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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

407–409

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wendebourg, Valentin

Titel/Untertitel:

Debatten um die Bibel. Analysen zu gelehrten Zeitschriften der Aufklärungszeit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XIII, 351 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 193. Lw. EUR 94,00. ISBN 9783161566646.

Rezensent:

Christian Volkmar Witt

»Die Diskursivität theologischer Meinungsbildung und ihre individuelle Akzeptanz waren zum festen Bestandteil einer breiten intellektuellen religiösen Debattenkultur geworden, die sich in der Aufklärungszeit maßgeblich im Medium der Zeitschriften etabliert hatte. Die Entwicklung solch einer offenen Debattenkultur zum konstruktiv reflexiven Umgang mit der Spannung zwischen theologischer Normativität und historischer Relativität religiöser Texte stellt dabei eine religionshistorische Errungenschaft dar, deren Einsichten sowohl für das Christentum wie für andere Offenbarungsreligionen bis heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben.« (306) Mit diesem denkwürdigen Befund schließt die hier anzuzeigende Göttinger Dissertation von Valentin Wendebourg. Ihn zuvor in überzeugender Weise mittels geschickter Disposition des historischen Stoffs exemplarisch unterfüttert zu haben, macht den im Folgenden zu skizzierenden Untersuchungsgang zu einer in jeder Hinsicht empfehlenswerten Lektüre.
Die Studie ist in acht Hauptkapitel unterteilt, denen eine umfangreiche Bibliographie, ein Personen- sowie ein Sachregister beigegeben sind (307–351). Der den Gegenstand ausschärfenden und den Zugriff vorstellenden Einleitung (1–18) folgen als zweites und drittes Kapitel lehrreiche Hinführungen, nämlich erst eine medien-, gattungs- und institutionengeschichtliche (19–64), dann eine wissenschafts- und theologiegeschichtliche (65–81). Auf dieser Grundlage werden dann als Gegenstände der umfassenden Analyse vier Debatten in den Blick genommen, die exemplarisch das historische Zusammenspiel von expandierendem Zeitschriftenwesen und sich etablierender historischer Bibelkritik in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s ausleuchten. So ist das vierte Kapitel als Auftakt der »Debatte um Jean-Martin de Prades und die empirische Beweisbarkeit der biblischen Wahrheit (1751–1753)« gewidmet (83–130), wonach sich das fünfte mit der Popularisierung deistischer Bibelkritik von 1753–1758 befasst (131–181). Die Verzahnung dieser internationalen Debatten mit einem – wenn nicht dem – ersten qualitativen Höhepunkt historisch-kritischer Exegese im deutschsprachigen Raum zeichnet das sechste Kapitel nach, in dessen Zentrum die Auseinandersetzungen »um Johann Salomo Semler und die beginnende Adaption der historischen Bibelkritik in der deutschen protestantischen Theologie (1757–1765)« stehen (183–228). Der damit wiederum in direktem Zusammenhang zu sehenden »Debatte um Gottfried Less und die Hinwendung vom historischen zum moralischen Wahrheitsbeweis der Bibel (1768–1785)« im siebten Kapitel (229–286) folgt schließlich – Hauptkapitel 8 – eine ihrerseits anregende Bündelung der Arbeitsergebnisse (287–306).
Diesen geht die Feststellung voraus, dass unter »den in der Aufklärung expandierenden, öffentlichen Kommunikationsformen […] die gelehrten Zeitschriften als Forum des intellektuellen Diskurses eine exzeptionelle Stellung« einnahmen, »da sie eine unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung einer gelehrten Öffentlichkeit schufen« (2). Vor diesem Hintergrund fanden allerdings »bisher die spezifischen Kommunikationsbedingungen, welche den Durchbruch individuell geäußerter, religionskritischer Ideen in den Raum der breit rezipierten Debatten erst ermöglichte n«, wenig Beachtung (5). Damit ist auf die zentralen Anliegen der Studie verwiesen: Sie »will erstens jene medien- wie ideengeschichtliche Synthese der Kommunikation theologischer Umbrüche im Grundriss nachzeichnen. Zweitens will sie damit aufzeigen, inwiefern das Medium der gelehrten Zeitschriften diese ›merkwürdige Revolution in den deutschen Köpfen‹ (Nicolai) vorbereitete und ermöglichte« (7). Dazu dient dann auf der Basis digitaler »Erschließungsmethoden des Mediums der Zeitschriften« (17 f.) die Auswertung der vier genannten Debatten und der ihnen zugrundeliegenden Diskursbedingungen.
