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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

236–237

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Coors, Michael, u. Sebastian Farr [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Seelsorge bei assistiertem Suizid. Ethik, Praktische Theologie und kirchliche Praxis.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2022. 328 S. Kart. EUR 35,90. ISBN 9783290184575.

Rezensent:

Heinz Rüegger

Um die ethische Wertung und den angemessenen kirchlichen Umgang mit dem Phänomen des assistierten Suizids ist seit dem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 zum § 217 StGB und einem ähnlichen Urteil des österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom Dezember 2020 eine heftige Kontroverse entbrannt. In der Schweiz ist die Praxis des assistierten Suizids schon seit längerer Zeit etabliert. Diskutiert wird in den reformierten Kirchen der Schweiz nicht so sehr die ethische und theologische Legitimität dieser Praxis, sondern vielmehr die Frage, welche Aufgabe Pfarrpersonen bei der seelsorglichen Begleitung assistierter Suizide zukommt. Diese Frage aus verschiedenen Blickwinkeln zu erörtern ist das Anliegen des vorliegenden Sammelbandes, der von Michael Coors und Sebastian Farr vom Institut für Sozialethik der Universität Zürich herausgegeben wurde.

Der Band umfasst 20 Beiträge und ist in vier Sektionen unterteilt: Er beginnt mit Beiträgen in ethischer Perspektive, greift dann Fragen im Horizont der Praktischen Theologie auf, geht anschlie-ßend zu Praxisfeldern der Seelsorge über und schließt mit kirchenpolitischen Aspekten.

Bei aller Nuancierung der verschiedenen Positionen zeigen die Beiträge gemeinsame Entwicklungstendenzen der gegenwärtigen Diskussion im deutschsprachigen kirchlich-theologischen Raum:

– Eine undifferenzierte moralische Verwerfung eines assistierten Suizids wird von niemandem vertreten. Allerdings erscheint diese Option nur als Ausnahme in Grenzsituationen akzeptabel, nicht als grundsätzliche Option eines selbstbestimmten Sterbens.

– Für die meisten Beiträge scheint der Lebensschutz grundsätzlich ein höheres moralisches Gut zu sein als die Freiheit zu einem selbstbestimmten assistierten Suizid.

– Für die seelsorgliche Begleitung ist allerdings zentral, wie besonders Isolde Karle in ihrem Beitrag (159–172) hervorhebt, dass christliche Ethik wie Seelsorge in der Moderne gelernt haben, Entscheidungen eines Individuums auch dann zu respektieren, wenn man selbst als Theologe oder Theologin anderer Meinung ist. Daraus ergibt sich der Auftrag für die Seelsorge, Menschen, wenn sie dies wünschen, in kritischer Solidarität im Prozess des Zugehens auf einen allfälligen assistierten Suizid zu begleiten, ohne ihnen die ethische Wertung der seelsorgenden Person aufzudrängen. Dafür, dass dies gerade auch in Institutionen der Diakonie möglich sein sollte, plädiert der Beitrag von Ulrich Lilie (307–316).

– Gerade Entscheidungen am Lebensende erfordern von Seelsorgenden ethische Reflexionskompetenz. Dabei kann sich Seelsorge, wie Frank Mathwig darlegt, in der Verbindung von ethischer Diskursperspektive auf einer normativen Metaebene und seelsorglicher Beteiligungsperspektive auf der Begegnungsebene als Bewährungsraum theologischer Ethik erweisen (35). Eine entsprechende seelsorgliche Haltung verlangt allerdings Sensibilität, die Spannung zwischen respektvoller moralischer Zurückhaltung einerseits und transparenter ethischer Positionierung andererseits auszubalancieren. Seelsorgliche Begleitung eines assistierten Suizids heißt jedenfalls nicht schon inhaltliche Identifizierung mit diesem Akt.

