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Ausgabe:

September/2022

Spalte:

872–874

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Sandler, Willibald

Titel/Untertitel:

Charismatisch, evangelikal und katholisch. Eine theologische Unterscheidung der Geister.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2021. 360 S. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783451387036.

Rezensent:

Dirk Spornhauer

Evangelikaler Katholizismus ist seit einigen Jahren zu einem Begriff für Strömungen, Werke und Gemeinden geworden, die in der Katholischen Kirche verwurzelt sind und gleichzeitig Impulse aus protestantischen, besonders aus evangelikal/charismatischen Traditionen aufgenommen haben. Diesem Bereich evangelikaler Katholiken wendet sich Willibald Sandler zu, um Potentiale und Gefährdungen von diesen Bewegungen sichtbar zu machen (35). Der konkrete Anlass des Buches ist das »Mission Manifest«, eine im Jahr 2018 in Augsburg von 80 Initiativen vorgestellte Reihe von zehn Thesen zur Mission innerhalb der Katholischen Kirche. Gleichzeitig setzt er sich mit Kritik am Manifest seitens katholischer Theologinnen und Theologen auseinander.

S. entwickelt dabei eine Theologie des Kairos, verstanden als theologische Reflexion über unverfügbare Gnadengeschenke des Geistes Gottes (36). Er versteht seine theologische Rede als Ergebnis einer vierfachen »Gott-Rede«, bei der Gott durch Offenbarung zu uns redet (Gott-Rede 1), wir im Gebet zu Gott reden (Gott-Rede 2), woraus das Zeugnis von Gott in der Welt erwächst (Gott-Rede 3). Diese drei bilden die Voraussetzungen für die theologische Rede über Gott (Gott-Rede 4) (327). Seine Kairos-Theologie versteht er als Frucht seiner doppelten Rolle als katholischer Theologe und als Leiter des charismatischen Gebetshauses »Die Weide« in Innsbruck. Im Mittelpunkt dieser Kairos-Theologie steht das Achthaben auf den Rhythmus Gottes, der den Kairos zu seiner Zeit schenkt (237 f.). S. tritt für ein »mehrseitiges« Verständnis von Offenbarung ein, in dem Gott im Kairos »sich mir gibt« und mir, im Verblassen der Intensität der Kairos-Erfahrung, Raum für Entscheidung schenkt und so »mich mir gibt« (269). Dieser »mehrperspektivischen Theo-logie« sieht er sich als Anhänger der Innsbrucker dramatischen Theologie im Gefolge von Raymund Schwager verpflichtet (267).

Der gesamte Argumentationsaufbau ist von der These getragen, dass sich in der evangelikalen und den pfingstlich-charismatischen Bewegungen zu Beginn »authentisch christliche Gnadenerfahrungen« auswirkten. Diese seien verunreinigt worden und so gelte für diese Bewegungen, wie auch für die Kirche insgesamt, dass sie stets der Erneuerung bedürftig sei (248). Daher bietet er einen umfangreichen Durchgang durch die Geschichte der evangelikalen und der pfingstlich-charismatischen Bewegungen des 19. und 20. Jh.s. Hierbei arbeitet er mit einer exemplarischen Auswahl (36 f.), die eine »gute Grundlage« für die theologische Arbeit liefern und letztlich die These untermauern soll, »dass und wie Erneuerungsbewegungen und Kirche einander brauchen« (41).

Die Auswahl der dargestellten bzw. der ausgelassenen Teile der Bewegungen erfolgt gemäß deren Eignung für die Kairos-Theologie. Dies führt teilweise zu nicht hinnehmbaren Verzerrungen in der Darstellung. Bei der Beschreibung der evangelikalen Bewegung konstatiert S. zwar, dass die Bewegung vielgestaltig, zerstritten und gespalten ist. Dies hindert ihn jedoch nicht, die fundierten Forschungsergebnisse hierzu (zuletzt Gisa Bauer anhand umfangreicher Quellenanalysen) pauschal wegzuwischen und zu behaupten »Evangelikal = Erwecklich« (47 f.). Die Feststellung der inneren Einheitlichkeit der Evangelikalen ist für S. von zentraler Bedeutung, denn mit ihr begründet er eine überindividuelle Vergleichbarkeit geistlicher Erfahrungen innerhalb der evangelikalen Bewegung. Damit wird dann z. B. geschlussfolgert, dass das Mission Manifest denjenigen Menschen inhaltslos erscheinen müsse, die entsprechende Erfahrungen im evangelikal-charismatischen Stil nicht gemacht hätten (306). Die auf diese Weise konstruierte, überindividuell vergleichbare Erfahrung als Grundlage für theologische Schlussfolgerungen kann hier keinesfalls überzeugen.

