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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

606–608

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Bach, Oliver, Brieskorn, Norbert, u. Gideon Stiening [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die Naturrechtslehre des Francisco Suárez.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. X, 276 S. Geb. EUR 82,95. ISBN 9783110523751.

Rezensent:

Walter Sparn

Nachdem die Herausgeber 2013 unter dem Titel Auctoritas omnium legum die rechtstheoretischen Summe Suárez’ De legibus ac Deo legislatore (1612) in ihren zehn Büchern präsentierten, geht es hier um Buch II, 5–15. Motto des Bandes und Titel der Einleitung zitieren Basissätze: Lex naturalis est lex Dei und Nam lex naturalis in homine est, quia non est in Deo (3). Sie stehen für die Unentbehrlichkeit der Gottesinstanz für die Naturrechtsbegründung einerseits, für ein neuzeitliches Freiheitsverständnis andererseits, das die objektive Geltung und die subjektive Verbindlichkeit des Na­turrechts fundiert. Suárez ist weder »vormodern« noch »mo­dern«, sondern gehört einer konfliktuösen Konstellation theologischer, säkularisierter und genuin säkularer Entwürfe an (5 ff.). Ein Überblick ergibt: Noch ohne eigenständige Begründungstheorie verbindet Suárez die theonome Rechtsbegründung mit einer neuen Korrelation der lex aeterna und der lex naturalis durch beider strikt praktische Interpretation und durch Auszeichnung des menschlichen Gewissens als Realisationsort und -instanz der überpositiven Rechtsformen (7 ff.; Melanchthons Naturrecht vergleichbar, 19). Mit der jüngsten Forschung platzieren die Herausgeber den katholischen Suárez wie den protestantischen H. Grotius und den »säkularen« Th. Hobbes im Kanon der frühneuzeitlichen Standardwerke der Rechtsphilosophie (15 ff.).
Die erste Abteilung, »Naturrecht zwischen Metaphysik und Theologie« (25–131), widmet sich den Grundlegungstheoremen. Gideon Stiening (Lex naturalis es prima participatio legis aeternae, 25–62) zeigt, dass Suárez, anders als Grotius, Pufendorf oder Locke, die Verbindlichkeit des Naturrechts und von Recht überhaupt an das Ewige Gesetz bindet, dass er jedoch die seit Augustin gebildete Rechtssystematik verlässt, weil er das Naturrecht rein praktisch interpretiert, seinen Geltungsgrund im Willen Gottes loziert und nicht auf eine teleologische Natur rekurriert (46 ff.). Er muss jedoch einen Status der lex aeterna annehmen, in dem dieser Gotteswille noch nicht in der Zeit wirksam verpflichtet (50 ff.). Die Rolle, die sein (metaphysischer) Begriff einer »spontanen« Willens- und Handlungsfreiheit der Wirksamkeit des Naturrechts zuschreibt, erfordert die Trennung des (praktischen) natürlichen Gesetzes vom rein theoretischen Naturgesetz (57 ff.). Kurz, die lex aeterna ist Ge­setz und ist es nicht, weil sie aller Definitionselemente ent-behrt, die Suárez’ eigener Gesetzesbegriff vorgibt (57). Simon Eultgen (63–90) zeigt, dass Suárez immanente (aristotelisch-stoische) und transzendente Verbindlichkeit aufgrund der Einheit von Willen und Vernunft Gottes in einer via media versöhnen will (72 ff.). Aber Suárez reduziert Erstere auf eine bloß anzeigende und braucht für Letztere die göttliche Strafandrohung – eine Scheinlösung (77 ff.). Auch Eultgen weist hin auf die Fortdauer dieses Problems im 18. Jh. und auf Kants säkulare Lösung (62.89 f.104). Stiening (Urheber oder Gesetzgeber?, 91–111) bekräftigt die konstitutive Rolle der Gottesinstanz in beiden Prädikaten und konstatiert ebenfalls die Inkonsistenz der via media (95 ff.). Das Ziel, verwelt-lichenden Intellektualismus und irrationalen Voluntarismus zu vermeiden und die Ausrichtung allen Rechts auf Gerechtigkeit zu sichern, erfordert die »handstreichartige« (107) Identifikation der Zwecke des gött-lichen Willens mit den Wissensinhalten der recta ratio. Bei Verstößen gegen das Naturrecht fallen Schuld und Sünde ineins, d. h. die Theologie importiert Moralphilosophie und erzeugt dadurch, wie auch durch die Bindung Gottes an den Satz vom Widerspruch, »Säkularisierungsdruck« (105 ff.). Norbert Brieskorn SJ stellt die Bedeutung des (trinitätstheologischen) Liebesbegriffs für den Konnex von Recht und Gerechtigkeit heraus (Charitas …, 113–131) und zeigt das an der naturrechtlichen Verpflichtung zur Sorge um den Nächsten auf dem Feld der Staatlichkeit (120 ff.). Aus der Gleichheit mit Gott heraus in Liebe zu handeln, hat den Vorrang der Gleichheit vor der Freiheit zur Folge, aber auch die Selbständigkeit des Menschen in der sozialen Verwirklichung seiner Freiheit (127 ff.).
