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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

29–31

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Delgado, Mariano, u. Volker Leppin [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Bilder, Heilige und Reliquien. Beiträge zur Christentumsgeschichte und zur Religionsgeschichte.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag; Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 446 S. m. 30 Abb. = Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte, 28. Geb. EUR 84,00. ISBN 9783796541988 (Schwabe); 9783170393325 (Kohlhammer).

Rezensent:

Peter Gemeinhardt

Die materiellen und visuellen Aspekte christlicher Frömmigkeit finden gegenwärtig verstärkt Aufmerksamkeit. Das Zusammenspiel von Bildern und Artefakten sowie Körperreliquien mit Vorstellungen von Sakralität lässt sich im Christentum in unterschiedlichsten Konstellationen beobachten. Der vorliegende Sammelband bietet dazu aus der ganzen Christentumsgeschichte Einblicke und wirft vergleichende Blicke auf andere Religionskulturen wie das Judentum und den Islam, indigene Religionen Südamerikas und den Buddhismus sowie Säkularisierungen religiöser Materialität in Kommunismus und Nationalsozialismus. Mit sieben (von achtzehn) Beiträgen liegt ein gewisser Schwerpunkt in der Frühen Neuzeit.
Eine erste Abteilung widmet sich »Bibel und Antike«. Hier analysiert Lutz Doering (21–48) das Bilderverbot im frühen hellenistischen und rabbinischen Judentum und kommt zu dem bemerkenswerten Befund, dass Kult- und Götzenbilder kritisiert wurden, das Judentum das biblische Bilderverbot aber erst spät radikal deutete und auch entspannte Umgangsformen mit Bildern erkennbar sind (42 f.). Die frühen Christen, mit denen sich Gregor Emmenegger (49–68) beschäftigt, waren ebenfalls nicht allesamt Bilderfeinde; hier war Tertullian einmal mehr die Ausnahme, indem er das Verbot in Ex 20,4 seinen christlichen Lesern einzuschärfen versuchte (54). Frühe Christusbilder bis hin zum Abgarbild folgten der Tradition antiker Kultbilder (58 f.); erst darauf richtete sich die Bilderkritik, aus der dann der Ikonoklasmus erwuchs. Auch Hartmut Leppin (»Heiligkeit und Macht in der Spätantike«, 69–84) erwähnt das Abgarbild (74), hier als Machtressource im Kontext einer Geschichte wundersamer Hilfeleistungen von Heiligen; er analysiert daneben auch lebende Heilige als Quelle von Faszination, aber auch von Beunruhigung ob ihrer nicht zu kontrollierenden Macht.
In der Abteilung »Mittelalter« diskutiert Vasile-Octavian Mihoc (87–111) die Entwicklung christlicher Bilderverehrung in frühislamischer Zeit, zumal die »kontextuelle Bildertheologie« (109) des arabisch schreibenden Theodor Abū Qurrah. Andreas Odenthal fragt nach der »Genese der ›Sakralität‹ mittelalterlicher Kirchenbauten« (113–139) und kommt zu dem Schluss, dass dieser Prozess sich der sukzessiven Ausstattung von Kirchen mit Reliquien verdankte, die selbst »liturgiegenerierend« tätig wurden (126) und durch ihre Vielzahl den Kirchenraum parzellierten, dessen »Sakraltopographie« wiederum in der Stationsliturgie inszeniert wurde (136 f.). Volker Leppin (141–156) analysiert die Stigmatisierung des Franz von Assisi als Paradigma der neuen Idee von repraesentatio Christi im 13. Jh., für die »die Identifikation mit der Passion Christi auch ohne Marty-riumskonstellation ein gängiges Modell« wurde (149), wobei die Christusrepräsentation durch ethische Nachfolge Jesu wie bei Elisabeth von Thüringen eine legitime Alternative blieb (153).
Die Abteilung »Frühe Neuzeit« beginnt mit einem Text des jüngst verstorbenen Peter Walter über Heiligenverehrung im Urteil des Erasmus von Rotterdam (159–179), dem sachlich die Beiträge von Mariano Delgado über die »Heiligsprechung und kirchliche Do­-mestizierung« der Teresa von Ávila (247–264) und von Ines Weber über die Verehrung von Heiligen und Reliquien in der katholischen Aufklärung (287–305) zur Seite zu stellen sind, ebenso der der »Mo­derne« zugeordnete Aufsatz von Markus Ries über »Neobarocke Heiligkeit« (309–321) im 19. Jh. Aus diesen Texten ergibt sich en passant eine knappe Geschichte der römisch-katholischen Heiligenverehrung in ihrer fortwährenden Strittigkeit; darauf verweisen die fortwährende Verfeinerung kanonischer Verehrung und die zeitwei-sen Konjunkturen von Kanonisationen bestimmter Heiligentypen, aber auch die Inszenierungen der Erhebung von Heiligen zu den Ehren der Altäre in posttridentinischer Zeit, wie Claudia Gerken (265–285) u. a. an der 1622 erfolgten Heiligsprechung des Filippo Neri zeigt: Dessen Grabkapelle sollte die »schönste und am reichsten ausgestattete Kapelle Roms werden«, zur wichtigsten Reliquie wurde seine Totenmaske, die ein authentisches Bild des Heiligen gewährleistete (270.276). Damit werden die drei Komponenten im Titel des Bandes als Momente der Etablierung eines neuen Heiligen anschaulich.
