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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

110–111

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Böttigheimer, Christoph

Titel/Untertitel:

Die Reich-Gottes-Botschaft Jesu. Verlorene Mitte christlichen Glaubens.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2020. 272 S. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783451387548.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

»Ecclesia semper reformanda« – Anlässe, diesen Grundsatz reformatorischer Ekklesiologie zu beherzigen, gibt es derzeit wahrlich genug. Die institutionalisierten und etablierten Kirchen nicht nur in West- und Mitteleuropa stecken schon seit Langem in einer Krise, und zwar äußerlich wie innerlich: äußerlich, was ihr oft anstößiges Erscheinungsbild in der öffentlichen Wahrnehmung betrifft, und innerlich im Blick auf ihr fragwürdig gewordenes theologisches Selbstverständnis im Kontext einer pluralen, post-modernen, ja post-christlichen Gesellschaft angesichts von Traditionsabbrüchen, Relevanzverlust und eklatanten Kommunikationsproblemen. Reformpapiere und Visionen einer anderen, zeitgemäßen Kirche gibt es reichlich. Aber es geht nicht darum, kurzlebigen Trends hinterherzulaufen und punktuell auf kontingente Kritik zu reagieren. Vielmehr geht es darum, sich darauf zu besinnen, was Kirche eigentlich ist und ausmacht, und zwar in einer Welt, die sich gerade fundamental verändert. Was ist hier und heute ihre Kernbotschaft?
Christoph Böttigheimer, Professor für Fundamentaltheologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, geht in seinem Buch dieser Frage in vier gut lesbaren Kapiteln ebenso kenntnisreich wie informativ nach und stellt fest, dass »die Mitte« des christlichen Glaubens verloren gegangen oder zumindest in den Hintergrund geraten sei (11 ff.). Diese Mitte ergebe sich aus der »Botschaft Jesu« (Kapitel A), und diese bestehe in der wirkmächtigen Ankündigung des nahe herbeigekommenen Reiches Gottes.
Allerdings hat es auch seine Gründe, warum diese Reich-Gottes-Botschaft im Glaubensleben der meisten kaum noch präsent ist. Vor allem die ursprüngliche Überzeugungskraft der Rede von der »Nähe« des Gottesreiches und die entsprechend intensive Erwartung der baldigen Parusie Christi haben im Laufe von rund zwei Jahrtausenden der Christentums- und Kirchengeschichte doch – abgesehen von einigen Ausnahmen in eher sektiererischen oder schwärmerischen Kreisen (159) – erheblich nachgelassen. Die Genese und Problematik dieser beiden Glaubensinhalte bedenkt B. als jeweiliges »Fragezeichen« in Kapitel B und C. Was leider statt der verblassten, aber doch für den christlichen Glauben essentiellen Reich-Gottes-Verkündigung Jesu seit und mit Paulus in die Mitte des christlichen Glaubens gerückt sei, ist B. zufolge die Betonung von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi im Kontext von hamartiologischen Kategorien wie Schuld und Sühne, Opfer und Stell-vertretung (143 ff.210.224). Deren Entwicklung erörtert B. ebenfalls unter dem Vorzeichen ihrer Fraglichkeit im vierten und letzten Teil seines Buches: »D. Fragezeichen: Kreuzestheologie«. Ein hilfreiches Literatur-, Bibelstellen- und Personenverzeichnis rundet das Buch ab, das zwar mit offenen Fragen endet (237 ff.), aber zum Schluss doch eine eindeutige Empfehlung gibt.
