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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

918–920

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Grundeken, Mark

Titel/Untertitel:

Der eine Gott, der durch alle ist. Epheser 4,6 im Kontext antiker Diskurse über Gott und die Welt.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. IX, 278 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 445. Lw. EUR 124,00. ISBN 9783161593413.

Rezensent:

Lukas Bormann

In Eph 4,6 begegnet eine dreigliedrige Folge von Präpositionalwendungen mit dem Adjektiv πᾶς (»aller«), das im Plural nicht erkennen lässt, ob es sich um ein Neutrum im Sinn von »alles (Seiende)« oder um ein Maskulinum »alle (Menschen/Christen)« handelt. Gerhard Sellin versteht alle drei neutrisch: »der über allem und durch alles und in allem ist«, während Michael Theobald diese »sozial« interpretiert: »der über allen und durch alle und in allen ist«. Ein zusätzliches Rätsel stellt in dieser Abfolge das mittlere Glied διὰ πάντων (»durch alles/alle hindurch«) dar, da es ohne direkte Parallele im Neuen Testament ist.
Die theologische Relevanz dieser exegetischen Problematik liegt in der Frage, ob Gott in Beziehung zu »allem Seienden« (kosmische Deutung) oder zu »allen« Menschen bzw. Christen (ekklesiologische Deutung) steht. Dem Epheserbrief wird in der Regel eine hohe Ekklesiologie, die die Kirche als einen sich auf den Kosmos ausweitenden Machtbereich versteht, attestiert. An Eph 4,6 entscheidet sich demnach auch, ob der monotheistische Gott schöpfungstheologisch mit einem gewissen pantheistischen Einschlag oder als personal-relationaler Gott im Gegenüber zur Kirche vorgestellt werden muss.
Die von der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Freiburg als Habilitationsschrift angenommene Arbeit des dortigen Privatdozenten für Neues Testament Mark Grundeken stellt sich die verdienstvolle Aufgabe, die oben skizzierten Fragen zu beantworten und in die antiken religionsphilosophischen Diskurse einzuordnen. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: I. Einleitung, II. Analyse und III. Konklusion und Ausblick. Zunächst werden die Problemstellung und der Lösungsansatz knapp skizziert. Die Untersuchung werde die Frage, »inwiefern Gott oder das Göttliche διὰ πάντων ist«, als ein »Achsenthema« des antiken Diskurses behandeln, das der Verfasser des Epheserbriefs ekklesiologisch anwende (5). Der umfangreiche »Forschungsüberblick zu Eph 4,6« (7–142) beginnt bei einem Aufsatz aus dem Jahr 1915 von Martin Dibelius und reicht bis zum Kommentar von Elisabeth Schüssler-Fiorenza, der 2017 erschienen ist. Dieser Abschnitt ist chronologisch geordnet und eher additiv als analysierend gehalten. Der Fortschritt oder zumindest die Entwicklung der Forschung werden aufgrund der rein chronologischen Anordnung und der an sich lobenswerten Bemühung, auch Arbeiten, die in »nicht-gängigen Wissenschaftssprachen« abgefasst sind (4), zu integrieren, nicht wirklich fassbar, zumal »nicht ausschließlich historisch-kritische Kommentare« besprochen werden (10), was die Grundsatzfrage, ob es Forschung im eigentlichen Sinn jenseits der historisch-kritischen Methode überhaupt geben kann, berührt. Im Forschungsüberblick wird bisweilen nicht ganz deutlich, welche Abschnitte als Referat zu gelten haben und wo der Vf. seine kritischen Beurteilungen formuliert, etwa zu Sellin (126–128). Da kein Konsens zum Sinn von Eph 4,6 vorliege, sei die erneute Untersuchung gerechtfertigt (142).
In einer knappen Zwischenüberlegung werden die Methode, die als »vergleichend konzeptionelle Analyse« bezeichnet wird (145 f.), und die Einleitungsfragen geklärt: Der Epheserbrief sei ein pseud-epigraphisches Schreiben, das »in den späteren Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts« entstanden sei und sich an ein »geistig-soziales Milieu« der Gebildeten richte (148, vgl. 226). Welche Vorstellungen vom Abfassungsort und von den Adressaten des Epheserbriefs zugrunde liegen, wird nicht direkt erläutert, da der Epheserbrief als »literarisches Konstrukt« und nicht als echter Brief angesehen wird (147).
