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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

624-626

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wagner, Andreas u. Jürgen van Oorschot [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Der bestmögliche Mensch. Alttestamentliche und systematisch-theologische Anmerkungen zu Sünde und Umkehr.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 188 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 67. Kart. EUR 78,00. ISBN 9783374071210.

Rezensent:

Jörn Kiefer

Der Sammelband vereint Beiträge einer Tagung. Dem ist die fehlende Systematik geschuldet. Die Beiträge werden kaum miteinander ins Gespräch gebracht, was umso misslicher ist, als oft dieselben Texte und gleiche Begriffe interpretiert werden. Trotzdem geben die Aufsätze Denkanstöße zu einem wichtigen Thema.

M. Iff definiert den Menschen theologisch als »Ebenbild Gottes im Widerspruch«. Für dieses ambivalente Menschenbild sei der Begriff Sünde heute noch plausibel, wenn man ihn transmoralisch und transrational versteht. Das Konzept eines peccatum originale bewahre die Tiefendimension eines Lebens in der Dialektik von Verantwortung und Verhängnis. Exemplarisch verweist Iff auf Gen 4: Der Mensch handele wie Kain »geradezu zwanghaft, aber doch ungezwungen« (17), und verwirke so seine Freiheit, zu der er dennoch immer wieder aufgerufen sei.

M. Bauks präsentiert Gen 4 als Paradebeispiel für den imperfektiblen Menschen. Nicht die Sünde, sondern Gottes Nachsicht mit dem fehlbaren Menschen sei das Thema. Aber den kaltblütig ausgeführten Brudermord – nach Gottes Intervention in vollem moralischen Bewusstsein! – als bloße Unvollkommenheit zu deuten, bleibt doch spürbar hinter der Dramatik der Erzählung zurück. Es geht hier sehr wohl um moralische Werturteile (gegen Bauks, 34). Gott teilt seinen Willen mit und traut Kain ein moralisches Urteil zu. Die Sündenvokabeln markieren die erste ethische Verfehlung der Menschheit deutlich als himmelschreiende Sünde. In der Auslegung des zentralen V. 7 führt Bauks drei Optionen auf, von denen leider nur die zweite korrekt dargestellt ist.

C. Frevel untersucht Num 6,1–21, die Bestimmungen zum Nasiräat, einer temporären Personenweihe, die Laien erlaubt, »die Gebrochenheit des Alltags zu unterbrechen« (57) und in eine besondere Gottesnähe zu gelangen. Das verbindende Element der Bestimmungen liegt in einer symbolischen Perfektion, die durch Absonderung von profanen Gewohnheiten erreicht wird. Diese Heiligkeit, die Nasiräer im profanen Raum leben, wird in Analogie zur priesterlichen Heiligkeit konzipiert, ja überbietet diese teilweise noch. Hier zeigt sich eine Mittelposition zwischen dem Ideal einer exklusiven Heiligkeit der Priester und der Demokratisierung der Heiligkeit etwa in Lev 17–26.

A. Behrens fragt: Gibt es so etwas wie Erbsünde im Alten Testament? Befragt werden zunächst Ps 51 und Gen 3. Ps 51 gehe von einer Ursünde aus, die jeden Menschen qua Geburt betreffe (V. 7), aber nicht moralisch, sondern nur coram deo definiert werde (V. 6), dem Menschen offenbart werden müsse (V. 8) und nur durch Gottes Neuschöpfung aufgehoben werden könne (V. 12). Gen 3 liest Behrens als »Geschichte der nachhaltigen – und bis heute erfahrbaren! – Fraktur zwischen Gott und Mensch […], die in einem menschlichen Verhalten wurzelt, das als schuldhaft und strafwürdig verstanden wird« (70, Anm. 34). Weitere Bibelverse, die eine Sündenverfallenheit voraussetzen, werden aufgereiht. Fraglich ist, warum in Dtn 30,11 via negationis der Einwand zu hören sein soll: »Das Gebot ist unmöglich zu erfüllen!« (75) Behrens’ Fazit: Im Alten Testament sei der Mensch nicht uneingeschränkt zum Guten fähig. Diese Grundbestimmung als simul iustus et peccator lasse sich im dogmatischen Konzept der Erbsünde zur Sprache bringen, sofern Sünde nicht auf moralische Kategorien verengt wird. Mit seinem Gefälle zur Gnade hin biete es keine »pessimistische«, sondern »eine realistische Anthropologie« (78), die vor Verzweiflung und Hybris bewahrt.

