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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

508-510

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian

Titel/Untertitel:

Sterben und Tod – Teil des Lebens.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 256 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374072583.

Rezensent:

Ulrike Wagner-Rau

Kaum ein Thema der Praktischen Theologie lässt Christian Grethlein in seiner großen Produktivität aus, um darüber ein Buch zu schreiben. Nun also Tod und Sterben. Impulse für die Auseinandersetzung mit dem Thema findet er in verschiedenen gesellschaftlichen Phänomenen: Die große Kohorte der Babyboomer geht auf Alter und Lebensende zu. Und die Corona-Pandemie hat die gesellschaftliche – auch kirchliche – Verdrängung des Todes und die daraus resultierende Hilflosigkeit gezeigt, die G. auch bei der Erkrankung und beim Lebensende der hochaltrigen Eltern erfahren musste.

In der Einleitung formuliert G. die gegenwärtigen Herausforderungen: In vielen Bereichen zeige sich die einseitige Tendenz, immer mehr vom Leben für sich zu wollen, sich in der Medizin einseitig auf eine Verlängerung des Lebens zu fixieren, im Transhumanismus sogar Nichtsterblichkeit anzuzielen. Zugleich werde der Umgang mit den Verstorbenen privatisiert, der Anteil der kirchlichen Bestattungen immer kleiner. Insgesamt gebe es ein Verbergen der Toten im Privaten und eine Verdrängung von Tod und Endlichkeit aus Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis. Allerdings lassen sich auch kleine Gegenbewegungen beobachten, wie die Hospizarbeit bzw. Palliative Care, eine vermehrte Aufmerksamkeit für das Thema des Suizids und innovative Bestattungspraktiken. In der Einleitung deutet sich bereits die These G.s an: Die Verdrängung des Todes entspreche einer an Konsum und Wachstum orientierten Gesellschaft, die »das Aufhören« (Harald Welzer) vergessen habe und eben deshalb in ökologischer Hinsicht auf ihren Untergang zugehe. Demgegenüber gelte es eine Haltung zu fördern, die den Tod als Teil des Lebens akzeptiert, wie er in der christlichen Vorstellung des Lebens als Gottesgabe repräsentiert sei.

In drei großen Kapiteln stellt G. »möglichst unterschiedliche« (27) Umgangsweisen mit und Sichtweisen auf den Tod vor. Dabei wird keine Vollständigkeit angestrebt, sondern eher die anregende Vielfalt in ihrer Relevanz für die heutigen Themen gesucht. Die These G.s spielt die Rolle einer die Darstellung organisierenden Mitte, die besonders in den jeweiligen zusammenfassenden »Einsichten« hervorgehoben wird.

Die erste, geschichtliche, Perspektive beleuchtet Sterben und Tod im Alten und Neuen Testament, in der Alten Kirche, im Mittelalter und in der Neuzeit. Bei diesem Durchgang, der eine Fülle historischer Informationen und auch anregendes Quellenmaterial bietet, wird deutlich, dass bereits in der Bibel die Vorstellungswelten und Praktiken vielfältig und kontextuell eingebunden sind und dies durch die Geschichte hindurch auch bleiben. Im Anschluss an Marianne Gronemeyer wird hier (und öfter) erwähnt, dass bereits mit den Pestausbrüchen des Mittelalters ein gewisser Bruch in der Plausibilität traditioneller christlicher Vorstellungen und Praktiken eintritt.

In der zweiten, gegenwartsbezogenen, Perspektive zeichnet G. die Veränderungen der letzten 200 Jahre nach. Die Sterblichkeit des Menschen wird in der naturwissenschaftlichen Medizin zu einem Phänomen, das bekämpft werden muss. Dabei geraten die Bedürfnisse des »ganzen Menschen« aus dem Blick. Gleichzeitig wird der Tod aus der Öffentlichkeit und der kirchlichen Praxis in die private Lebenswelt abgedrängt und findet in der Dominanz der Ökonomisierung aller Lebensbereiche keinen Ort mehr.

