NS-Herrschaft schuldig werden ließ, nach 1945 aber nicht reflektiert und geahndet wurde. Abschließend untersucht Martin Leiner die Seelsorge an NS-Tä- tern aus theologisch-ethischer Perspektive und kommt zu dem zutreffenden Schluss, dass Seelsorge an NS-Tätern »aus Sicht christlicher Ethik« im Prinzip zwar »als richtig und gut zu bewerten« sei (172), in der von Stempel und anderen praktizierten »Form und Intensität« aber als »ein Fehler« und »in vielen Fällen moralisch gar [als] verwerflich« beurteilt werden müsse (178).

Angesichts der in Speyer präsentierten Forschungen hat Clemens Vollnhals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung jüngst die Einsetzung einer unabhängigen Historikerkommission gefordert. In der Tat bedarf die teilweise skandalöse kirchliche Hilfe für NS-Täter einer umfassenden Aufarbeitung, denn für andere Landeskirchen geschweige denn für die gesamte EKD liegen vergleichbare Untersuchungen bisher nicht vor. Hier sind freilich nicht nur Historikerkommissionen in der Pflicht, sondern auch die Kirchen selbst, die in Zeiten knapper werdender finanzieller Ressourcen leider zunehmend geschichtsvergessener zu werden scheinen. Bis es zu weiteren Forschungen kommt, sei die Lektüre des vorliegenden Bandes uneingeschränkt empfohlen.