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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

427–429

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kirn, Hans-Martin, u. Adolf Martin Ritter

Titel/Untertitel:

Geschichte des Christentums IV,2: Pietismus und Aufklärung.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 373 S. m. 2 Ktn. = Theologische Wissenschaft, 8,2. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-033678-0.

Rezensent:

Marco Stallmann

Mit der Darstellung zu Pietismus und Aufklärung aus der Feder der beiden Kirchenhistoriker Hans-Martin Kirn und Adolf Martin Ritter liegt nun innerhalb der Reihe Theologische Wissenschaft der zweite Teilband Geschichte des Christentums IV vor, der den bereits 2018 erschienenen Band zum Konfessionellen Zeitalter ergänzt. Damit wird das Versprechen einer komplexen Zusammenschau jener christentumsgeschichtlich relevanten, sich vielfältig überlagernden »Sinneinheiten« eingelöst, mit deren Darstellung schon der erste Band eine methodische Abkehr von der Konstruktion allzu undurchlässiger Epochengrenzen vollzogen hatte. Das Buch ist in drei Hauptkapitel gegliedert: Es führt zunächst in die Europa kulturgeschichtlich erkennbar formenden Strömungen der Aufklärung (A) und des Pietismus (B) ein und »beleuchtet auch« (so der Klappentext) die Entwicklung der orthodoxen Kirchen im 17. und 18. Jh. (C), die allerdings den Sprung in den Buchtitel nicht geschafft haben.
Nach einer hilfreichen Auflistung der einschlägigen Literatur leitet Kirn mit wichtigen begriffs- und forschungsgeschichtlichen Vorüberlegungen in das erste Themenfeld ein: Von einem weiten Pietismusbegriff im Sinne einer Bezeichnung für religiöse Erneuerungsbewegungen, die sich programmatisch für eine Verinnerlichung und Spiritualisierung des Glaubens sowie Konventikelbildung einsetzten und zu denen beispielsweise auch der Puritanismus oder gar der Quietismus gerechnet werden kann, wird wie üblich ein engerer Begriff unterschieden, auf den sich Kirn »im Folgenden konzentrieren« (11) möchte. Dieser versteht den Pietismus – auch gegen Albrecht Ritschls frömmigkeitskritische Negativzeichnung – als »bedeutendste« (10) religiöse Reformbewegung des europäischen Protestantismus, die sich im späten 17. Jh. in der lutherischen und reformierten Kirche herausbildete und in ihrer breiten gesellschaftlichen Wirkung vom konfessionellen System der altprotestantischen Orthodoxie ablöste. Nach einer kurzen Beschäftigung mit Philipp Jakob Spener als dem Begründer des lutherischen Pietismus folgt eine ausführliche Erkundung seiner Ausprägungen in Halle und Württemberg sowie der reformierten Erscheinungsformen (insbesondere Nadere Reformatie), der Herrnhuter Brüdergemeine und des radikalen Pietismus. Indem Kirn diese aber nicht einfach auf ihre theologischen Grundlinien und prägenden Figuren reduziert, sondern sie stets zueinander wie zu separatistischen Spielarten, zur Aufklärungsbewegung wie zum Absolutismus, zur Juden- wie zur Weltmission in Beziehung setzt und vertieft, realisiert er seine Forderung, die o. g. Begriffsunterscheidung »so zu konkretisieren, dass sowohl epochal-frühneuzeitliche wie frömmigkeitstypologische Deutungsansprüche befriedigt werden« (16).
Im zweiten Teil charakterisiert Kirn die Aufklärung als europäische, gesamtgesellschaftlich und religionsübergreifend wirksame Bildungs- und Reformbewegung des späten 17. und 18. Jh.s, die im Bereich von Theologie und Kirche programmatisch durch die Rekonstruktion eines vernünftigen (nicht unbedingt rationalistischen), biblische und dogmatische Traditionen historisierenden Christentums Profil gewann. Im kritischen Anschluss an Ernst Troeltsch hält er dabei gegen jüngst aufgekommene Zweifel an einem entsprechenden pragmatisch-konstruktiven Epochenbegriff fest, weil sich nur so »die einschlägigen Problemstellungen, Lösungsstrategien und -praktiken über nationale und konfessionelle Grenzen hinweg vergleichen« (118) und die »Transformationen« (116) des Christentums präzise beschreiben ließen. Von dieser Überzeugung ist dann auch die in diesem Buch besonders anschaulich werdende