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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

60-62

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Czolkoß-Hettwer, Michael

Titel/Untertitel:

Transnationale Möglichkeitsräume. Deutsche Diakonissen in London (1846–1918).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 458 S. m. 12 Abb. u. 4 Tab. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 265. Geb. EUR 75,00. ISBN 9783525311400.

Rezensent:

Sebastian Kranich

Der Autor dieser umfangreichen mikrohistorischen Studie verfolgt eine klare Agenda: Die deutschen Diakonissen in London sollen als aktiv handelnde Frauen dargestellt und gewürdigt werden. Im Kontrast zu einer veralteten Eigengeschichtsschreibung, die den Eigensinn von Diakonissen abblendete, sowie zu einer Geschichtswissenschaft, die Frauen und Religion als treibende Kräfte im 19. Jh. marginalisierte, rekonstruiert Michael Czolkoß-Hettwer die Handlungsspielräume jener. Dafür greift er primär auf einen Korpus nichtedierter Schwesternbriefe zurück, die von England aus an die deutschen Mutterhäuser gesendet wurden. Diese von Erwartungshaltungen in einem hierarchischen Kontext verfassten Briefe sollen zu diesem Zweck gegen den Strich – kritisch und zwischen den Zeilen – gelesen werden.

In seiner Zielsetzung geht C.-H. nicht zuletzt einher mit Peggy Renger-Berkas Arbeit: Weibliche Diakonie im Königreich Sachsen. Das Dresdener Diakonissenhaus 1844–1881. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014 (Historisch-theologische Genderforschung, 7). Anders als diese beleuchtet er die transnationale Situation von Diakonissen aus Kaiserswerth, Darmstadt und Bielefeld in einem vom Gründungsgedanken her deutschen, nichtkonfessionellen, gleichwohl protestantisch geprägten Krankenhaus im multikonfessionellen London.

Die Arbeit ist mehrfach theoretisch und methodisch gerahmt. C.-H.s heuristisch ausgerichtete theoretische Zugriffe auf das Material überzeugen meist, etwa im Blick auf die Konstruktion von Geschlechterverhältnissen im 19. Jh. Auch seine Expedition hin zu den Grenzräumen des »Kosmos Diakonissenhaus«, der in dieser Arbeit recht dynamisch erscheint, da eine ganze Reihe von Möglichkeiten im Alltag der Diakonissen sichtbar werden, ist spannend. Dagegen erweist sich die Deutungskraft des Säkularisierungsparadigmas am historischen Material wiederholt als nur begrenzt. So zeigen die Auseinandersetzungen um protestantischen, katholischen und jüdischen Einfluss im German Hospital (GH) eher Effekte der Rekonfessionalisierung. Zudem kann von einer säkularisierten Krankenpflege in England tatsächlich »nur bedingt gesprochen werden.« (83) C.-H. legt klar dar, dass das Krankenpflegesystem von Florence Nightingale maßgeblich von der Praxis im GH geprägt wurde, wo die wohl berühmteste Krankenschwester der Geschichte um 1850 häufig verkehrte – auch mit den leitenden deutschen Diakonissen. Vor allem aber erweist sich die holzschnittartige Entgegensetzung von fortschrittlicher, naturwissenschaftlicher, männlicher Medizin und rückständiger, religiöser, weiblicher Pflege angesichts der von C.-H. präsentierten Quellen als Zerrbild. Im medizinischen und pflegerischen Alltag lässt sich vielmehr meist ein kooperatives Zusammenwirken erkennen, auch wenn die spezifischen Frömmigkeitsstile und weltanschaulichen Überzeugungen kollidieren konnten.

Letzteres lässt sich an einer Reihe von geschickt ausgewählten Episoden und Konflikten ablesen. Eine Schwester berichtete etwa, ein sterbender Patient habe sich bei einer ihm zugedachten religiösen Unterweisung die Ohren zugehalten (282). Auch bei der Entlassung des jüdischen Arztes Jonas Carl Hermann Freund, dem Hauptinitiator der GH-Gründung, spielten religiöse wie politische Gründe offenbar eine Rolle. Den mikrohistorischen Blick vergrößern bei der Lektüre dabei Informationen wie: Freund betreute als Arzt zeitweilig auch Karl Marx und dessen Familie und stand im Ruf, Kommunist zu sein.

