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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

807–811

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hensel, Benedikt

Titel/Untertitel:

Juda und Samaria. Zum Verhältnis zweier nach-exilischer Jahwismen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XV, 487 S. = Forschungen zum Alten Testament, 110. Lw. EUR 129,00. ISBN 9783161549052.

Rezensent:

Christoph Levin

Die Mainzer Habilitationsschrift von 2016 behandelt in einem groß angelegten Forschungsüberblick das klassische Problem des Süd-Nord-Konflikts, das die Geschichte Israels und Judas stets und be­sonders auch in der persischen und hellenistischen Zeit bestimmt hat, und berücksichtigt dabei insbesondere die neueren Ergebnisse der Archäologie auf dem Garizim, die Text- und Münzfunde aus jüngerer Zeit sowie die gewandelte geschichtliche Einordnung der biblischen Quellen. Die große Leistung besteht in der Ordnung des Materials zu einem Gesamtbild vornehmlich für das 3. und 2. Jh. Welche Mengen Benedikt Hensel bewältigt hat, zeigt das Literaturverzeichnis von nicht weniger als 55 eng bedruckten Seiten. Die Untersuchung ist auch für das Verständnis der Prozesse von Be­lang, die zur Formierung des Judentums im hellenistischen Jerusalem geführt haben.
Die Grabungen zwischen 1983 und 2003 unter Leitung von Yitzhak Magen haben auf dem Garizim ein großes Heiligtum nachgewiesen, das im 5. Jh. gegründet wurde. Mit Beginn der seleukidischen Zeit um 200 wurde es erheblich erweitert. Eine Tempelstadt kam hinzu. Es dürfte den Tempel in Jerusalem lange Zeit an Bedeutung übertroffen haben. Um das Jahr 111 wurde es durch Johannes Hyrkanus zerstört. Die Ausgräber erschließen aus den Spuren der Opferpraxis, aus den etwa 400 Weiheinschriften und aus den darauf belegten Personennamen, dass auf dem Garizim ein Jahwe-Kult stattfand, der den Maßstäben der Tora genügte. Die Kultteilnehmer kamen aus der weiteren Umgebung und verstanden sich als Israeliten. Wie zwei Inschriften von der Insel Delos belegen, gab es sogar eine samaritanische Diaspora. Weitere Kunde liefern für die Jahre 375–332 die Papyri, Siegel und Münzen, die seit 1962 im Wadi ed-Daliyeh gefunden wurden und aus Samaria stammen. Diese Urkunden bezeugen eine Art der Rechtspflege, die auch für Juda belegt ist. Der archäologische und epigraphische Gesamtbefund zeigt eine kulturelle Kontinuität vom 8. bis ins 2. Jh., die trotz der Eroberungen und der wechselnden Oberherrschaft keine größeren Brüche aufweist. Die durch die Assyrer ins Land gebrachten Neusiedler haben keine nennenswerten Spuren hinterlassen. Auch lassen sich kaum Unterschiede zwischen Samaria und Juda feststellen, bei einem zunächst deutlichen Übergewicht des Nordens. Die theophoren Eigennamen bezeugen eine gewisse religiöse Vielfalt, aber die Mehrzahl beziehen sich auf Jahwe. Darunter finden sich nicht wenige Namen, die aus der biblischen Überlieferung geläufig sind. »In persischer und hellenistischer Zeit unterschieden sich die Bewohner Samarias und Jehuds in kulturellen und religiösen Vorlieben kaum voneinander« (144). Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass die Vertreter der jüdischen Gruppe auf Elephantine sich sowohl nach Jerusalem als auch nach Samaria um Unterstützung wandten.
Für den Befund haben in jüngerer Zeit Magnar Kartveit, Jan Dušek und Gary Knoppers je auf ihre Weisen ein Gesamtbild erarbeitet. Daraus folgt, wie H. nunmehr mit Nachdruck herausstellt: »Im Gegensatz zur alttestamentlichen Darstellung war Samaria für Juda in der Perserzeit und darüber hinaus eine ernst zu nehmende Größe, mit der man sich politisch, kulturell, vor allem aber auch theologisch auseinandersetzen musste« (189). Dabei beschränkt H. den Blick nicht auf die judäische Auseinandersetzung mit dem Norden, sondern behauptet sogar eine »immens wichtige Rolle Samarias bei der Literaturgenese der alttestamentlichen Schriften« (172). »Erst im Zuge der Trennungsprozesse in hasmonäischer Zeit« habe sich die Überlieferung gespalten.
Der Beweis wird auf positivem wie negativem Weg gesucht. Auf positivem Weg, indem dem Norden eine maßgebende Beteiligung an der Entstehung des Pentateuchs zugeschrieben wird, auf negativem Weg, indem die anti-samaritanische Polemik, die sich in den Büchern Esra/Nehemia und in der Chronik sowie in 2Kön 17,24–41 findet, in die fortgeschrittene hellenistische Zeit herabdatiert und teilweise auch relativiert wird.
