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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1022–1024

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Fuess, Albrecht, u. Volker Leppin [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Jerusalem – Ziel, Vision, Vorbild. Fünf Geschichten eines Erinnerungsortes in Judentum, Christentum, Islam und Baha’i.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. VII, 232 S. Kart. EUR 44,00. ISBN 9783161600142.

Rezensent:

Katharina Heyden

Über Jerusalem sind schon viele Bücher geschrieben worden. Dass das Thema unerschöpflich ist und noch immer neue Erkenntnisse bereithält, zeigen die fünf in diesem Band versammelten Beiträge auf unterschiedliche Weise. Drei Aufsätze behandeln die Bedeutung Jerusalems in Judentum, Christentum und Islam. Sie gehen auf ein Vortragspanel des Mediävistenverbandes im März 2019 in Tübingen zurück, das dem Thema »Schaffen und Nachahmen« gewidmet war. Die anderen beiden Artikel wurden anlässlich der Publikation beigefügt und nehmen zum einen russische und polnische Pilgerberichte und zum anderen die Bedeutung des Heiligen Landes für die Bahai in den Blick.

Stefan Schreiner zeichnet in seinem quellengesättigten Beitrag »Vom Ersten zum Dritten Tempel« (1–45) die verschiedenen Rekonstruktionen, Modelle und Visionen des Jerusalemer Tempels in der Geschichte des Judentums nach. Obwohl – oder weil – in der rabbinischen Tradition das Torastudium als Substitut für den zerstörten Tempel galt und die architektonische Wiedererrichtung erst für die messianische Zeit erwartet wurde, ist der Tempel immer wieder literarisch und zeichnerisch, und schließlich auch architektonisch (re)konstruiert worden. Besonders interessant sind die Beobachtungen zu gegenseitigen Beeinflussungen jüdischer und christlicher Tempelrekonstruktionen, etwa bei Nikolaus von Lyra und den modernen Hebraisten. Die architektonischen Imitationen des Tempels im Synagogenbau setzen, durchaus im Einklang mit den rabbinischen Traditionen, mit den frühneuzeitlichen messianischen Bewegungen in Mittel- und Osteuropa ein und finden sich auch im Reformjudentum des 19. Jh.s.

Für den Islam erörtert Albrecht Fuess in »Der Felsendom (Qubbat aṣ Ṣaḫra) im Spiegel seiner Reproduktionen in Vergangenheit und Gegenwart« (47–81) zunächst die Bedeutung Jerusalems im Vergleich mit anderen islamischen Heiligtümern und gibt dann einen Überblick über Nachbauten des Felsendoms durch die Jahrhunderte. Die zeitlich und räumlich sehr nahe quabbat as-silsila des cAbd al-Malik und das abbassidische Mausoleum qubbat as-Sulybia im irakischen Sāmarrā sind als eindeutige Reminiszenzen an den Felsendom zu interpretieren. Dagegen gibt es zahlreiche Gebäude der Kreuzfahrer, Ayyubiden und Osmanen im Orient, die als Anspielungen auf den Felsendom gedeutet werden können, aber nicht müssen. Die erste Moschee in Deutschland, 1915 in Wünsdorf bei Berlin errichtet, weist wiederum klare Anleihen bei der Architektur des Felsendoms auf, ebenso verschiedene zeitgenössische Bauprojekte in Deutschland, Brasilien und der Türkei. Fuess fragt nach den jeweiligen politischen Inanspruchnahmen Jerusalems, die sich mit den Reminiszenzen und Kopien des Felsendoms verbinden. Eine Hauptthese ist, dass der Felsendom von den iranischen Revolutionsführern zum Symbol für den islamischen Anspruch auf Jerusalem, in der schiitischen Tradition eigentlich ohne historische Grundlage, und zum Symbol des jihad als bewaffnetem Krieg stilisiert wurde. Der Verlust des Heiligtums im Sechstagekrieg 1967 sei seit den siebziger Jahren unter anderem durch die massenhafte Verbreitung von populären Minikopien des Felsendoms zugleich kompensiert und sichtbar gemacht worden. Für die jüngsten Bauprojekte in Deutschland (Gelsenkirchen), Brasilien und der Türkei beschränkt sich der Autor leider auf Mutmaßungen über die mit den architektonischen Zitaten verbunde-nen Intentionen. Eine kleine empirische Studie mit einer Befragung der Beteiligten wäre weiterführend und wohl auch durchführbar gewesen.

Volker Leppin schlägt für »Jerusalem und das Heilige Grab im mittelalterlichen lateinischen Christentum« (83–119) keinen ganz so weiten Bogen in Raum und Zeit, entwickelt aber eine interessante und überzeugende These. Er zeigt unter anderem anhand von Texten von Bernhard von Clairvaux, Felix Fabri und Heinrich Seuse sowie anhand des Dialogus Beatae Mariae et Anselmi, dass eine Reduktion der christlichen Pilgerfahrt nach Jerusalem auf den Ablass der mittelalterlichen Frömmigkeit nicht gerecht wird. Vielmehr habe sich die lebensverändernde Kraft, die eine Pilgerreise ins Heilige Land bedeutete, organisch mit dem (erst 1350 in Jerusalem installierten) Ablasswesen verbunden. Die Wirkung einer Pilgerfahrt konnte außerdem nicht nur vor Ort, sondern auch durch die Lektüre von Pilgerberichten, die Betrachtung von Darstellungen Jerusalems und durch den Besuch und liturgische Feiern in Nachbauten in Europa aktualisiert und nachempfunden werden. Jerusalem als Ausgangspunkt der christlichen Heilsgeschichte wird damit zu einem zentralen Element der mittelalterlichen Frömmigkeit, die wesentlich von Repräsentation und Reenactment geprägt war. Dass dies alles nicht erst für das mittelalterliche, sondern bereits für das spätantike Christentum gilt, wäre mit einem Hinweis auf die imaginäre Pilgerreise in der Epistula 46 von Hieronymus, Paula und Eustochium, bildliche Darstellungen Jerusalems und Grabnachbauten in Rom und Bologna im Blick auf die longue durée dieser Frömmigkeit von Repräsentation und Reenactment eine Erwähnung wert gewesen.

