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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

262–264

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmuck, Martin

Titel/Untertitel:

Peirces ›Religion of Science‹. Studien zu den Grundlagen einer naturalistischen Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XIII, 598 S. = Religion in Philosophy and Theology, 79. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-153243-6.

Rezensent:

Dirk Evers

Dieser Band von Martin Schmuck wurde 2012 als Dissertation am Fachbereich Evangelische Theologie in Frankfurt eingereicht und wesentlich von Hermann Deuser und Gesche Linde betreut. Es geht um eine Gesamtdarstellung der Religionsphilosophie von Charles Sanders Peirce im Hinblick auf das Verhältnis von Glauben und Wissen bzw. Religion und Wissenschaft. Ziel ist die Grundlegung einer naturalistischen Interpretation des christlichen Glaubens. Daraus erklärt sich der Titel der Arbeit, der auf das Peirce’sche P rogramm einer Verbindung oder, wie es bei Peirce heißt, einer Vermählung von Religion und Wissenschaft hinweist, wobei science hier durchaus im Sinne naturwissenschaftlich informierter Wissenschaft zu verstehen ist. Das soll nicht auf eine Auflösung von Religion in Wissenschaft oder umgekehrt hinauslaufen, aber doch für eine wechselseitige Interpretation von Wissenschaft und Religion plädieren, so dass einerseits Wissenschaft hilft, Religion zu begründen und besser zu verstehen, andererseits Wissenschaft zur religiösen Wissenschaft (5) transformiert wird, weil sich zeigen lässt, dass auch die Naturwissenschaften so etwas wie Gott und Glauben brauchen – wenn auch in begrifflich und konzeptionell transformierter Gestalt.
S.s Arbeit gliedert sich in drei Teile. Zunächst (Abschnitt 1–3) erfolgt in drei großen Schritten eine Entfaltung von Peirces Religionsphilosophie anhand seiner drei Gottes-Argumente. Im zweiten Teil (Abschnitt 4–5) nimmt S. dann eine kritisch-konstruktive Überarbeitung des Peirce’schen Programms vor, die zum einen andere Akzente bei der Bestimmung von Metaphysik und ihrer Begründung im Gegenüber zur Wissenschaft vornimmt, zum anderen eben dieses Metaphysikverständnis anhand von Inter-pretationen moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu rechtfertigen sucht. Grundsätzlich also wird das Peirce’sche Programm einer wissenschaftlichen Fundierung von Religion und einer religiösen Interpretation von Wissenschaft bejaht, es wird aber in der Durchführung geltend gemacht, dass das Metaphysikverständnis, aber auch wesentliche naturwissenschaftliche Kategorien wie Zufall, Gesetz und Evolution angesichts der Ergebnisse gegenwärtiger Wissenschaft gegenüber Peirces eigenem Verständnis zu modifizieren sind, wobei diese Modifikationen auf ein naturalistisch zu nennendes Verständnis von Religion und entsprechend auf ein naturalistisches Verständnis von Theologie hinauslaufen. Ebendiese Konsequenz entfaltet der konstruktive dritte Teil der Arbeit (Abschnitt 6), der methodische und inhaltliche Grundlinien eines solchen Theologieverständnisses entfaltet.
Im Detail kann die Argumentation der umfangreichen (knapp 550 Seiten Text!) Arbeit hier nur angedeutet werden. Die Darstellung der Philosophie von Peirce zeigt deutlich den Einfluss von Deuser und Linde, was etwa die These des Gottesinstinkts angeht oder das Verständnis von Semiotik, Erfahrung und Gewissheit. Im ersten Teil werden nacheinander das Peirce’sche Argument der Exis­tenz Gottes aus unmittelbarer religiöser Erfahrung, das Ar-gument eines aller religiösen Erkenntnis vorgängigen Gottesinstinkts und das pragmatizistische Argument einer Unverzichtbarkeit des Gottesgedankens für die Wissenschaft aus dem nicht im­mer einfach zu interpretierenden Schrifttum Peirce’ vorgestellt. Hier liegt sicher eine interpretatorische Leistung vor, insofern mit einer gewissen Vollständigkeit, werkgenetischer Genauigkeit und im ständigen Dialog mit wichtigen, allerdings vornehmlich deutschen Beiträgen aus der Sekundärliteratur (Apel, Deuser, Linde) Peirces religionsphilosophisches Denken in wissenschaftstheoretischer Hinsicht systematisiert und dargestellt wird. Allerdings ist bei der kritischen Darstellung nicht immer deutlich, ob S. Fehlin terpretationen korrigieren, auf interne Spannungen hinweisen oder grundsätzliche Anfragen geltend machen möchte.
