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Ausgabe:

April/2023

Spalte:

371-372

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Henrich, Dieter

Titel/Untertitel:

Furcht ist nicht in der Liebe. Philosophische Betrachtungen zu einem Satz des Evangelisten Johannes.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2022. 70 S. Kart. EUR 16,80. ISBN 9783465034186.

Rezensent:

Jan Rohls

Die letzte Publikation des am 17. Dezember 2023 verstorbenen Münchner Philosophen Dieter Henrich widmet sich einem Bibelvers: »Furcht ist nicht in der Liebe« (1Joh 4,18). Abstrahiert von seiner Einbettung in die johanneische Theologie der Liebe geht es Dieter Henrich allein um die philosophische Erschließung einer Bedeutung dieses Satzes, »die in allgemeiner menschlicher Erfahrung bewährbar ist« (7) und von der er vermutet, dass der Briefautor selbst sie zur Plausibilisierung seiner christlich-theologischen Liebeslehre unterstellt.

H. sieht seine Deutung zugleich als Versuch, den Liebesgedanken auf dem Boden der rationalen Sittlichkeit Kants zu entfalten, statt ihn mit dem jungen Hegel gegen das kantische Sittengesetz in Stellung zu bringen, wie es die ursprüngliche Intention seiner Habilitationsschrift von 1958 gewesen sei. Tatsächlich meint er, dass die Erfahrung der von Leidenschaft und sexueller Lust unterschiedenen reifen Liebe den Menschen der Furcht vor allen Bedrohungen des Lebens enthebe (12 f.). Er geht dabei aus vom Selbstbewusstsein endlicher Subjekte, dessen Verfassung er seit seiner Arbeit »Fichtes ursprüngliche Einsicht« von 1967 vor allem während seiner Heidelberger Zeit maßgebliche Studien gewidmet hat. Sie münden in dem Gedanken, dass jeder von sich weiß, ohne dieses Von-sich-selbst-Wissen erst durch Reflexion gewonnen oder selbst gesetzt zu haben. Vielmehr lässt H. es aus einem ihm schlechthin vorausgesetzten unbedingten Grund hervorgehen (24 f.), sodass er zur Idee eines einzigen Prinzips, einer Transzendenz gelangt, aus der als Grund die Vielfalt endlicher selbstbewusster Subjekte verstehbar wird (28). Zwar gewinne das Subjekt sich selbst nicht aus der Kommunikation mit anderen Subjekten, aber es sei für eine Beziehung zu ihnen offen (36 f.). Die reife Liebe, in der die Attraktion des Anfangs durchaus bewahrt sein könne, charakterisiert H. als wohlwollende Zuwendung zum Anderen als Subjekt seiner eigenen Lebensführung, die ihn über die Alltagssorgen und die Furcht vor der Zukunft erhebt und so in seiner Subjektstellung befestigt (40 f.). Die Liebe partizipiere zudem an der Unbedingtheit des Grundes, in dem die Subjekte wurzeln. H. grenzt diese zwischenmenschliche Liebe, wie er sie im Anschluss an 1Joh 4,18 philosophisch deutet, scharf ab von der umfassenden christlich-theologischen Liebeskonzeption, wie sie der Autor des ersten Johannesbriefs im Ausgang von Gottes Offenbarung als Liebe im sühnenden Opfertod Christi entwickelt (50 f.). Indem H. seine eigene Liebeskonzeption ausgehen lässt von den endlichen selbstbewussten Subjekten, die er sich mit Kant ausgestattet denkt mit dem Bewusstsein des moralischen Gesetzes, lehnt er es ab, mit dem jungen Hegel die Liebe als Alternative zur kantischen Moralität zu deuten (59 f.).

So gelangt H. am Ende seines langen Philosophenlebens zu einer Modifikation dessen, was er einst am Anfang seiner akademischen Karriere in seiner Habilitationsschrift intendiert hatte, nämlich zu einer »Verständigung über Liebe in einem reformulierten Kantischen Rahmen« (7 f.), die in einer »Preisgabe der Vorordnung der Liebe als Prinzip gegenüber der selbstbewussten Sittlichkeit« besteht (8), einer Vorordnung, wie sie nicht nur für die johanneische Theologie, sondern auch für die Philosophie des jungen Hegel charakteristisch sei.