Mit eben dieser Beobachtung zur longue durée beginnt dafür Stefan Schreiner seinen zweiten Beitrag in diesem Band, der »Das Heilige Grab in russischen und polnischen Pilger- und Reiseberichten aus dem 12. bis 16. Jahrhundert« (121–199) in den Blick nimmt. Schreiner führt das kontinuierliche Interesse an der Pilgerfahrt allerdings nicht historisch auf die zentrale Stellung Jerusalems in der christlichen Heilsgeschichte, sondern anthropologisch auf ein menschliches Grundbedürfnis zurück. So habe denn auch im russischen Christentum die Jerusalem-Pilgerfahrt recht bald nach der Christianisierung eingesetzt. Der sehr umfangreiche Beitrag bietet einen Überblick über russische und polnisch-litauische Pilgerberichte seit dem 11. Jh. und präsentiert jeweils die Beschreibung der Grabeskirche in Originalsprache und Übersetzung. Besonders wertvoll in diesem Archiv ist der älteste Bericht des Igumen Daniil, der das Heilige Land kurz nach Eroberung durch die Kreuzfahrer 1099 bereiste. Seine Beschreibung der Grabeskirche weist Übereinstimmungen mit derjenigen des Geographen Rogers II, cAbd Allāh b. Idris al-al-Idrīsī, in seinem Kommentar zur berühmten mappa mundi von Palermo auf, so dass beide Quellen zusammen einen glaubhaften Eindruck vom Heiligen Grab zu Beginn des 12. Jh.s geben. Ein eigenes Kapitel widmet Schreiner dem im 16. Jh. weit verbreiteten Reisebericht des Mikołaj Krzysztof Radziwiłł, mit einem ausführlichen Zitat (das in diesem Fall allerdings nicht im polnischen Original mit moderner Übersetzung, sondern in der altdeutschen Übersetzung wiedergegeben wird). Der Beitrag bietet eine wertvolle Zusammenstellung der Darstellungen, aber leider keine systematische Auswertung oder auch nur einen Vergleich der Quellen.

Der den Band beschließende Text »›Füllt das Herz mit Licht.‹ Das Weltzentrum der Bahai in Palästina und die ›Häuser der Andacht‹« (201–221) stammt nochmals aus der Feder des Mitherausgebers Albrecht Fuess. Darin geht es allerdings nicht um Jerusalem, sondern um das für die Bahai zentrale Heiligtum mit dem Schrein des Bāb und den Gärten von Haifa. Der recht knappe Text bietet eine Einführung in die Geschichte und Religion der Bahai, ihren im erzwungenen Exil des Bahāullāh begründeten Bezug zum Berg Karmel, und eine Darstellung der Bauten in Akko und Haifa. Ein Zusammenhang mit Jerusalem, zumal als »Ziel, Vision, Vorbild« oder »Erinnerungsort«, wie der Titel des Bandes es verspricht, ist jedoch nicht erkennbar.

In der fehlenden konzeptionellen Konsistenz liegt denn auch insgesamt die Schwäche des Bandes. Die fünf Texte sind jeder für sich lesenswert und lehrreich, aber sie bleiben, um die Worte des Untertitels aufzunehmen, »Fünf Geschichten«, die unverbunden nebeneinander stehen.

Vergleiche zwischen den Religionen fehlen ebenso wie systematische Verbindunslinien zwischen den Beiträgen – obwohl sie sich angeboten hätten, etwa im Blick auf die Bedeutung von Kopien und Nachbauten oder von liturgischen Jerusalem-Feiern, aber auch im Blick auf die theologische Bedeutung als Erinnerungs- und Hoffnungsort in den religiösen Traditionen. Das äußerst knappe Vorwort beschränkt sich darauf, den Entstehungskontext des Bandes offenzulegen. Einige vergleichende oder synthetisierende Gedanken zu den Titelbegriffen – vor allem dazu, inwiefern Jerusalem in den drei Religionen zugleich »Erinnerungsort« und »Ziel, Vision, Vorbild« ist – wären lohnend gewesen. Denn gerade in der Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft und in den spezifischen Ausprägungen dieser Verknüpfung in Judentum, Christentum und Islam liegt die Besonderheit des unerschöpflichen Themas Jerusalem. Auch eine ganze Reihe von Druckfehlern – am gravierendsten die »Vertreibung aus dem Paris« statt »Paradies« auf S. 96 – schmälert die Lesefreude ein wenig. Immerhin eröffnet das Personen- und Ortsregister die Möglichkeit, sich den reichen in den fünf Beiträgen verarbeiteten Quellenfundus summarisch zu erschließen.