In der dritten Perspektive analysiert G. wichtige gesellschafts-analytische bzw. psychologische Werke der letzten Jahrzehnte (Ulrich Becks »Risikogesellschaft«, Gerhard Schulzes »Erlebnisgesellschaft«, Hartmut Rosas »Resonanz«, Schulz von Thuns »Erfülltes Leben«) daraufhin, inwieweit das Thema Sterben und Tod in ihnen eine Rolle spielt. Auch hier konstatiert er einen weitgehenden Ausfall der expliziten Aufnahme des Themas, sieht aber, dass die Begrenztheit des menschlichen Lebens jeweils im Hintergrund der Theorien steht. Hier wird meines Erachtens das anders gelagerte Erkenntnisinteresse der behandelten Theorien der eigenen Fragestellung in problematischer Weise unterworfen. Außerdem ist es G. entgangen, dass sich Beck durchaus auch explizit zum Sterben in der individualisierten Gesellschaft geäußert hat (vgl. Beck/Vossenkuhl/Ziegler, Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München 1995, 171–174).

In einem weiteren Kapitel werden dann die – eingangs erwähnten – innovativen Entwicklungen weiter ausgeführt. Hier fällt vor allem die innerhalb der Theologie nicht selbstverständliche Positionierung auf, den assistierten Suizid bzw. das Sterbefasten als ethisch durchaus vertretbare Wege anzusehen angesichts einer Intensivmedizin, die es den Menschen schwer macht, mit ihrem Leben abzuschließen.

Abschließend formuliert G. einen Ausblick unter der Überschrift »Vom ›immer mehr‹ zum ›Aufhören‹«. Er akzentuiert nochmals, dass die Verdrängung des Todes angesichts der grundlegend gegebenen Endlichkeit des Menschen nicht nur je persönlich problematisch ist. Vielmehr stehe diese Verdrängung in Verbindung zu den bedrohlichen Entwicklungen einer Gesellschaft, die vor allem am Wachstum interessiert ist und keine Grenzen akzeptiert, d. h. nicht aufhören kann. Der Tod müsse als Teil des Lebens im öffentlichen Bewusstsein bleiben. Einen nur am Materiellen und am Konsum orientierten Lebensstil unterbreche die Suche nach einem Horizont von Transzendenz, die bei vielen zu beobachten sei. Auch grundlegende christliche Motive bilden ein Widerlager. G. benennt auf den beiden letzten Seiten des Buches, was er hier für wichtig hält: Der Glaube an den Schöpfergott, der der Hybris des Homo Faber entgegensteht, die Anrede an Gott den Vater, die eine Gleichwertigkeit aller Menschen impliziere, und der Glaube an Gott als den Herrn aller Güter, der einer einseitigen Ökonomisierung widerspreche.

Es wird nicht ganz klar, an wen G. sein Buch adressiert. Er stellt vielfältige Entwicklungen zum Thema Tod und Sterben dar, aus denen man manches lernen kann, die aber zum großen Teil andernorts in der Kulturwissenschaft und der Praktischen Theologie bereits aufgenommen wurden. Insofern kann ich mir das Buch vor allem in der Hand von Menschen vorstellen, die anfangen, sich mit dem Thema zu beschäftigen und einen anregenden Überblick suchen. Provozierend dürfte die leitende These von der Verbindung zwischen der – sozialwissenschaftlich präziser meist als »institutionell« bezeichneten – Verdrängung des Todes und deren weitreichenden gesellschaftspolitischen Folgen und Gefährdungen sein. Hier wirkt die Argumentation in ihrer Kürze recht plakativ. Nicht selten wäre m. E. eine ambivalentere Sicht auf die komplexen Phänomene möglich. Anregend für das theologische Gespräch ist die Offenheit, in der G. mit den christlichen Motiven umgeht.

»Was der Glaube an das Schöpfersein Gottes […] für die Toten bedeutet, wurde in unterschiedlichen Begriffen und Bildern formuliert: ganz gegenständlich als Auferweckung des Leibes, abstrakter als ewiges Leben. Für einen Menschen, der sein Leben als Geschenk Gottes inmitten der Schöpfung versteht, sind hier offenkundig unterschiedliche Vorstellungen möglich. Sie sind nur tastende Annäherungen, da sie unter den für irdisches Leben konstitutiven Bedingungen von Raum und Zeit entworfen werden.« (256)