Vielleicht ist es dem Schweizer Tagungsort geschuldet, dass die lutherische Hagiographie (einschließlich der »Berührungsreliquien« Luthers) nicht zur Sprache kommt. Behandelt wird von Martin Sallmann der Umgang mit Heiligen und Bildern in der Schweizer Reformation (181–198) und von Andrea Strübind die Bilderkritik in den täuferischen Bewegungen (199–221), wobei auch hier die Schweiz zu Recht eine wichtige Rolle spielt, der Kulminationspunkt aber in der planmäßigen (nicht eigentlich »stürmerischen«) Bilderentfernung im Münsteraner Täuferreich lag (218 f.). Thomas Lau (223–246) zeigt, dass in der anglikanischen Kirche des 16. und 17. Jh.s das Verständnis von Heiligkeit eine wichtige, aber vielfach gebrochene Rolle spielte (229), was – ohne den Begriff zu gebrauchen – auch für die reformierte Martyrologie des John Foxe (234) galt. In hochkirchlichen Gruppen wurde die Abgrenzung gegen Rom artikuliert, aber bezüglich der Heiligen teilweise die klassische Lehre perpetuiert (236 f.). Das 1653 einberufene purita-nische »Parlament der Heiligen« verdankte sich wiederum einem präsentisch-eschatologischen Heiligenbegriff (243). Diesem Beitrag über den Anglikanismus entspricht der auch konfessionskundlich informative Text über die Heiligenverehrung in den Kirchen der Orthodoxie (Augustin Sokolovski, 323–337), der den bekannten Be­fund bestätigt, dass Heilige hier zwar förmlich kanonisiert werden, ohne dass es ein zentrales Verfahren für die Gesamtorthodoxie gäbe, und dass die konkrete Praxis vom römisch-katholischen Kanonisationsverfahren signifikant unterschieden ist. In einem nur scheinbar abseits stehenden Beitrag untersucht Tim Lorentzen »Reliquien in der totalitären Geschichtspolitik« (339–369) und identifiziert als Strategien »Zerstörung«, »Umdeutung« sowie die Begründung »neuer Kulte«, exemplifiziert am brutalen Vorgehen gegen Reliquien in der russischen Revolution, an der nationalsozialistischen Usurpation mittelalterlicher Fürstengräber in Braunschweig (Heinrich der Löwe) und Quedlinburg (Heinrich I.) sowie an der Etablierung von Gedenkorten für die Toten des Hitler-Putsches von 1923 und für den seit 1924 einbalsamierten und ausgestellten Lenin – der die Exhumierung von Heiligen betrieben hatte und nun angesichts seines unverweslichen Leichnams als Quasi-Heiliger verehrt wurde (357). An dieser säkularisierten Reliquienverehrung zeigt sich nochmals die Fruchtbarkeit der Leitfrage nach der Materialität und Visualität von Heiligkeit.
Das Miteinander von Bildern, Heiligen und Reliquien wird in den Beiträgen unterschiedlich angegangen, entsprechend der disziplinären Verortung der Autorinnen und Autoren sowie den Schwerpunkten ihrer Arbeit. Die überwiegend hohe individuelle Qualität der Beiträge macht den Band überaus lesenwert. Eines sei zu bedenken gegeben: Die Herausgeber haben darauf verzichtet, den Einzelbeiträgen ein theoretisches Gerüst mit auf den Weg zu geben, was bei einem Begriff wie »heilig«, der seit jeher kontrovers diskutiert wird, auffällt. Nicht zufällig nimmt der religionswissenschaftliche Beitrag, der Heiligkeitsvorstellungen im Buddhismus und im Christentum untersucht ( Johann Figl, 403–425), für »die christliche Sicht« Texte des Tridentinums zum Maßstab (423 f.), die innerchristlich gerade nicht unumstritten sind. Josef Estermanns Beitrag über »transkulturelle Heilige und ihre Darstellung im andinen Kontext« (371–401), d. h. zu Überblendungen von Maria und Pachamama (der »Mutter Kosmos«, 374), legt hierfür das zeitgenössische römisch-katholische Heiligenverständnis zugrunde, das sich allerdings seit der Frühen Neuzeit wandelte (s. o.). Ungefragt bleibt, ob im Protestantismus nicht mehr über Bilder, Heilige und Reliquien zu sagen ist, als man in den Standardwerken liest – gerade angesichts von Monumentalisierungen gewisser Reformatoren oder einem allgemeinen Trend zur visuellen Inszenierung, nicht erst im 20. Jh. Es bleibt trotz der konzisen Einleitung der Herausgeber (11–17) den Leserinnen und Lesern überlassen, rote Fäden zwischen den Beiträgen und über diese hinaus zu spinnen – wozu, dies sei abschließend betont, reichhaltiges Material (teils auch bebildert!) präsentiert wird.