Im zweiten Block geht es um das Verhältnis von Naturrecht und Ethik. Stefan Schweighöfer (Proxima regula bonitatis, 135–153) präzisiert die zentrale Bedeutung des Gewissens als unmittelbare Regel des moralisch Guten, im Blick auch auf die philosophisch problematische Bestimmung des im Gewissen präsenten Ewigen Gesetzes. Aber wenn man das gesamte Werk Suárez’ berücksichtigt, wird deutlich, dass die Verpflichtungskraft des Naturrechts durch das Ewige Gesetz als lex per essentiam begründet wird, das in der synderesis, dem ersten Prinzip des Gewissens (conscientia), als ewiges Urbild promulgiert wird (140 ff.). So erscheint es, keineswegs im Widerspruch gegen Suárez’ Gesetzesbegriff, als einheitsstiftende Instanz jeglicher Moralität, die moralische Selbstbestimmung in der Pflege des Gewissens begründet, gegen das man niemals handeln darf (149 ff.). Frank Grunert macht die heilsökonomische Be­gründung der obligatio in conscientia (155–168) stark, akzentuiert jedoch den naturrechtlichen Grund der Gewissensverpflichtung auch durch positive, göttliche und menschliche Gesetze, also die politische Bedeutung des Naturrechts (166 ff.). Holger Glinka (Suárez’ Naturrechtslehre zwischen Säkularisierung und Resakralisierung, 169–193) beschreibt die Signatur dieses strittigen Begriffs seit M. Weber und E. Troeltsch, auch bei R. Rothe, F. Overbeck, F. Gogarten (173 ff.) und wertet Suárez’ Naturrechts- und Völkerrechtslehre mit der Koinzidenz von lex naturalis und ratio na­turalis recta als ein Stadium der »Genese autonomer Moral« (181 ff.). Suárez gibt der moralphilosophischen Individualisierung von Verbindlichkeit großen Anteil im Begriff des Rechts und unterscheidet Moral und Natur so klar, dass die theonome Begründung im positiven menschlichen Recht keine primäre systematische Funktion mehr hat (186 ff.).
Der dritte Block bietet differenzierende Voten zu Suárez’ These der Unveränderlichkeit des Naturrechts. Dominik Recknagel (Ius naturale praeceptivum und ius naturale dominativum, 197–211) sieht in der Begründung dieser These den »Trick«, die Umstände und Bedingungen, die Ausnahmen zuließen, in den Regelungsbereich des Naturrechts zu nehmen und der natürlichen Vernunft das Ur­teil über den Einzelfall zuzubilligen; deshalb unterstellt er ein Ne­beneinander von vorschreibendem und erlaubendem Natrrecht, allerdings nicht völlig einheitlich im Blick auf den im Letzteren liegenden Freiraum menschlicher Rechtsgestaltung (208 ff.). Suárez’ striktes Änderungsverbot wird von Kurt Seelmann mit der »his-torischen Wandelbarkeit des Naturrechts« seit Thomas konfrontiert (213–232) – Suárez diskutiert sogar intensiver die Wege, es zu relativieren. Das oft zum Naturrecht gezählte ius gentium rechnet Suárez zum ius civile, so dass z. B. Sklaverei und Privateigentum als veränderlich gelten (219 ff.). Hier ist Suárez’ intuitionistische Be­gründung des Naturrechts inhaltlich moderner als die These, konsensbegründende Gewohnheit fungiere strukturell als Naturrecht (228 ff.). Beim »Dispens vom Naturrecht« zeigt Oliver Bach (233–262), dass Suárez’ Gesetzestheorie zulässt, auch ein permissives, trotzdem nicht indifferentes Naturrecht anzunehmen; staatliche Beschränkung der natürlichen Freiheit oder Privateigentum ist dann nur erlaubt, aber nicht geboten (241 ff.). Zudem kann Gott zwar nicht als Gesetzgeber, wohl aber als oberster Herrscher gegen Naturrecht ge­bieten (Gen 22,1–10!), ohne dass dies ein/e Dispens wäre (254 ff.).
Die Herausgeber, die auch Forschungsliteratur (Suárez; Naturrecht) auflisten und ein Personenverzeichnis anfügen (263 ff.), sehen das Ergebnis des Bandes zutreffend darin, dass Suárez »in seiner substanziell theologischen Grundlegung den Anspruch auf Modernität zu Recht erhebt, damit aber auf jene Antinomien zu­steuert, die schon Kant jedem materialen Naturrecht attestierte« (21). Evangelische Theologen sollten den Band lesen, der zeigt, welch enormen (hier: rechtspolitischen) Spielraum die jesuitische, intelligent flexible Theoriebildung eröffnete. Auch sollten sie rechtstheologisch nicht so untätig bleiben wie der lutherische Paternalismus, gegen den Suárez schrieb (vgl. 190).