W. Schoberth gelingt es, die Logik der umstrittenen Erbsündenlehre plausibel zu machen, indem er sie dezidiert als »unmoralisch« definiert, als »Metadogma«, das sich nicht auf feststellbare Phänomene bezieht, sondern ein theologisches Urteil über die Situation des Menschen abbildet. Erbsünde könne also nicht wahrgenommen, sondern nur rückblickend von der Erlösung her geglaubt werden. Die Erbsündenlehre mache »keine anthropologische, sondern eine soteriologische Aussage« (89): alle Menschen brauchen Erlösung (Röm 3,10–12). »Sie ist amoralisch, weil sie in den Begriffen der Moral nicht zu fassen ist, und sie ist unmoralisch, weil sie nicht nach der individuellen Schuld fragt« (89), denn es gehe ihr nicht um die Beurteilung der sündigen Vergangenheit, sondern um die Zukunft, die durch die Erlösung eröffnet wird.

M. Grohmann fragt nach Sünde und Imperfektibilität in zwei Psalmen. In Ps 38 erscheine Sünde als ein stark körperlich verankerter Aspekt menschlicher Verfehlung, der in einem gewissen Zusammenhang mit Krankheit und sozialer Ausgrenzung stehe. Aus Ps 51 leitet Grohmann spannungsreiche Antworten ab: Laut V. 7 sei der Mensch »vom ersten Augenblick seiner Existenz an Sünder – also im Stadium der Imperfektibilität« (109). Dennoch gehe es um Tatsünden, denn das hebräische Sündenvokabular (V.5f) »bezieht sich auf konkretes Tun« (108). Die Spannung zwischen V. 6 (»vor dir allein«) und V.16 zeige die Verwobenheit von Schuld gegen Mitmenschen und gegen Gott an. Wichtig ist die Interpretation von V. 8 als »Gegengewicht« zu V. 7. Auch wenn fraglich bleibt, ob V. 8 die Geburtsmetaphorik fortsetzt (vgl. Ps 139,5; aber dass die alten Übersetzungen »allgemeine Begriffe für Eingeweide einsetzen« [110], ist falsch), der Parallelismus von V. 7 f. behält Bedeutung: »Die Fähigkeit des Menschen zu Wahrheit und Weisheit ist genauso Teil der conditio humana wie die Sünde« (110).

Für M. Moxter behält trotz der modernen »Sympathie fürs Unvollendete« »der Anthropologie vertiefende Sinn der Sündenlehre« (121) seinen Wert. Die »Würdigung des Fragments« (124) bewahre vor Totalitarismus und habe etwas Entlastendes. Dennoch kenne auch die (Post-)Moderne eine Sehnsucht nach Vollendung. Als Erfüllungsfigur sei sie unverzichtbar, auch wenn sie unerreichbar bleibe. Für die Dogmatik ergebe sich die »Aufgabe, zwischen Manichäismus und Pelagianismus hindurch zu kommen« (131), also weder vom unverbesserlichen Menschen noch von seiner Selbstoptimierung auszugehen.

K. Pyschny setzt das biblische Konzept der Neuschöpfung in Beziehung zum modernen Streben nach Perfektionierung des Menschen. Im Ergebnis des Durchgangs durch Ez 18; 36; Jer 17,1; 31,33f; Ps 51 bleibt die Synthese der Aussagen zu Sünde und Erlösung etwas vage. So sieht Pyschny keine »allgemeinanthropologische Fundierung der ›Sünde‹«, behauptet aber doch, der Mensch sei nach Ausweis der Texte »totus peccator« (150). Auch die Spannung zwischen dem Eingriff Gottes – in das Personzentrum des Menschen! – und der behaupteten »Mitwirkung des Menschen« (151), wird nicht weiter reflektiert, wenn auch die Bemerkung, Neuschöpfung erfolge »nicht in krasser Diskontinuität zum alten, sondern geht gewissermaßen aus dem alten hervor und greift dessen verbliebene ›Rest-Fähigkeit‹ zur eigenen Willensentscheidung auf« (151), eine Antwort andeutet. Fest steht laut Pyschny: Neuschöpfung ist keine Verbesserung der Leistungsfähigkeit, sondern ausschließlich ethische Qualifizierung. Sie ist keine Selbstoptimierung, sondern gebunden an Gottes Tun.

D. Sattler verweist im Rekurs auf den konfessionellen Streit um Luthers simul iustus et peccator auf die Notwendigkeit, »beide Wirklichkeiten zu bedenken: die Versuchungen, denen Menschen in ihrem jeweiligen Sozialleben ausgesetzt sind, sowie zugleich die von Gott dem Menschen bewahrte und immer neu geschenkte Fähigkeit, das Gute willentlich ergreifen zu können« (162). Diese Doppelperspektive wird als »jüdisch-christliche Tradition« bezeichnet. Dabei wäre ein Hinweis auf den jüdischen Einspruch gegen die von Augustin und Luther propagierte Einschränkung der moralischen Freiheit des Menschen wichtig gewesen.