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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

766–767

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Holmes, Christopher T.

Titel/Untertitel:

The Function of Sublime Rhetoric in Hebrews. A Study in Hebrews 12:18–29.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XVIII, 234 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 465. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-155752-1.

Rezensent:

Wilfried Eisele

Schon immer ist, gemessen am Kontext, der hohe Ton aufgefallen, den der auctor ad Hebraeos in Hebr 12,18–29 anschlägt. Aus der Umgebung mit ihren mehr oder weniger kurz gehaltenen Anweisungen ragen die antithetischen Polysyndeta und die steigernden Vergleiche des Textabschnitts heraus. Christopher T. Holmes passt seinen Stil an den Gegenstand seiner Erörterung an, die hier nicht von der Ausdauer im Leiden, von Gastfreundschaft, ehelicher Treue und ähnlich alltäglichen Dingen, sondern von der Begegnung mit dem lebendigen Gott als verzehrendem Feuer handelt. Die feierliche Ausdrucksweise ist also nur die Außenseite des atemberaubenden Geschehens, das hier in Worte gefasst wird. Sie zielt darauf ab, in der Leser- und Hörerschaft jenen hohen Sinn zu wecken, von dem der – mit H. zu sprechen – »Dichter« (26) dieser Zeilen offenkundig beseelt ist. H. erkennt darin ein Beispiel dessen, was er als »sublime rhetoric« bezeichnet und in dem Traktat De sublimitate (Περὶ ὕψους) des Pseudo-Longinos aus dem 1. Jh. n. Chr. abgehandelt findet. Die Qualitätsbezeichnung ὕψος bezieht sich demnach nicht nur auf den hohen oder erhabenen Stil, sondern ebenso sehr, wenn nicht noch mehr auf den erhabenen Gegenstand der Rede, auf dessen geistige Höhe die Adressaten mit der Macht des Wortes und der Einbildungskraft gehoben werden sollen.
Die von Luke Timothy Johnson an der Emory University betreute Dissertation hat einen klaren Aufbau mit zwei Schwerpunkten im Hebräerbrief und in De sublimitate. Kapitel 1 nähert sich Hebr 12,18–29 von seiner Forschungsgeschichte her. H.s Urteil zufolge leiden bisherige rhetorische Analysen des Abschnitts an zwei Fehleinschätzungen: Sie sehen im hohen Stil nichts als Redeschmuck und in der Rhetorik insgesamt nichts anderes als eine Überredungskunst. Religiöse Rhetorik habe dagegen die Fähigkeit »to move discourse beyond reason and logic, to produce powerful emotions, and to convey vivid portraits of reality that produces something like the effects of religious experience« (28). Kapitel 2 bietet eine kursorische Lektüre der Abhandlung De sublimitate. Von zentraler Bedeutung sind dabei die fünf Quellen sublimer Rhetorik, die durch eindrückliche Vorstellungen, aufwühlende Emotionen, bewegende Stilfiguren, einnehmende Worte und berückende Wortfügungen erzeugt wird und ihre Wirkung entfaltet. Sie gibt damit nicht zuletzt einen ethischen Impuls: »For Longinus, the five sources of sublime rhetoric transform the words of ancient authors into living and inspiring voices that confront and reorient hearers generations after they were recorded.« (79) Diese Wirkweise sublimer Rhetorik wird in Kapitel 3 mit verschiedenen Stiltheorien der Antike verglichen, angefangen beim Wettstreit zwischen Aischylos’ erhabenem und Euripides’ schlichtem Stil in den Fröschen des Aristophanes über die Entwicklung der Dreistillehre bis hin zur Bevorzugung des gemischten Stils bei Dionysios von Halikarnassos, dem aufgrund der sachlichen Nähe auch der Traktat De sublimitate mitunter zugeschrieben wurde. Beide, Dionysios und Longinos, beschreiben nach H. die Wirkungen des Stils mit religiösen Begrifflichkeiten und mischen sich dadurch in philosophische Diskurse der Antike über die göttliche Inspiration und magische Wirkmacht poetischer Sprache ein. Kapitel 4 wendet die Erkenntnisse der beiden vorhergehenden Kapitel auf die Lektüre von Hebr 12,18–29 an. In Anlehnung an Martha Nussbaum, die das Ineinander von Form und Inhalt betont, formuliert H. die These: »The perspective offered by De sublimitate suggests that the passage’s expression – its word choice, sentence structure, and use of figures – are not secondary to its conception« (120). Kapitel 5 will schließlich aufweisen, wie Hebr 12,18–29 das generelle Ziel sublimer Rhetorik er­reicht, die An­gesprochenen im wahrsten Sinne des Wortes in »Ekstase« (ἔκστασις) – nämlich aus ihrer alltäglichen Lebenswelt in die sprachlich geschilderte Welt – zu versetzen, indem sie nicht zuletzt ihre Gefühle aufrührt. Dem entspricht die Schlussfolgerung in Kapitel 6: »This study has focused especially on how the rhetoric of Hebrews invites the hearers to imagine their gatherings together as the location of God’s speech.« (191) Den Schlüssel dafür lieferte »one of the most developed introductions to and analysis of De sublimitate for the purpose of New Testament interpretation« (192). Dieses Vorgehen erschien H. besonders passend, weil »De sublimitate likens the effects of sublime rhetoric to those of religious experience« (193).
Die Stärke des Buches liegt in seiner klaren Beschränkung und Schwerpunktsetzung: Mit dem Traktat De sublimitate wird ein einschlägiger Text aus der Zeit des Hebräerbriefes identifiziert und für die Beantwortung der Frage fruchtbar gemacht, inwiefern Ausdruck und Inhalt von Hebr 12,18–29 zeitgenössischen Vorstellungen des in der antiken Rhetorik so genannten ὕψος – von H. treffend mit »sublime rhetoric« übersetzt – entspricht. Besonders lobenswert ist der in der neutestamentlichen Exegese immer noch nicht Standard gewordene Ansatz, den außerbiblischen Texten dieselbe Sorgfalt angedeihen zu lassen, wie sie den biblischen selbstverständlich zukommt. Insofern liegt ein wichtiger Ertrag der Arbeit – wie H. zu Recht betont – darin, dass sie »one of the most developed introductions to and analysis of De sublimitate for the purpose of New Testament interpretation« liefert (192). Schwerwiegende Fragen wirft hingegen die durchgehende Tendenz auf, sublime mit religiöser Rhetorik gleichzusetzen (z. B. 26–28.192 f.). Wodurch zeichnet sich diese vor anderen Arten der Rhetorik aus? Ist Religion als heuristischer Begriff in der Antike überhaupt tauglich? Wird hier eine rhetorica sacra behauptet, die einer ansonsten überwunden geglaubten hermeneutica sacra entspricht?