Auch kirchengeschichtlich interessant ist, dass das GH von Anbeginn ein Fixpunkt preußischer Interessen in London war. Größter Unterstützer von Freund bei der Gründung eines deutschen Krankenhauses war Karl Leopold Adolf Sydow, der wiederum den preußischen Gesandten Christian Carl Josias von Bunsen als Unterstützer gewann. Doch wird Gründungs- und Institutionsgeschichtliches von C.-H. eher nebenher eingespielt.

Durchgängiges Thema ist dagegen das Leben der Schwestern. Indem C.-H. seine alltagsnahen Quellen auswertet und sprechen lässt, gelingt es ihm, ein gewiss nicht vollständiges, aber farbig-facettenreiches Bild zu zeichnen: Von einer Frauengemeinschaft, aber mehr noch von Individuen, die sich in allen Vorgaben einer starken Institution vielfach zu behaupten wissen; die Regeln und Vorgaben immer wieder alltagspraktisch umsetzen und – in unterschiedlichem Maß und mit anerkannten Argumentationsmus-tern – eigene Interessen vertreten und durchsetzen. C.-H. betont, wie geschickt die Diakonissen dabei männliche Autoritäten gegen-einander in Stellung zu bringen wussten und vor allem mit dem Verweis auf Gottes Willen und Wegweisungen eigene Wege und Entscheidungen begründeten.

Ein bloß funktionales Verhältnis der Diakonissen zum christlichen Glauben ist damit gleichwohl nicht beschrieben. C.-H. betont, wie zentral für die Schwestern das selige Sterben von Todkranken war. Dabei moniert er, dass soziale und Krankheitsursachen für den Tod in den Schwesternbriefen nur ganz am Rande aufscheinen. Der sich darin spiegelnden ernsten erweckten Frömmigkeit der Schwestern wird C.-H. damit nicht ganz gerecht. Von heute aus gesehen lässt es sich auch als Verlust begreifen, dass eine Medizin, die ausschließlich auf Heilung und Linderung von Krankheit setzt, den Tod aber weithin tabuisiert, allzu lange auf dem Siegeszug war. Die Diakonissen mit ihrer Konzentration auf das selige Sterben erscheinen dagegen fast als Vorboten der Palliativbewegung, auch wenn sich viele Glaubensvorstellungen seither gewandelt haben.

Ein signifikanter Doppelschwerpunkt der anregenden Fallstudie sei noch erwähnt: Wiederholt kommt C.-H. auf den kollektiven Austritt von fünf Kaiserwerther Diakonissen 1857/58 zurück. Er geschah, indem sich die Frauen Maßregelungen aus Kaiserswerth zunächst widersetzten, sich diesen dann entzogen und schließlich direkt angestellt am GH weiterarbeiteten. Kopf der Auseinandersetzung mit Theodor Fliedner war die Oberschwester Christiane Bürger, die auch nach ihrem Ausscheiden weiterhin die Kaiserswerther Haube trug und am GH eine verantwortliche Stellung behauptete. Sie und andere profilierte Frauen stehen wiederholt im Fokus der Arbeit, ihnen gilt die Sympathie des Verfassers. Gleichwohl gleitet die Studie nicht in eine Heldinnengeschichte ab. Denn C.-H. weiß: »In der Krankenpflege und im Umfeld der weiblichen Diakonie in England (wie auch den USA) waren starke weibliche Führungsgestalten eher akzeptiert als in Deutschland« (401).

Es sind nicht zuletzt die religionskulturellen, politischen und karitativen Differenzen zwischen den Leitideen der deutschen Mutterhäuser und dem Leben der deutschen Community in London, aus denen diese lesenswerte, für den Druck gekürzte Dissertation an der Fakultät für Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ihren Spannungsbogen erhält. Als Erst- und Zweitgutachterinnen fungierten die Historikerinnen Gunilla Budde und Julia Hauser. In besonderem Maße dankt C.-H. der Historikerin Hedwig Richter.