Der zweite Teil (149–226) wendet sich einigen gut ausgewählten antiken Texten zu, die für das Verständnis von Eph 4,6 hilfreich sind. Mit einiger Spannung verfolgt man die anregenden vergleichenden Interpretationen der Quellen. In den pseudo-pythagoreischen Goldenen Versen (Carmen aureum) komme die Wendung διὰ πάντων zwar nicht vor, aber in V. 49b–51 werde festgehalten, dass die »göttliche σύστασις alles durchwaltet« (162). Allerdings schwanken die möglichen Übersetzungen von σύστασις zwischen »Essenz«, »Beziehung« und »Natur« (152 f., Anm. 17). Sie wird zudem nicht als »göttlich« bezeichnet, sondern steht zwischen Göttern und Menschen, so dass der Vf. zu Recht nur zurückhaltend von »wesentlichen Berührungspunkten« mit Eph 4,6 spricht (162). Das umfangreiche Werk Plutarchs gibt terminologisch und konzeptionell etwas mehr für die Fragestellung her. In moralia 1002c2–3 heißt es, Gott strecke die Seele »durch alles« ( διὰ παντός) aus (169). Ähnliche Wendungen begegnen mit Blick auf die »Vernunft« (νοῦς) und die »Kraft« (δύναμις). Im Einheitsgedanken, in der Bezeichnung Gottes als »Vater aller« und weiteren Aussagen ist die konzeptuelle Nähe zu Eph 4,6 zu fassen. Das Werk Plutarchs weise demnach »signifikante Konvergenzen« zu Eph 4,6 auf (181). Die pseudo-aristotelische Schrift »Über die Welt« (περὶ κόσμου) teilt mit, dass die (göttliche) »Kraft« (δύναμις) und der »Geist« (πνεῦμα) »durch alles hindurch« (διὰ πάντων) wirken (184–186). Im Zeushymnus des Kleanthes wiederum wirken der Logos und Gott als König »durch alles hindurch« (διὰ πάντων/διὰ παντός) (198–200). Bei Philo schließlich lassen sich »alle Elemente« von Eph 4,6 finden (224). Über die genannten Belege hinaus werden zwei weitere sehr aufschlussreiche Texte eher am Rande erwähnt (163 u. 210): Der 58. Brief des Apollonius von Tyana enthält eine dreigliedrige All-Aussage (πᾶσι γινομένη πάντα διὰ πάντων, θεὸς ἀίδιος) und in Lukians Hermotimos 81 wird gesagt, dass »Gott alles durchwaltet« (ὁ θεὸς […] διὰ πάντων πεφοίτηκεν).
Im sehr knappen dritten Teil (229–234) gelingt es der Arbeit auf der Basis dieser Analysen, Eph 4,6 in den antiken kosmotheologischen Diskurs, der die göttliche Superiorität und Immanenz reflektiere, einzuordnen. Aus dem antiken Topos (»Achsenthema«) werde in Eph 4,6 das philosophische Motiv entnommen und nicht wie dort kosmisch, sondern »innovativ« ekklesiologisch angewendet. Das εἷς θεὸς … ὁ … διὰ πάντων sei biblisch nicht abzuleiten und gehöre zum »Eigenprofil des Eph« (229), um auszudrücken, »dass Gott allen Glaubenden übergeordnet ist, alle Glaubenden durchdringt und in allen Glaubenden wirksam ist« (226). Dem korrespondiere die Vorstellung von der Einheit Gottes, aus der die »Einheit der Christenheit als Kirche« folge, deren »Spaltung« ein Verstoß gegen die göttliche Ordnung sei (226).
Die sorgfältige und fokussierte Analyse dieser bedeutsamen religiös-philosophischen Texte ist überzeugend. Es gelingt dadurch, die eigenwillige Denkweise in Eph 4,6 durch eine diskursive Kontextualisierung plausibel einzuordnen. Angesichts der Breite der behandelten Texte wird man hier und dort auch etwas anders entscheiden, etwa zur Bedeutung von σύστασις (s. o.) oder in der Frage, ob Philo philosophisch oder »jüdisch« denkt (213). Auch die konzeptuelle Nähe der behandelten Texte zu Eph 4,6 kann man etwas skeptischer beurteilen, zumal die kurze Wendung in Beziehung zu teilweise umfangreichen Gesamtwerken (Plutarch, Philo) gestellt wird. Da die angeführten Belege eine kosmische Deutung nahelegen, trägt eine eher beiläufige Interpretation des Kontextes in Eph 4,1–16 die Hauptlast der Argumentation für die vorgeschlagene ekklesiologische Lösung. Angesichts der gewichtigen Gegenargumente gegen diese Deutung hätte an dieser Stelle eine vertiefte Auseinandersetzung mit der neutestamentlichen Forschungsliteratur geführt werden müssen, um die These der Arbeit, dass Eph 4,6 in allen drei All-Aussagen die Glaubenden der einen Kirche an­spricht, überzeugend durchzuführen. Es bleibt aber das große Verdienst dieser eindrucksvollen Arbeit, dass sie antike religionsphilosophische Texte zur Frage der Beziehung von Gott und Welt für die neutestamentliche Wissenschaft neu erschlossen hat.