Die Beiträge des Bandes vertreten unterschiedlich akzentuierte Positionen. Manche Positionen machen deutlich, wie schwer sich protestantische Kirchen und Theologie immer noch tun, ein unverkrampftes Verhältnis zur Selbstbestimmung des Menschen im Blick auf sein Lebensende und zur Anerkennung des assistierten Suizides als eine unter verschiedenen Formen selbstbestimmten Sterbens zu finden. Das weist auf eindrückliche Art und Weise der Aufsatz von Reiner Anselm (71–85) im Blick auf die deutsche Debatte nach. Er zeigt anhand kirchlich-theologischer Reaktionen auf das Urteil des BVerfG auf, wie protestantische Theologie bis heute von der reformatorischen Skepsis gegenüber der Freiheit des Einzelnen geprägt ist und mit Verweis auf das Leben als Gabe Gottes den Lebensschutz der Selbstbestimmung meint vorordnen zu müssen. So wird Gott aber letztlich nicht als Grund, sondern als Grenze der Freiheit ins Spiel gebracht und der Grundsatz neuzeitlichen Denkens, der Selbstbestimmung im Blick auf das eigene Leben als rechtlich-moralische Fundamentalnorm versteht, theologisch in Frage gestellt. Demgegenüber plädiert Anselm für eine liberale Position, für die zur Gott gegebenen Personalität des Menschen auch die Freiheit gehört, dem eigenen Leben gegebenenfalls selbstbestimmt ein Ende zu setzen. Das entspricht der Perspektive von Tanja Krones und Settimio Monteverde (87–108), die aus Sicht der klinischen Ethik die Suizidassistenz als eine valide Palliative Care-Option beschreiben.

Zentral ist der Hinweis im Beitrag von Jürg Spielmann (259–268), dass sich Ethik und Seelsorge darauf einstellen sollten, dass unter den Gegebenheiten moderner Medizin selbstbestimmtes Sterben längst zum neuen Normalfall geworden ist und eine Vielfalt von Optionen umfasst: neben assistiertem Suizid vor allem passive Sterbehilfe, indirekt-aktive Sterbehilfe oder freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (zu diesem letztgenannten Phä- nomen gibt es einen instruktiven Beitrag von Michael Coors, 109–127). Der Notwendigkeit, selbst bestimmen zu müssen, wann und in welcher Form es angemessen erscheint, sein Leben zu beenden, können wir uns heute in vielen Fällen gar nicht mehr entziehen.

Dass dabei aus ethischer Perspektive ein zentraler Unterschied zwischen dem bloßen Zulassen des Sterbens durch passive Sterbehilfe und der Herbeiführung des eigenen Todes durch assistierten Suizid besteht, wie Coors unterstreicht (121 f.), könnte allerdings durchaus kritisch hinterfragt werden. Ethik und Seelsorge werden kaum darum herumkommen, assistierten Suizid als eine unter vielen legitimen Optionen selbstbestimmten Sterbens unter den Bedingungen eines modernen Gesundheitswesens wahrzunehmen und zu akzeptieren. Dabei dürfte die Einsicht von Mat-thias Zeindler zentral sein, dass »auch das Sterben Teil des göttlichen Auftrags an den Menschen ist, sein Leben in selbsttätiger Aktivität zu vollziehen« (55 f.). Dies wirklich ernstzunehmen und in seinen verschiedenen Bedeutungsfacetten ethisch, theologisch und poimenisch zu entfalten, ist allerdings eine Aufgabe, die in mancherlei Hinsicht über den im vorliegenden Band dokumentierten Diskussionsstand hinausweist.

Das hier anzuzeigende Buch bietet eine reiche Fülle an Informationen und Gedankenanstößen, die zu einer fundierten Auseinandersetzung mit dem Phänomen des assistierten Suizids aus theologischer, ethischer und kirchlich-pastoraler Perspektive anregen. Zudem bieten die Artikel von Rita Famos (281–293) und Ulrich H. J. Körtner (295–306) einen hilfreichen, konzisen Überblick über die derzeitigen rechtlichen Grundlagen und kirchlich-theologischen Debatten in der Schweiz und in Österreich. Da alles dafür spricht, dass Seelsorgende in Zukunft vermehrt mit der Bitte um Begleitung auf dem Weg selbstbestimmten Sterbens konfrontiert sein werden, ist die Lektüre dieses Bandes Seelsorgenden wärmstens zu empfehlen.