Für die Hypothese eines »gemeinsamen Pentateuchs«, den er als »Kompromiss-Dokument« zwischen Samaria und Jerusalem deutet, macht H. geltend: (1.) In Qumran haben sich 16 Manuskripte gefunden, die einen präsamaritanischen Texttyp vertreten (173 ff.). (2.) Es gibt gute Gründe, dass in Dtn 27,4 ursprünglich »Garizim« statt »Ebal« zu lesen war (176 f.). (3.) Die Zentralisationsformel wird im samaritanischen Pentateuch mit dem hebräischen Perfekt gebildet. Im masoretischen Text wurde sie ins Imperfekt geändert, um auf den im Königebuch berichteten Tempelbau vorauszuweisen (178 f.). (4.) Der Zusatz Ex 20,24b zum Altargesetz des Bundesbuches: »An jedem Ort, wo ich meines Namens gedenken lasse, will ich zu dir kommen und dich segnen«, richtet sich gegen den Alleinvertretungsanspruch des Zentralheiligtums (180). (5.) Die Josefsgeschichte »chiffriert im Modus der Brudererzählungen einen Konsens […] zwischen Juda und Samaria […] Die Pointe der Gesamterzählung liegt gerade darin, dass es ohne Joseph, d. h. ohne die samarische Kultgemeinde, auch kein ›Gesamt-Israel‹ geben kann« (186 f.).
Die wenigen Beobachtungen können die weitreichende These nicht tragen. (5.) Die Josefsgeschichte ist keine »Joseph-Juda-Ge­schichte«, weder vom Ursprung des Stoffes her noch in der vorliegenden Fassung. Die Rolle Judas ist nicht zentral und wird es auch nicht, wenn man Gen 38 zum »integrierenden Bestandteil« erklärt (183, Anm. 791). In den Nachträgen, auf denen das stämmegeschichtliche Verständnis wesentlich beruht, ist Ruben der Sprecher der Brüder. Dass Josef die samaritanische Kultgemeinde repräsentiert, bleibt Behauptung. (4.) Die Samaritaner haben das Zentralheiligtum nicht abgelehnt, sondern auf den Garizim bezogen. Der antideuteronomische Zusatz Ex 20,24b vertritt die Belange der Diaspora, nicht der (Prä-)Samaritaner. (2.–3.) Die textgeschichtlichen Indizien sind im Verhältnis zur Menge des Textes verschwindend gering. (1.) Die Pluralität der Textfassungen in Qumran entscheidet nicht über deren Herkunft, wenn nicht der Kontext sogar für den Süden spricht.
Gemessen an dem jahrhundertelangen literarischen Prozess, in dem der Pentateuch heranwuchs, lässt sich die fast vollständige Übereinstimmung von samaritanischem und masoretischem Text nur so erklären, dass er aus einem einzigen Ursprungsort stammt. Der Text muss nach dem weitgehenden Abschluss seiner literarischen Entwicklung entweder aus Samaria nach Juda oder aus Juda nach Samaria gelangt sein. Unter dieser Bedingung kommt allein der judäische Ursprung ernstlich in Betracht. Denn der Pentateuch in der Spätform, die Juden und Samaritanern gemeinsam ist, ist nicht als solcher entstanden. Er ist der abgeschnittene Anfang eines religiösen Literaturwerks, das sich in den Büchern Josua bis Könige fortsetzt, die eindeutig den judäischen Gesichtspunkt vertreten. Man kann über den Pentateuch nicht handeln, ohne wenigstens die Hexateuch-Theorien im Ansatz zu diskutieren.
Gewiss bewahrt die Bibel umfangreiche Überlieferungen, deren Ursprung im Norden liegt. Teile der Vätergeschichten spielen im Norden, und auch die Bücher Richter, Samuel und Könige enthalten nicht wenig Material, das auf das Archiv der Könige von Israel zurückgehen muss. Weil diese Texte der späteren Redaktionsgeschichte vorangehen, sind sie wahrscheinlich im ausgehenden 8. oder im 7. Jh. nach Juda gelangt. Ihre weitere Tradierung geschah in Juda. Die den Norden einschließende Konzeption eines Gesamt-Israel ist eine judäische Fiktion, die den judäischen Anspruch vertritt. Das Rätsel, wie es möglich war, dass Juden und Samaritaner trotz ihrer im 2. Jh. gewachsenen Unversöhnlichkeit eine nahezu identische Tora lasen, lässt sich auf diese Weise nicht lösen. Die These: »Die samarischen JHWH-Verehrer sind keine ›Zweitverwerter‹ eines eigentlich judäischen Dokumentes« (190) ist wenig wahrscheinlich.