Nun ist es allerdings immer riskant, von einer »Mitte« des christlichen Glaubens zu sprechen, die »verloren« gegangen sei, und eine solche dann auch inhaltlich zu benennen und deren Revitalisierung als mögliches Remedium für festgestellte aktuelle Kirchen- und Glaubenskrisen zu empfehlen (146 f.154). Die sich spätes-tens seit und mit dem Historismus am Übergang des 19. ins 20. Jh. allmählich durchsetzende Wahrnehmung eines von Anfang an gegebenen Pluralismus und damit auch Relativismus christlicher Vorstellungen und Überzeugungen schon innerhalb der biblisch-kanonischen Traditionen, noch deutlicher dann unter Einbeziehung auch außer-kanonischer Texte, geschweige denn in weiteren und keineswegs linearen dogmen- und theologiegeschichtlichen Entwicklungen lässt es eigentlich nicht (mehr) zu, von »einer« oder sogar »der« Mitte »des« christlichen Glaubens zu sprechen, auch wenn die Suche danach verständlich ist.
Entsprechend löst sich bei näherem Zusehen auch »die« jesuanische Botschaft von der Nähe des Reiches Gottes als Botschaft »von der bedingungslos liebenden, gnadenvoll-rettenden Zuwendung Gottes zu den Menschen« (19) in unterschiedliche, kaum miteinander zu harmonisierende Perspektiven auf – ganz abgesehen von der alten Frage, ob und inwiefern wir hier überhaupt mit Sicherheit von einer »jesuanischen« Botschaft ausgehen und diese zum theologischen Maßstab nehmen können. So zeigt gerade B.s exegetisch umsichtige, sorgfältige und differenzierte Zusammenstellung der Reden vom nahe herbeigekommenen Reich Gottes zwischen Zusage und Realität, Gegenwart und Zukunft, Möglichkeit und Wirklichkeit, Transzendenz und Immanenz, Individualität und Universalität, kosmischer und anthropologischer Erlösungsperspektive, Synergismus und Monergismus, Diskontinuität und Kontinuität, präsentischer und futurischer Eschatologie (wobei B. durchgängig nicht zwischen »eschatisch« und »eschatologisch« unterscheidet), wie wenig greifbar dieses Konzept für uns eigentlich ist. Schnell von »Dialektik« und »Geheimnis« zu sprechen (110 f.), hilft hier nicht wirklich weiter. Es ist eine Problemanzeige, aber bringt »nichts Erhellendes« (113).
Dass es schon unter der ersten Christengeneration zu einer enttäuschten Naherwartung angesichts einer nicht mehr plausibel zu erklärenden Parusieverzögerung gekommen ist, ist dann in gewisser Weise konsequent. »Ebenso ist exegetisch nicht eindeutig zu beantworten, ob sich Jesus selbst mit dem kommenden Menschensohn identifiziert hat, dessen Parusie in seiner Reich-Gottes-Botschaft anklingt.« (69) Ob es sich wirklich empfiehlt, angesichts eines solchen entweder ernüchternden oder verwirrenden exegetischen Befundes dieses Theologumenon als alles tragende und orientierende »Mitte« des christlichen Glaubens festzustellen und zu empfehlen (130), um gegenwärtigen Kirchen- und Glaubenskrisen begegnen zu können? Ist die uns so unausgeglichen überlieferte Botschaft vom nahe herbeigekommenen Reich Gottes und von der baldigen Parusie Christi nicht eher Teil des Problems statt der Lösung?
B. »sensibilisiert« auf jeden Fall für die richtigen Fragen (243) und regt zum Weiterdenken an (344). Aber er überschätzt möglicherweise die Tragfähigkeit seiner vorgeschlagenen Antworten. Vielleicht könnte man, statt in problematischen Alternativen von jesuanischer Reich-Gottes-Botschaft einerseits und paulinischer Kreuzestheologie andererseits Ursachen oder Lösungen von aktuellen Kirchen- und Glaubenskrisen zu suchen (240), dasjenige in den Vordergrund stellen, was jeweils und gemeinsam zur Sprache gebracht werden soll und heute vielleicht in neue Sprachformen gebracht werden muss, nämlich, wie B. mit Recht hervorhebt, die allversöhnende Proexistenz Gottes den Menschen und der Welt gegenüber (231.234), deren Erkenntnisgrund das Leben und Sterben Jesu Christi ist.