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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

197-199

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Trauner, Karl-Reinhart

Titel/Untertitel:

Evangelische in Streitkräften und Gesellschaft. Eine Kulturgeschichte von der Habsburger-Herrschaft bis zur Demokratie.

Verlag:

Wien: Evangelischer Presseverband für Österreich 2020. 255 S. m. Abb. Kart. EUR 27,24. ISBN 9783850733212.

Rezensent:

Jobst Reller

Karl-Reinhart Trauner, seines Zeichens evangelischer Militärsuperintendent im österreichischen Bundesheer und außerordentlicher Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, legt hier auf knapp 200 Textseiten die Geschichte evangelischer Eliten in fünf Jahrhunderten im Gebiet des heutigen Österreich dar. Dass dies angesichts der verschiedenen Herausforderungen einer solchen Darstellung angesichts unterschiedlicher politischer Größen wie dem alten heiligen römischen Reich deutscher Nation bis 1806, konfessionell seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555, bzw. dem Westfälischen Frieden gespalten, dem habsburgischen Kaiserreich bis 1918, dem 1938 in das so genannte »Großdeutsche Reich« (bis 1945) einmündenden Ständestaat und der heutigen Republik nur im Überblick geschehen kann, überrascht nicht. Spätestens mit der Expansion auf dem Balkan handelte es sich an den Grenzen um einen Vielvölkerstaat, noch 1918 geleitet von einer römisch-katholischen, kaiserlich und königlichen »heiligen apostolischen« Majestät, dennoch multikonfessionell und -religiös. Zeiten der Verfolgung und Vertreibung evangelisch optierender Minderheiten im Anfang des 17. Jh.s wech seln mit Zeiten der Toleranz nach dem Toleranzpatent Kaiser Josephs II. 1781 (74). T. weist im Anmerkungsteil (195–240) zur Vertiefung die neueste Fachliteratur nach. Register zu Personen- und Ortsnamen bzw. Sachen (244–255) erschließen den Band vorbildlich.
T. schreibt als versierter Militär- und Kirchenhistoriker, etwa wenn er die militärische Professionalität Einzelner in strategischem Handeln oder militärtechnischen Pioniertaten darlegt. Man betrachte die Bemerkungen zu einer »alten« Berufsethik des europäischen Offiziers der »Ritterlichkeit« und »Führungsverantwortung« des am Putsch gegen Hitler beteiligten evangelischen Offiziers Robert Bernardis (1908–1944; 159–161) und ihren christlichen Wurzeln. Nicht weniger interessant ist die kurze Biographie zu Stauffenbergs Onkel Nikolaus von Üxküll-Gyllenband (1877–1944; 161–163), ein ebenfalls evangelischer, aus Österreich stammender Offizier. Der Erfinder des modernen Kampfpanzers vor dem Ersten Weltkrieg war der evangelische Judenchrist und Militär Günther Burstyn (1879–1945; 123), ein Pionier der Raumfahrt Hermann Potocnik Noordung (1892–1929; 147 f.). In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verstanden sich evangelische Christen in vielerlei Hinsicht als Avantgarde (121) und waren im Offizierskorps überproportional vertreten (111 f.). Zahlreiche Konversionen von Katholiken und Juden zum Protestantismus kamen vor in der »Los von Rom« Bewegung um 1900 oder aus eherechtlichen Gründen bei einer nach katholischem Kirchenrecht unmöglichen Wiederverheiratung. Man lese das Beispiel des am Beginn des Ersten Weltkriegs alles andere als unschuldigen Franz Conrads von Hötzendorf (1852–1925), dessen zweite Frau evangelisch wird auf Rat des katholischen Feldbischofs Emerich Bielik. Einen evangelischen Generalstabschef hätte Kaiser Franz Josef nicht geduldet, eine Heirat mit einer evangelischen Frau über einen katholischen Dispens hingegen schon (129 f.). Im Ständestaat nach 1918 sollte sich das Bild mit dem Wegbrechen der multikonfessionellen Ränder radikal ändern. Katholische Konfession galt als Einheitsgarant des neuen Staates (149.151 f.154.170). Eine katholische Militärseelsorge schien für das Berufsheer zu genügen, erst mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht war 1938 eine kleine evangelische Militärseelsorge wieder geplant. Die Wiederentdeckung einer katholischen Staatsphilosophie überraschte etwa in der Hinsicht, dass im Militär seit den Anfängen des 18. Jh.s praktisch Toleranz gegolten hatte (77 f. 84 f.).
Naturgemäß eignet sich das Feld des Militärs als Teilbereich der Gesellschaft für eine solche Längsschnittdarstellung, weil es mehr als Wirtschaft oder Handel Traditionen über die Jahrhunderte bildet und ohne Zweifel seitens der politischen Führung immer als entscheidender Partner gesehen wird. Aber mit dem reformierten Pfarrer und außerordentlichen Professor für Systematische Theologie Charles Alphonse Witz-Oberlin (1845–1918) findet sich auch ein engagierter Akteur der Friedensbewegung vor dem Ersten Weltkrieg (138 f.).
T.s Darstellung braucht sich um ihre Relevanz nicht zu sorgen. Weitere Forschungen zu historischen Erfahrungen im Umgang mit Minderheiten oder mit multireligiöser Militärseelsorge (z. B. 94.102.117.151.172 usf.) legen sich in Zeiten sich multikulturell und multireligiös differenzierender und international verbündender Nationalstaaten nahe.
Nichtsdestotrotz bleiben manche Fragen offen: Lässt sich das Moment wie auch immer verstandener evangelischer Feldpredigt in der Bewegung der Bauernkriege während des »Wildwuchses« der Reformation (Wallmann) 1524/5 als rein ökonomisch, nicht in Glauben und Gewissen motiviert abtun, während dies die Motive im oberösterreichischen Bauernkrieg 1625/6 während der von Reformationskommissionen grausam durchgeführten Gegenreformation waren? Ein Reformator wie Urbanus Rhegius (1489–1541) wirkte im Bauernkrieg mit viel Verständnis für die Anliegen der Bauern in Hall in Tirol und lehnte gleichzeitig ihre Option für Gewalt ab. U. a. österreichische Truppen wirkten bei der Niederschlagung des Bauernaufstandes in Württemberg mit. Verdienten die Feldzüge gegen die Osmanen im 16. Jh. nicht weitere Aufmerksamkeit, z. B. insofern als evangelische Feldprediger in Reichstruppen evangelische Kirchen in Slowenien und Kroatien begründeten? Man denke an den zeitweiligen Landeshauptmann der Steiermark und Feldherrn Hans III. Ungnad von Weißenwolff (1463–1564) und seine Initiative für eine eigene Druckerei für diese Sprachen in Urach oder an die Mitwirkung evangelischer Truppen mit eige-nen Feldpredigern in den niederländischen Befreiungskriegen auf habsburgischer Seite (vgl. Jobst Reller: Anfänge der evangelischen Militärseelsorge, Berlin 2019, 29 f.59.81.108 f.).
Aber all das mindert nicht den Wert der verdienstvollen Darstellung einer österreichischen evangelischen Sozialgeschichte, wie T. sie vorlegt.