Was uns der außerbiblische Befund lehrt, ist die Konkurrenz zweier Zentral-Heiligtümer auf dem Boden Palästinas in persischer und hellenistischer Zeit. Dabei ist ungewiss, ob das südliche Heiligtum zunächst eine nennenswerte Rolle gespielt hat. Für den Betrieb eines solchen überörtlichen Heiligtums bedurfte es möglichst vieler Kultteilnehmer, aber weder einer »Gemeinde«, wie H. in Übernahme des biblischen Bildes vom Gottesvolk annimmt, noch eines umfangreichen Schrifttums. In dem Wettbewerb um die Kultteilnehmer war ein Konflikt angelegt. Dass der Zion und der Garizim (und weitere Heiligtümer) einigermaßen schiedlich neben- und miteinander bestanden (195–230), ist allenfalls plausibel, solange sich ihre Bedeutung in engen Grenzen hielt. Der Ausbau des Garizim in seleukidischer Zeit und der Aufstieg Jerusalems in derselben Epoche mussten zu einem scharfen Wettbewerb führen.
Dieser Wettbewerb dürfte ein Beweggrund unter vielen gewesen sein für die Produktion des religiösen Schrifttums in Jerusalem. Die Behauptung: »In der hellenistisch-jüdischen Literatur lassen sich vor hasmonäischer Zeit keine Polemiken gegenüber Samaritanern finden« (207), trifft allenfalls zu, wenn man sich auf die expliziten Erwähnungen beschränkt. »Es hat sich gezeigt, dass die nach-exilische, biblische Literatur als äußerst wichtige Quelle für das hier zu beschreibende Verhältnis der samarischen und judäischen JHWH-Verehrer gelten darf« (391) – zweifellos, aber dafür genügt es nicht, sich wie H. auf den Pentateuch, Esra-Nehemia, die Chronik und 2Kön 17,14–41 zu beschränken. Es erstaunt, dass diese einschlägige Untersuchung einen Text wie Ps 78,65–72 nicht einbezieht. Man sehe auch die Süd-Nord-Polemik des Hoseabuchs, die nicht davor zurückscheut, auf »Efraim« die Fremdvölker-Polemik anzuwenden, zugleich aber versucht, zwischen Bevölkerung und Klerus einen Keil zu treiben und die potentiellen Kultteilnehmer abzuwerben. Das kann so wenig aus dem 8. Jh. stammen wie die wütende Polemik, die in den Büchern Jesaja und Micha mit der Zions-Theologie einhergeht. Solche Texte sind kein Zeichen der Stärke, sondern eher ein Beleg, dass man in Jerusalem gegen die Überlegenheit des Nordens anschrieb. Aus Samaria oder vom Garizim ist nichts Vergleichbares überliefert – vielleicht weil es verloren ist, vielleicht auch, weil man dergleichen nicht nötig hatte. H. ist schwerlich im Recht, wenn er die offene Rivalität auf das 2. Jh. beschränken will. In hasmonäischer Zeit eskalierte sie nur, bis der Süden sogar die Macht hatte, die Konkurrenz zu zerstören.
Im Recht ist H., wenn er der Abgrenzung zwischen Süd und Nord eine wesentliche Bedeutung für die Entstehung des religiösen Gruppenbewusstseins auf beiden Seiten zuschreibt. Der Prozess dürfte aber vielschichtiger gewesen sein und weitere Faktoren gehabt haben. Zwar ist im Anschluss an Sebastian Grätz und Dirk Schwiderski der Spätdatierung der Bücher Esra-Nehemia zuzustimmen und damit das traditionelle Bild des 5. Jh.s zu korrigieren; aber die geschilderten Konflikte lassen sich nicht auf das Süd-Nord-Schema beschränken, wie H. es gegen Bob Becking sogar mit der Mischehen-Thematik versucht. Wenn die Galut-Theologen ihre Anhänger aufforderten, sich von den »Völkern des Landes« abzusondern, war damit die judäische Bevölkerung gemeint. Die Fiktion des leeren Landes, die in Esra-Nehemia und Chronik das Bild beherrscht, wurde erst nachträglich von dem Konflikt mit dem Norden überlagert, wie man z. B. in Esr 4,1–5 sehen kann. Die Bearbeitungsprozesse der Bücher Jeremia und Ezechiel sind dafür lehrreich. Sie zeigen, welch große Bedeutung auch der Diaspora für die Formierung des Judentums zukam.
Das Geschichtsresümee in 2Kön 17,24–41 ist gegen H. (385) kein einheitlicher Text. Es hat sich aus der quellenhaften Notiz V. 24aα.b entwickelt, in die in V. aβγ erst sekundär die Behauptung eingetragen wurde, die Neusiedler seien an die Stelle der Israeliten getreten. In V. 25–28 wird behauptet, sie hätten die Verehrung Jahwes übernommen. In V. 29–33 wird ihnen der Synkretismus zur Last gelegt und zugleich die Sünde Jerobeams. In V. 34–39 wird ihnen der Abfall vom Gottesvolk vorgeworfen. Wie ambivalent das Verhältnis zum Norden geblieben ist, zeigt die Chronik (345–366): Der Norden wird genealogisch in das eigene Geschichtsbild integriert und als Teil des Gottesvolks umworben, aber seine kultische und administrative Selbständigkeit wird vehement abgelehnt.
Die gewichtige Monographie ist durch Inhaltsübersicht + In­haltsverzeichnis, Zusammenfassung + Thesenreihe + englische Thesenreihe vorbildlich erschlossen. Sie ist darauf angelegt, die Debatte über die jüdische Religionsgeschichte des 3. und 2. Jh.s kräftig anzuregen. Sie zeigt aber zugleich, wie offen die Akten noch sind.