Als Fazit des ersten Abschnitts hält er fest, dass nach Peirce (religiöse) Erfahrung und (wissenschaftliches) Denken gleichwertig und wechselseitig irreduzibel, aber auch wesentlich aufeinander angewiesen sind. Das bedeutet u. a. für die Theologie, dass sie ihr Reden von Gott metaphysisch zu präzisieren, aber auch naturwissenschaftlich zu explizieren hat. Begründung, so der zweite Ab­schnitt, erhält diese Gotteserfahrung im Zusammenhang basaler Erfahrungskategorien überhaupt. Es gibt so etwas wie einen in­stinktiven Gottesbegriff, der mit den übrigen Instinkten des Menschen wie etwa der Liebe zum Leben oder auch zur Vernunft eng zusammengehört, aber gerade nicht die Existenz eines supranaturalen Wesens impliziert. Dieser zunächst vage Gottesinstinkt drängt durch (fallible) Hypothesenbildung auf seine Explikation, die dann durch metaphysische und allgemein wissenschaftliche Theoriebildung zu erfolgen hat. Aus der unmittelbaren Erfahrung und aus den sich instinktiv aufdrängenden Vorstellungsformen und Ideen erfolgt damit der Übergang zu methodischeren, reflexiven Formen des Gottesgedankens. Dies wird im dritten Abschnitt entfaltet. Alle Einzelwissenschaften setzen danach einen metaphysischen Rahmen voraus, der seinerseits von den Einzelwissenschaften kritisch geprüft wird. Das vage Zeichen »Gott« kommt dabei nicht als Erklärungshypothese, sondern als instinktiv unabweisbares Phänomen und als für den Rahmen aller wissenschaftlichen Forschung unverzichtbarer Sachverhalt in den Blick, den es zu erklären gilt. Offen ist aber nach S., wie eben diese Wechselbeziehung von metaphysischem Rahmen und wissenschaftlicher Er­kenntnis heute zu fassen ist. Nach seiner Auffassung gerät Peirce dabei in doppelter Hinsicht in Schwierigkeiten. Zum einen verstößt er mit seinem objektiven Idealismus, der vor allem materiellen Sein ein ursprüngliches Reich der Ideen postuliert, gegen den ontologischen Naturalismus, auf den uns die heutigen Naturwissenschaften verpflichten. Zum anderen hindert Peirce sein radikaler Indeterminismus, der dem Zufall breiten Raum gibt und Na­turgesetze als bloße Idealisierungen versteht, daran, z. B. Ursprung und Dynamik der Evolutionstheorie wissenschaftlich zu verstehen. Beide Einwände werden ausführlich in Abschnitt vier und fünf erörtert.
Ohne das im Rahmen dieser Rezension genauer begründen zu können, halte ich die vorgebrachten Argumente für eher dürftig. Nicht nur wissenschaftstheoretisch stellt sich der Begriff des Naturgesetzes oder besser der Funktion inzwischen höchst differenziert dar und lässt sich kaum auf ein so strenges Konzept reduzieren, wie S. dies unterstellt. Und auch die Rolle des Zufalls in den heutigen Wissenschaften dürfte eher in die Richtung von Peirce weisen denn in die Richtung eines materiell repräsentierten Urgrundes einer »naturalistischen« Ontologie, wie S. dies behauptet. Im Einzelnen finden sich einige Fehler bei der Darstellung etwa der Debatten um die kinetische Gastheorie im 19. Jh., des Indeterminismus der Quantentheorie (der eben nicht gegen den Determinismus der Schrödinger-Gleichung ausgespielt werden darf) oder der Frage nach dem Status kosmologischer »Theorien über alles«. S. hätte gut daran ge­tan, neben Kanitscheider und Vollmer noch etwas differenzierter denkende Gewährsleute aus den Naturwissenschaften heranzuziehen. Problematisch erscheint dem Re­zensenten auch die metaphysische Rahmentheorie eines mo­difizierten aristotelischen Essentialismus, für den S. auch in Bezug auf die Evolutionstheorie plädiert.
Der Schlussabschnitt versucht dann, Grundzüge einer natura-listischen Theologie herauszuarbeiten, indem S. durch die verschiedenen Lehrstücke der klassischen Dogmatik hindurchgeht und eine szientistisch-naturalistische Kritik und Rechtfertigung der Inhalte der christlichen Religion versucht. Wie nicht anders zu erwarten, tut er sich sehr viel leichter, wenn es um Schöpfung und prozessphilosophisch geklärte Gottesvorstellungen geht, als wenn Inkarnation und Eschatologie in eine naturwissenschaftlich ge­rechtfertigte Religion überführt werden sollen. So wird die Menschwerdung Gottes verstanden als erstrebenswertes Beispiel für die kosmische Liebe, die sich auch in anderen Naturphänomenen zeigt, während die individuelle Eschatologie irgendwie als ein »Eingehen ins Quantenvakuum« (545) zu verstehen sei und auf die Hoffnung sich gründet, dass das Sein immer über das Nichts triumphiere. So bleibt der konstruktive Gewinn der Arbeit doch eher dürftig, während sie sonst über weite Strecken eine interessante Interpretation Peirces bietet.