Verhältnisbestimmung der Sinneinheiten Pietismus und Aufklärung getragen, die nicht auf die schlichte zeitliche Abfolge reduziert werden dürfe, sondern von den feinen Verschiebungen im Hinblick auf wesentliche Prägekräfte, z. B. das jeweilige Verhältnis zum reformatorischen Ursprung, her zu verstehen sei. Diese weichen Übergänge manifestieren sich auch in Kirns etwas eigenwilliger, aber begründeter Rede vom »Spätaufklärungspietismus« (113), dessen Rezeptionsspuren Kirn noch in Schleiermachers frühromantischen Reden zu erkennen vermag. Von Programmbegriff und Epochenbezeichnung unterscheidet Kirn daher plausibel die Aufklärung als »Strukturanalogie« (121) im Sinne pe-riodisch wiederkehrender Rationalisierungsprozesse der (Chris-tentums-)Geschichte. In der Durchführung seiner Epochendarstellung erweist sich die Einbeziehung der neben der protestantischen ebenfalls noch unzureichend erforschten katholischen und der jüdischen Aufklärung sowie des gesellschaftlichen Strukturwandels und der politischen Wechselwirkungen als verdienstvoll. Erst in der Gegenüberstellung ihrer vielgestaltigen westeuropäischen Ausdrucks- und Organisationsformen kann, wie sich zeigt, die kulturgeschichtliche Relevanz und Prägekraft dieser Epoche, die im Buch erkennbar den größten Raum einnimmt, hinreichend differenziert wahrgenommen werden.
Das dritte, von Adolf Martin Ritter verfasste Hauptkapitel zu den orthodoxen Kirchen des 17. und 18. Jh.s ist mit weniger als 50 Seiten das kompakteste. Hier wird die forschungsgeschichtliche Einführung auf ein kurzes Literaturverzeichnis reduziert, und das für die Reihe angedachte Lehrbuchformat wird insofern modifiziert, als jetzt plötzlich (zuvor konsequent vermiedene) Fußnoten auftauchen. Der lehrreichen Darstellung des anerkannten Patristikers tut dies keinen Abbruch: Ritter unterscheidet die byzantinisch-orthodoxen Kirchen, die sich zum Erbe der sieben Ökumenischen Konzilien des Altertums bekennen, und die äußerst vielfältigen, sich von Byzanz autokephal bzw. autonom abgrenzenden Nationalkirchen. Die mit Rom unierten Kirchen bilden eine dritte Gruppe, die im Gegensatz zur westlichen lateinischen Kirche nicht dem Kirchenrecht des Codex Iuris Canonici, sondern einem eigenen Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium unterliegen. Indem hier die vorreformatorischen Kirchen des östlichen Christentums in den Blick kommen, bleiben die Querverbindungen zu den aus Reformation und Protestantismus vielfältig (natürlich nicht ausschließlich) hervorgehenden Reformbewegungen Pietismus und Aufklärung logischerweise übersichtlich. Aufgrund des Betrachtungszeitraums kann das nicht unproblematische Verhältnis zum erst 1948 gegründeten Ökumenischen Rat der Kirchen nur angedeutet werden. An einzelnen Stellen finden sich geschichtliche Brü-ckenschläge, beispielsweise in der Beschäftigung mit den aufklä-rerisch-absolutistischen Modernisierungsbemühungen des russischen Zaren und späteren Kaisers Peter der Große (1672–1725, vgl. 321–324). Ob sich jedoch die im Kontext der näheren Eingrenzung der orthodoxen Kirchen begegnende Annahme Ritters, »rechtgläubig« müsse wohl zunächst einmal »jeder Christ sein wollen« (307), auch im Gespräch mit den in A und B vorgestellten Repräsentanten erhärten ließe, wäre zu überlegen.
Man kann darin eine Diskrepanz feststellen und fragen, warum dann nicht auch die westliche Orthodoxie des 17. und 18. Jh.s noch stärker beleuchtet worden ist (was im Rahmen der Auseinandersetzung mit den kirchlichen und staatlichen »Gestalten der Gegenaufklärung« [236] mehr als sachdienlich abgedeckt wird). Oder aber man hebt positiv hervor, dass die hier erfolgte Gegenüberstellung – global gesehen – ein vertieftes Verständnis des auf der Schwelle zur Moderne ins gesellschaftliche Bewusstsein tretenden religiös en Pluralismus (vgl. 241–253) ermöglicht, dessen differenzierte Erforschung zu den Aufgabenfeldern einer interdisziplinär an­schlussfähigen Kirchengeschichtsschreibung gehört. Dazu leistet der vorliegende, gut lesbare und mit hilfreichen Registern abgerundete Band einen überzeugenden Beitrag. Mit anderen Worten: Das ergibt Sinneinheiten!