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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

176–177

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ruiz Rodrigo, Juan Antonio

Titel/Untertitel:

Desde la atalaya hermenéutica. La funcíon literaria y teológica de IS 12 dentro del Libro de Isaías.

Verlag:

Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas 2021. 286 S. = Textos y Estudios Cardenal Cisneros, 84. Kart. EUR 25,00. ISBN 9788400109028.

Rezensent:

Rainer Kessler

Das kurze Kapitel Jes 12 nimmt im Aufbau des Jesajabuches eine Sonderstellung ein. Mit der 2018 am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom verteidigten Dissertation des spanischen Priesters und Alt-testamentlers Juan Antonio Ruiz Rodrigo, gegenwärtig Professor an der katholischen Universität San Dámaso in Madrid und Direktor des Instituto Español Bíblico y Arqueológico von Jerusalem, werden nun erstmalig die sechs Verse des Kapitels einer umfassenden monografischen Untersuchung unterzogen.

Die kurze Einleitung der Studie stellt die These der Arbeit und die einzelnen Schritte der Argumentation vor, sodass bei der Lektüre keine Überraschungen mehr zu erwarten sind. Insgesamt nähert sich R. dem Text in fünf Schritten, die den fünf Kapiteln seiner Arbeit entsprechen.

Das I. Kapitel referiert den Forschungsstand und trägt die eigene Verortung des Autors vor. Nach dem Referat von Arbeiten, die Jes 12 als Abschluss der Kapitel 1–12 (Blenkinsopp), 7–12 (Oswalt) oder 10–12 (Watts) deuten, schließt R. sich der Position von W. A. M. Beuken an, der das Kapitel im Kontext des Ganzen des Jesajabuches auslegt. Damit ist dann auch schon die Aussage des Titels der Monografie eingelöst: »Vom hermeneutischen Aussichtsturm Jesajas aus. Die literarische und theologische Funktion von Jes 12 innerhalb des Jesajabuches«.

Im II. Kapitel wendet R. sich der Frage der literarischen Einheitlichkeit von Jes 12 zu. Wegen des Wechsels von der Anrede im Singular (V. 1–2) zum Plural (V. 3.4–6) und der sehr eigenen Sprache von V. 3 ist diese bestritten worden. Doch weder textkritische Änderungen noch literarkritische Aufteilungen führen zu befriedigenden Ergebnissen. Entscheidende Marker sind für R. die beiden Anfänge in V. 1 »An jenem Tag wirst du sagen« und V. 4 »An jenem Tag werdet ihr sagen«. Jes 12 sei als Danklied zu bestimmen, in dem zunächst ein Individuum angeredet wird. Diesem wird angekündigt, dass es »an jenem Tag« eine Danksagung sprechen werde. Mit dem Übergang in V. 3 wendet sich dieser Einzelne sodann an die Gemeinschaft und ruft diese zur Danksagung auf, sodass schließlich »alle Welt« (V. 5) in das Geschehen einbezogen wird. Auch wenn die Elemente der Danksagung aus den Psalmen bekannt sind – etwa die Aufforderung an die anwesende Gemeinschaft, in das Gotteslob einzustimmen –, rückt durch die Einleitungsformeln von V. 1 und V. 4 Jes 12 in eine prophetische Perspektive.

Wichtige Einsichten und literaturgeschichtliche Parallelen vermittelt Kap. III. R. bestimmt Jes 12 als »Pastiche«, also als ein Kunstwerk, das offen als »ein Mosaik von Zitaten, Anspielungen und Echos« auf andere Texte (so die Kapitelüberschrift) gestaltet ist. Als Hintergrund dieser Literaturgattung werden Belege von der griechisch-römischen Literatur nicht-christlicher wie christlicher Provenienz bis hin zur spanischen Poesie des 16. und 17. Jhs. beigebracht. Auch biblische Beispiele für diese literarische Technik kommen zur Sprache, wie Ex 34,11–26, das R. als Pastiche aus älteren Gesetzessammlungen versteht, die siebte Bitte aus Salomos Tempelweihgebet (1Kön 8,46–51) sowie der Jonapsalm (Jon 2,3–11) aus dem Alten oder das Magnifikat der Maria aus dem Neuen Tes-tament (Lk 1,46–55). Bevor die biblischen Belege genannt werden, untersucht R. in einem wichtigen theoretischen Einschub verschiedene Termini, ihren Inhalt und ihre Abgrenzung zueinander, die die Phänomene der Intertextualität zu erfassen suchen; solche Begriffe sind: direkt als solches eingeleitetes oder indirektes Zitat, Anspielung, Echo, Paraphrase, Erinnerung oder Einfluss.

