Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1104–1106

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grill, Lukas

Titel/Untertitel:

Überschießende Kommunikation. Eine Religionstheorie alltäglicher Rede.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 554 S. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 95. Kart. EUR 80,00. ISBN 9783525573235.

Rezensent:

Manuel Stetter

Dass Religion nicht in einem eindeutig abgrenzbaren Bezirk des gesellschaftlichen Lebens aufgeht, sondern auf vielschichtige Weise in die Breite der kulturellen Praktiken eingelagert ist, gehört zu den Grundprinzipien der neueren praktisch-theologischen Forschung. Insbesondere dort, wo sich die Praktische Theologie kulturhermeneutisch profiliert, gilt der Blick allein auf Phänomene expliziter Religion oder gar nur kirchlich verantworteter Religionspraxis als Verkürzung, die eine adäquate Erschließung der christlichen Religion unter den pluralen Bedingungen der Gegenwart verwehrt. Die ausgezeichnete Arbeit von Lukas Grill, die als Band 95 der Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie erscheint und seine in Frankfurt entstandene Dissertation präsentiert, weiß sich die-sem Verständnis der Praktischen Theologie verpflichtet. Ihre Forschungsfrage richtet sich dabei auf religiöse Aspekte alltäglicher Kommunikation, die am Beispiel des Redens über Arbeit untersucht werden. Obwohl dem Thema ›Arbeit‹ als Gegenstand der analysierten Gespräche durchgängig exemplarische Funktion zukommt, erhält die Studie schon durch die Wahl dieses Sujets einen reizvollen Fokus, hat sich die Praktische Theologie dieser für viele Menschen bedeutsamen Lebenssphäre über die letzten Jahre doch lediglich marginal zugewandt. Das eigentliche Ziel der Studie reicht, wie gesagt, aber darüber hinaus: Anhand des Sprechens über Arbeit wird eine »Religionstheorie alltäglicher Rede« überhaupt anvisiert.
Die trotz ihres Umfangs gut lesbare und bis in die Unterkapitel hinein klar strukturierte Untersuchung gliedert sich in drei Hauptteile. Kapitel 1 ordnet die Forschungsfrage in den praktisch-theologischen Diskurs ein, bietet »Vorüberlegungen« zum Konzept der Religion sowie zur »religionshermeneutischen Relevanz« der Rede über Arbeit und führt die Leser in die Methodik der Studie ein. Kapitel 2 stellt die Ergebnisse der empirischen Analysen vor, die in Kapitel 3 zu einem »religionstheoretischen Modell ›alltäglicher‹ Kommunikation« ausgearbeitet und auf »handlungsfeldbezogene I mplikationen« für drei klassische praktisch-theologische Themenbereiche befragt werden. Ein Fazit resümiert den Untersuchungsgang. In formaler Hinsicht vermisst man lediglich ein Personen- resp. Sachregister.
Vor dem Hintergrund der Forschungsfrage mag die Erhebungsstrategie zunächst überraschen. So werden nicht alltagsweltlich situierte Gespräche über Arbeit untersucht, sondern Interviews mit zehn Forschungsteilnehmenden geführt. Ist dem Vf. mit Nachdruck darin zuzustimmen, dass auch Erhebungen konkreter Alltagspraktiken selbstredend Konstruktionen dar-stellen und keinen unmittelbaren Zugang zu lebensweltlichen Vollzügen eröffnen, sollte der Unterschied zwischen einer Erforschung ›natürlicher‹ Gesprächssituationen im Feld und der Or-ganisation von Interviewsituationen doch nicht vorschnell eingezogen werden.
Entscheidend für den Forschungsansatz der Studie ist, dass die ›Interviews‹ dezidiert als »Gespräche« und insofern kommunikative Interaktionen ernstgenommen und ausgewertet werden. Entsprechend greift die Untersuchung auf Perspektiven der Ethnomethodologie und der darin gründenden Konversationsanalyse zu­rück. Damit ist klar, dass es den Auswertungen nicht darum gehen kann, die subjektiven Sichtweisen und Einstellungen der Interviewpartner herauszuarbeiten. Rekonstruiert werden Re­deweisen über Arbeit, die gemäß dem konversationsanalytischen Zugriff in ihrer performativen Prozessstruktur, pragmatischen Beziehungsdynamik und interaktiven Ko-Konstruktivität analysiert und mikroskopisch auf die »feinsprachlichen Merkmale der Rede von ›Arbeit‹« (95) durchleuchtet werden. Nicht was Subjekte meinen, sondern wie in einem spezifischen Interaktionszusammenhang über Arbeit ge­sprochen wird, arbeiten die Untersuchungen heraus.