Der Durchgang durch die pfingstlich-charismatischen Bewegungen zielt auf die Darstellung der »radikalen Mitte einer Kairos-Spiritualität« (173.207). »Radikale Mitte« bezieht sich auf den neopentekostalen Leiter der Vineyard-Bewegung John Wimber und dessen Wunsch, eine Kirche zu gründen, in der das Beste aus Evangelikalismus und Pfingstbewegung miteinander verschmelzen. Der Kairos wird dabei in besonderen Gnadenerweisen Gottes gesehen, wozu in der ersten und zweiten Welle von Pfingsterfahrungen besonders die Geistestaufe gehört (143). An der Betonung dieser Aspekte orientiert sich die Darstellung. Dies führt u. a. zu einer ungerechtfertigten Auslassung der Keswick-Heiligungstheologie des 19. Jh.s und dem folgend einer allzu oberflächlichen Behandlung der weltweit bedeutenden Richtung des Finished-Work-Pentekostalismus. Die für die erste große Spaltung innerhalb der Pfingstbewegung verantwortlichen Gegensätze werden in Bezug auf die Kairos-Theologie für nicht-existent erklärt (127). Diese Darstellung wird der Geschichte der Bewegung nicht gerecht. Es werden wesentliche Unterschiede verschwiegen bzw. Erklärungsmuster übergestülpt, die seitens der Bewegung selbst ausdrücklich abgelehnt wurden (z. B. quasi geheilte Sündennatur).

Hier wird nicht die Kairos-Theologie auf historische Analysen gegründet, sondern die Darstellung der Geschichte wird den Vorgaben der Kairos-Theologie angepasst. Entsprechend diesem Muster wird die Geschichte der klassischen Pfingstbewegung und der sogenannten Dritten Welle des Heiligen Geistes in Deutschland kurz behandelt (130 ff.177 f.). Für die Darstellung der zweiten Welle, also der charismatischen Bewegungen, werden nur einige ausgewählte Punkte benannt, die jedoch nicht geeignet sind, Anliegen und Geschichte der charismatischen Bewegungen zu charakterisieren. Dies wird besonders deutlich in Bezug auf die katholisch-charismatische Bewegung, bei der das Leben der vielen Gruppen, Initiativen, Lebensgemeinschaften und Werke, das über Jahrzehnte hinweg die Bewegung prägte und in den Zeitschriften »C-Magazin«, »CE-Info« und »Rundbrief« seinen Niederschlag gefunden hat, völlig unerwähnt bleibt. So kann die Darstellung der Geschichte als Referenz für die Ausgestaltung der Kairos-Theologie weder in Hinblick auf die evangelikale Bewegung noch auf die pfingstlich-charismatische Bewegung überzeugen.

Die so entwickelte Kairos-Theologie dient S. dann auch als Referenz für die Beurteilung der Anliegen des Mission Manifest und für die Abwehr der Argumente der Kritiker. Die Kritik am Mission Manifest sieht er aus einer soziologisch gegründeten Methodik gespeist, die auf eine strikte Trennung zwischen Gott und Welt setzt (248 f.). Die Kairos-Theologie geht dagegen davon aus, dass Gott in das Leben von Menschen eintritt, es befreit und verändert (269). So ist positiv zu vermerken, dass S. versucht, die beiden Bereiche des geistlichen Lebens und des theologischen Denkens und Redens zusammenzubringen und seine theologische Rede geistlich zu gründen. Die so gegründete Kairos-Theologie überzeugt daher als Reflexion über persönliche Glaubenserfahrungen und über solche innerhalb einer überschaubaren geistlichen Gemeinschaft (336 ff.), jedoch nicht bei dem Versuch, solche Erfahrungen, historisch wie systematisch, als überindividuelle Erfahrungen einer ganzen Bewegung abzusichern (sogenannte »CEK-Christen«: Charismatisch, Evangelikal, Katholisch) und diese zur Grundlage einer theologischen Konzeption zu erklären. Die Unterschiede zwischen den jeweiligen analysierten Traditionen treten deutlich zu Tage und können von S. nur durch Auslassen oder Umdeuten bewältigt werden. Dies hat auch Auswirkungen auf den Versuch, die Anliegen des Mission Manifest mit der Kairos-Theologie zu deuten. Wo beides nicht zur Deckung gebracht werden kann, wird aus einer vermeintlich höheren Position heraus kritisiert (235–239) oder weggelassen (These 9).

So kann diese Kairos-Theologie als theologische Reflexionsarbeit eines Laienzusammenschlusses im Sinne Johannes Paul II. gesehen werden (Christifideles laici). Sie folgt damit in gewisser Weise dem Weg der Katholisch-charismatischen Erneuerung, deren Versuch der Erneuerung der gesamten Kirche im charismatischen Sinne (Heribert Mühlen) ebenfalls scheiterte zugunsten des Verständnisses als einer Bewegung unter vielen innerhalb der Kirche.