Bereits der europaweit für Aufsehen sorgende Fall de Prades’ stellt die rasch zunehmende Bedeutung des Mediums Zeitschrift eindrücklich vor Augen: »In Kombination mit der gezielten publizistischen Inszenierung des Prozesses beeinflusste es dessen Rezeption maßgeblich« (127), was sich besonders an den Umschwüngen und der Ausdifferenzierung seiner Wahrnehmung innerhalb der deutschen protestantischen Gelehrtenwelt ablesen lässt. Dabei trat eine »den theologischen wie gelehrten Journalen gemeinsame Halt ung zum Vorschein, die davon ausging, dass sich mithilfe um-fassender argumentativer Aufklärung über den Streitpunkt die Erkenntnis der Wahrheit am Ende bei den Lesern durchsetzen werde« (130). Die dahinter liegende Tendenz zur Neujustierung der Begründung religiöser Normativität findet auch in der Debatte um Bolingbroke und den englischen Deismus ihren eindrücklichen Niederschlag: Insgesamt unterstützte die dort erhobene »Forderung des kritischen Diskurses im Medium der gelehrten Zeitschrift die Etablierung der historisch-philologischen Kritik als rational legitimer Form der Auseinandersetzung um die Auslegung der Heiligen Schrift. Der historisch-kritische Diskurs wurde dogmatisch nicht mehr lediglich als wahrheitsgefährdend verurteilt, sondern im aufklärerischen Sinne als wahrheitsfördernd betrachtet« (177). Darin ist folgerichtig »wohl die wesentliche Leistung der ge­lehrten Journale« zu sehen (178).
Deren Popularisierungspotentiale und steigende Bedeutung wurden bald auch von theologischer Seite erkannt und genutzt: »Mit seiner Klage über den Bildungsverfall und der Forderung intensivierter Sprach- und Geschichtsstudien bediente Semler das Interesse und die Kategorien des intellektuellen Leitmediums der gelehrten Journale« (223), um seine kritischen Ansätze breitenwirksam platzieren zu können. Darüber wurden eben innerhalb der akademischen Theologie Historisierungs- und Professionalisierungsprozesse initiiert oder verstärkt, in deren Verlauf »die Impulse offenbarungskritischer Aufklärer nicht mehr lediglich als religionsgefährdend abgewehrt wurden« (227). Mehr noch: »Die Partizipation von Gelehrten divergierender konfessioneller oder gar religiöser Prägungen in Gesamteuropa trug wesentlich zur Forderung der Selbstrationalisierung der Theologie bei, um den methodischen Ansprüchen der europäischen Gelehrtenkommunikation zu genügen. Die konsequente Adaption der historischen Methode als Grundlage theologischer Wissenschaft […] öffnete die Theologie für den Diskurs mit der historischen Bibelkritik und etablierte die historische Bibel- und Kanonkritik als ein innertheologisches Programm« (227 f.). Die schon bald eintretenden Folgen dieser Entwicklung sind bekanntlich kaum zu überschätzen, wie die vierte und letzte untersuchte Debatte – die um Less – verdeutlicht: Sie veranschaulicht zum einen, wie einst progressive Theologen »nun selbst ins Visier radikalerer Aufklärer« gerieten (281). Zum anderen zeigt sie »die Dynamik der wachsenden Interpretationsbedürftigkeit der biblischen Texte und Bekenntnisse, wobei der offene Dis kurs wesentlich zur Pluralisierung unterschiedlicher religiöser Selbstverständnisse beitrug« (286).
In den und durch die prominenten theologischen Zeitschriften wurde Ende des 18. Jh.s ein Religionsverständnis offenbar, »das sich im Bewusstsein des Anschlusses an ein reformatorisches Erbe von normativer Schrift- und Bekenntnisbindung distanziert hatte« (ebd.). Und damit schließt sich der rundum lesenswerte Kreis hin zum eingangs zitierten Befund.