Ergänzt werden die Gesprächsanalysen durch Rekurse auf sogenannte »begleitende Theoriemodelle«, die jeweils am Ende einzelner Auswertungsabschnitte aufgerufen werden und »aus unterschiedlichen forschungsgeschichtlichen Epochen und Bereichen: etwa der Linguistik, Altphilologie, Soziologie, Philosophie und Theologie, aber auch aus Dichtung und Literatur« stammen (127). Diese Rekurse folgen nicht der Logik eines hypothesentestenden Verfahrens, sei es, dass sie die Analysen theoretisch bestätigen sollen, sei es, dass die theoretischen Diskurse durch die Analysen zu überprüfen wären. Vielleicht könnte man sagen, dass ihre Funktion eher Herbert Blumers Idee der sensitizing concepts gleicht. Sie eröffnen analytisch fruchtbare Optiken, verweisen auf erkennt-nisproduktive Irritationen, stellen Deutungskontexte bereit und machen nicht zuletzt auch die theoretischen Backgrounds des Forschers transparent und in vorbildlicher Weise selbst zum Gegenstand der Analyse.
Das Ergebnis der Untersuchungen besteht im Kern in der Beobachtung, dass das Reden über Arbeit in mindestens vierfacher Weise »überschießen« kann, das heißt, einen Rahmenwechsel vollzieht, in dem das Sprechen über das, was man »›so macht‹« und »›arbeitet‹« und »wofür [man] sich als ›Expertin‹ sieht« (96), zur sinndeutenden Rede avanciert, in der existenzielle Fragen bearbeitet werden: Fragen »nach Freiheit und Verpflichtung«, »der eigenen Identität«, dem »glückliche[n] Leben« sowie zwischenmenschlichen Beziehungen (375). Gehören diese Themen innerhalb des religionshermeneutischen Diskurses sicherlich zu den vertrauten, als religiös valent erachteten Referenzen, besteht der analytische Gewinn der Studie insbesondere darin, durch den konversationsanalytischen Zugang die diskursive Konstitution solcher Rahmenwechsel im kommunikativen Interaktionsvollzug minutiös nachzuzeichnen und aufzuzeigen, dass es dabei nicht exklusiv um semantische Phänomene geht, sondern kommunikative Vollzüge wie Turnwechsel, Betonungen, Verzögerungen, Sprechrhythmusänderungen, soziale Selbstpositionierungen usw. – also die mikrosprachlichen Performanzen der Alltagskommunikation – religionstheoretisch un­bedingt zu berücksichtigen sind.
Entsprechend zielt auch die religionstheoretische Fortentwicklung der Resultate wesentlich darauf, Religion auch in den alltagskommunikativen Bereichen jenseits expliziter Religion und kirchlicher Praxis einen de-essenzialistischen Zuschnitt zu geben und als erschließungskräftiges Interpretationskonzept prozessualer, performativer sprachlicher Kommunikationsvollzüge zu bewähren, wobei ein ganzes Set theoretischer Bezüge aufgerufen wird (von Cassirer, Barthes und Schleiermacher über Waldenfels, Goffman und Nassehi bis zu Wittgenstein, Eco und Derrida).
Der finale Part der Arbeit gilt der Beschreibung von Konsequenzen für die Erforschung wie Praxis der Seelsorge, Predigt und des Religionsunterrichts. Verkommen solche Schlusskapitel nicht selten zu eilfertigen Anhängseln, gelingt es G., das hohe Reflexionsniveau seiner Studie zu halten und der Komplexität eines jeden dieser Bereiche gerecht zu werden und bedenkenswerte poimenische, homiletische und religionspädagogische Implikationen seiner Un­tersuchung zu markieren. Dabei ist es namentlich das Plädoyer für feinsprachliche Detailanalysen und die Rekonstruktion der Religion als situierte Interaktionspraxis, das es m. E. nur zu unterstreichen gilt! Die analytischen Chancen, die ein solcher Zugang für die praktisch-theologische Religionsforschung besitzt, führt die Studie mit ihrem Blick auf alltagskommunikative Überschussphänomene mustergültig vor Augen.