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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1045–1047

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Borgolte, Michael

Titel/Untertitel:

Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte. Von 3000 v. u. Z. bis 1500 u. Z.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Academic 2018. 728 S. m. Abb. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-534-26962-4.

Rezensent:

Martin H. Jung

Der Berliner Mediävist Michael Borgolte (geb. 1948) legt mit seinem Buch »Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte« den Ertrag jahrzehntelanger Forschungen zur Geschichte des Stiftungswesens in einem beeindruckenden Kompendium vor. Der imposante Titel erhebt allerdings einen Anspruch, der so nicht zu halten ist und von B. selbst im Untertitel seines Buches auch gleich schon relativiert wird: Die Darstellung beginnt 3000 v. Chr. und endet vor der Reformation, umfasst also nicht die neuere und neuste Geschichte. Sie umschreitet aber auch nicht die ganze Welt, sondern nur Hochkulturen, denn nur in ihnen lassen sich Stiftungen finden, und auch nicht alle Hochkulturen, sondern nur ausgewählte. Diese behandelt B. aber mit beeindruckender Kompetenz, gerade auch hinsichtlich der relevanten religiösen Dimensionen, darunter Eschatologie und Ethik, wenngleich die Schwerpunkte alles in allem dann doch auf dem Christentum und im abendländischen Mittelalter liegen.
Was sind Stiftungen? Eine einheitliche, allgemein anerkannte Definition gibt es nicht. Es handelt sich um Institutionen, für die Menschen erhebliche Ressourcen aufbringen, um auf Dauer die Durchführung bestimmter Handlungen zu ermöglichen. Solche Institutionen finden sich in vielen Kulturen, und B. geht davon aus, dass nicht eine Kultur sie entdeckt und andere Kulturen sie dann übernommen haben, sondern dass die Stiftungsidee als Elementargedanke, vergleichbar mit religiösen Grundideen wie zum Beispiel Reinheitsvorstellungen, immer wieder neu entstanden ist. Häufig, aber nicht immer dienen Stiftungen dem Gedächtnis des Stifters, häufig, aber nicht immer dienen Stiftungen dem Seelenheil des Stifters.
Bereits im 3. Jt. v. Chr. gibt es Stiftungen in Mesopotamien, die dem Götterkult dienen, indem sie die »regelmäßige Zuwendung von Speisen und Getränken an Götter« garantieren sollen (16). Neben den »Götterstiftungen« (18) im Zweistromland finden sich in Ägypten »Ahnenstiftungen« (18). Durch Opfergaben für die Ah­nen sollten diese »den Lebenden gewogen« gestimmt werden (18). Ahnenstiftungen finden sich auch im alten China, Götter- und Ahnenstiftungen auch im alten Griechenland und im alten Rom.
Zu einem Aufschwung des Stiftungswesens kommt es mit der »Achsenzeit« – B. rezipiert eine Kategorie Karl Jaspers, die in der Zeit zwischen dem 8. und 2. vorchristlichen Jh. einen tiefen »Einschnitt« erkennt (30) – durch die mit ihr einhergehende »Entdeckung der Transzendenz« (30), »Ethisierung« (33), »Spiritualisierung« (33) und Individualisierung. B. schildert in aller Breite die entsprechenden Entwicklungen in Ägypten, im Zoroastrismus, im Christentum, im Islam, im Judentum, in den Religionen Indiens, im Konfuzianismus und Daoismus. Die neueren Stiftungen dienen nicht mehr den Ahnen und den Göttern, sondern wenden sich dem Menschen zu und wollen seinem zeitlichen und ewigen Heil dienen. Bei den sich besonders im Christentum stark entfaltenden »Stiftungen für das Seelenheil« vermutet B. die »Imitation persischer Vorbilder durch die Christen« (615).
In einem dritten Schritt und im umfangreichsten Teil seines Buches untersucht B. die Rolle von Herrschern im Stiftungswesen der bereits genannten Länder, Kulturen und Religionen. Im abendländischen Christentum erreichte das Stiftungswesen (Kult- und Memorialstiftungen) in der Zeit der Salier seinen Höhepunkt. Die Staufer förderten dann vor allem Spitäler.
Im vierten und letzten Teil seiner Untersuchung wendet sich B. Stiftungen zu, die nicht einfach nur dem Menschen, sondern de-zidiert der »Sorge für andere« (501) dienen, also, christlich gesprochen, karitativen Zwecken. In diesem Zusammenhang vertritt er die These, die karitativen Institutionen des Christentums, die erstmals, das ist bekannt, im 4. Jh. in Kappadozien nachzuweisen sind, verdankten sich Anregungen, die aus dem zoroastrischen Persien über Armenien in die christliche Welt gelangt seien (566 f.628). Das sc heint mir fragwürdig zu sein, denn »Sorge für andere«, wenn auch nicht institutionalisiert, gehörte, gespeist aus dem Neuen Testament, von Anfang an zum Christentum und Institutionalisierungen erfolgten, wie auch in anderen Bereichen des christlichen Lebens, sobald sie als Folge der konstantinischen Wende möglich waren. Und die Idee, Christus »mit seinem Vermögen« zu dienen, findet sich ebenfalls schon im Neuen Testament (Lk 8,3). Interessant und erhellend sind die Ausführungen, wie im Mittelalter Bildung und Wissenschaft durch Stiftungen gefördert wurden (591 ff.). Auch die Universitäten waren Stiftungen! Am Schluss dieses, für christliche Theologen besonders wichtigen, Buchteils geht B. auf Erasmus von Rotterdam und Bonifaz Amerbach ein: Die Stiftung des katholisch gebliebenen Humanisten wurde in Basel von dem reformierten Juristen verwaltet und diente der Armenfürsorge und Bildungszwecken.
Das wissenschaftliche Lebenswerk von B. in einem Band! Das Buch ist interessant und gut zu lesen, in der Darstellung aber außerordentlich detailreich, so dass man nicht immer den roten Faden erkennen kann. Nicht alle Details, die präsentiert werden, gehören zum Thema im engeren Sinn. Zusammenfassungen des Ertrags am Ende eines jeden Kapitels wären hilfreich gewesen. Bei der gezielten Suche nach bestimmten Informationen helfen Personen-, Orts- und Sachregister. Der Vertiefung in Einzelaspekte dient eine umfangreiche Bibliographie, in der die Veröffentlichungen B.s selbst allein vier Seiten einnehmen.
Noch einmal zum Titel des Buches und der vorgenommenen Eingrenzung: Eine »Weltgeschichte« bietet das Buch nicht, wenn auch B. Recht hat mit seiner Einschätzung, dass die Beschäftigung mit dem Stiftungswesen Einblicke gibt in die Grundlagen von Ge­sellschaften. Aber die Weltgeschichte ist auch die Geschichte kriegerischer Auseinandersetzungen, und diese Dimension menschlichen Lebens, der Krieg, ist nun gerade kein Thema im Zusammenhang mit der Stiftungsgeschichte. Und die Weltgeschichte endete nicht um 1500, sondern trat nach 1500 mit der Reformation und der Aufklärung in eine neue Phase ein. Kontinuität und Wandel des Stiftungswesens im Zusammenhang mit Reformation und Aufklärung zu untersuchen und, selbstverständlich unter Beteiligung der Soziologie, die Linien bis in die Gegenwart auszuziehen, wäre eine spannende Anschlussaufgabe.