Für Jes 12 werden sodann Vers für Vers die Parallelen in anderen biblischen Texten aufgezeigt; genannt seien nur das Zitat von Ex 15,2a in V. 2b, die Übernahme von Ps 105,1 in V. 4a und von Ps 148, 13a in V. 4b. So werden beim Pastiche Sinnpotenziale aus den angespielten oder zitierten Texten aufgerufen, die dem neuen Text seine Tiefe geben: »der normale Sinn der Worte und Konzepte wird durch die Zitate, Anspielungen und Echos anderer Texte, auf die direkt oder indirekt Bezug genommen wird, gesteigert« (163). Der neue Text des Pastiche ist mehr als die Summe seiner Zitate und Anspielungen. So werden in Jes 12 die Herkunftszitate und -anspielungen durch die zweimalige Einleitungsformel »An jenem Tag wirst du sagen« (V. 1) bzw. »An jenem Tag werdet ihr sagen« (V. 4) in einen eschatologischen Zusammenhang gestellt, der ihnen an ihrem Ursprungsort abgeht.

Auch wenn R. Jes 12 als literarische Einheit versteht, bleibt ihm die Sonderstellung von V. 3 nicht verborgen, weshalb er ihm ein eigenes Kapitel (IV) widmet. Das Bild vom Wasserschöpfen aus den Quellen des Heils fällt zwar aus der sonstigen Bildsprache des Textes heraus. Doch auch hier lassen sich intertextuelle Anspielungen bei praktisch jedem Wort finden, sodass der Vers geradezu zum interpretativen Schlüssel für Jes 12 wird: In ihm werden die Anspielungen auf den Exodus und auf die Zionstheologie zusammengebunden.

Von der bisher untersuchten Intertextualität in alle Bereiche der Bibel, besonders aber in die Psalmen und die Exodustradition hinein, geht es in Kapitel V. zur Intratextualität, also zu den Beziehungen zu anderen Texten des Jesajabuches. Was schon im Forschungsüberblick klar wurde, bestätigt sich hier: Jes 12 hat Beziehungen in das gesamte Jesajabuch hinein, wird also zu kurz gefasst, wenn es nur als Abschluss der Kapitel 1–12 (oder eines Teiles von ihnen) verstanden wird. Natürlich gibt es Bezüge in die Kapitel 1–12 hinein, etwa das Motiv des göttlichen Zornes (12,1 und der fünfmalige Kehrvers in 5,25; 9,11.16.20; 10,4) oder der Titel »Heiliger Israels« (12,6 und 1,4; 5,19.24; 6,3; 10,20). Aber schon diese Motive haben auch Parallelen bei Deutero- und Tritojesaja. Dazu kommt das Motiv des Trostes (12,1), das in Deuterojesaja dominant ist (vgl. die leitmotivische Verwendung in 40,1; 49,13; 51,3; 52,9), aber auch im dritten Teil des Jesajabuches aufgegriffen wird (57,18; 61,3; 66,13). Die Exodusanspielung in Jes 12,2 durch das Zitat aus Ex 15,2 verbindet schließlich mit der Vorstellung vom neuen Exodus, die sich sowohl in Jes 11 als auch bei Deuterojesaja wiederfindet. Metaphern wie Aussichtsturm, Brücke, Generalschlüssel oder Panoramaplattform stellen den Versuch dar, die Funktion von Jes 12 für das Ganze des Buches bildlich zu fassen.

Eine mehrseitige Zusammenfassung der Ergebnisse und ein Literaturverzeichnis beschließen den Band. Er stellt die bisher weitaus umfangreichste Untersuchung der sechs Verse von Jes 12 dar. Redundanzen und gelegentliche Abschweifungen, die über inter- und intratextuelle Vergleiche weit hinausgehen, machen die Lektüre bisweilen mühsam. Der Lohn der Mühe aber besteht darin, dass wirklich jede mögliche Parallele zu Jes 12 in den Blick genommen wird, dass mit der Form des Pastiche der eigentümliche Charakter dieses Kapitels gut zum Ausdruck gebracht wird und die von Beuken und anderen vertretene Bedeutung des Kapitels für das Ganze des Jesajabuches materialreich untermauert wird.