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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1140–1142

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Christe, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Gerechte Sünder. Eine Untersuchung zu Martin Luthers »simul iustus et peccator«.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 752 S. = Arbeiten zur Systematischen Theologie, 6. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-03729-2.

Rezensent:

Christian Volkmar Witt

Die hier anzuzeigende Habilitationsschrift von Wilhelm Christe ist einer zentralen formelhaften Explikation reformatorischer Theologie gewidmet. Entsprechend wird gleich einleitend konstatiert: »Simul iustus et peccator – gerecht und Sünder zugleich: so lautet eine oft zitierte These Martin Luthers, die als Zusammenfassung seiner Sicht des Christenmenschen, seiner Rechtfertigungslehre, ja seiner Theologie überhaupt gilt und die nicht zuletzt etwas über Luthers eigene Selbsterfahrung und eigenes Selbstverständnis aussagt« (15).
Von dieser Grundannahme ausgehend, bildet ein selektiver Überblick über die Wirkungsgeschichte, der in Ausführungen zum Forschungsstand, zum Aufbau der Arbeit und zum methodischen Vorgehen ausmündet, den ersten, einleitenden Teil der Studie (15–98). Der sich anschließende Hauptteil (99–699) ist seinerseits dreigeteilt: Den Anfang machen detaillierte Quellenstudien, mittels derer entlang der Themenfelder Rechtfertigung, Taufe, Buße, gute Werke, Anthropologie und Gesetz die Simul-Formel in ihren verschiedenen Explikationsformen innerhalb des theologischen Denkens Luthers kontextualisiert und so auf ihren Gehalt befragt wird (99–436). Es folgen Begriffsbestimmungen, die die zentralen Termini »Peccator/ peccatum«, »Iustus/iustitia« und schließlich »Simul« beleuchten, um diese im Kontext der Rechtfertigungslehre zu verorten und ihren reformatorischen Sinngehalt herauszuarbeiten (437–514). Der Ab­schluss des Hauptteils ist dann ausführlichen exegetischen und systematisch-theologischen Überlegungen – nicht nur, aber auch zur interkonfessionellen Verständigung – gewidmet (515–699). Es folgt noch ein Anhang, der neben einer Bibliographie und einem Personenregister zwei Aufstellungen zum Vorkommen der Simul-Formel selbst und ihrer Varianten enthält. Eingestreut sind immer mal wieder Exkurse, von denen zwei die reformatorischen Aufbrüche Luthers mit ihrem augustinischen Hintergrund kurz ins Gespräch bringen (123–130.191–204), während ein dritter sich kritisch mit Reinhold Seeberg und seiner Deutung der Rechtfertigungslehre auseinandersetzt (288–291). Der vierte Exkurs befasst sich mit Luthers Auslegung 1Tim 1,8 f. (398–404), der fünfte mit der Interpretation von Röm 7 durch neuere Kommentarwerke (538–548). Der letzte Exkurs schließlich widmet sich der »Debatte um Sündlosigkeit und Sünde des Christen« (574–595).
Schon dieser grobe Überblick über den Aufbau der massiven Studie mag erahnen lassen, mit welcher Akribie C. sich seinem Thema stellt und warum die Lektüre passagenweise einiges an Geduld verlangt. Er nimmt sich die Simul-Formel und ihren theologischen Gehalt gleich in mehreren Anläufen und aus verschiedenen Richtungen vor, und er erschließt sich die hinter der Formel stehenden Gedankengänge des Reformators dabei jedes Mal von Grund auf. Das dürfte mit dem umfassenden Anliegen erklärbar sein, das er verfolgt und das sich nicht auf die systematisch-theologische Erfassung und die theologiegeschichtliche Einordnung jener Formel beschränkt: »Die vorliegende Studie möchte Vorkommen, Sinn und Bedeutung der Formel simul iustus et peccator in der Theologie genauer untersuchen und damit klären helfen, was es mit dem vorhandenen ›Allgemeinwissen‹ über Luthers Formel, aber auch mit den damit verbundenen Befürchtungen und Verdachtsmomenten auf sich hat. Darüber hinaus haben sich unsere Analysen aber dafür offenzuhalten, dass Luthers Formel auch ungeahnte Chancen eröffnet, Christsein gerade heute zu verstehen und zu leben« (17).
Entsprechend interessiert zeigt sich C. nicht nur an katholischen Infragestellungen oder Annäherungen, sondern auch an aktuellen Überlegungen zur ekklesiologischen und ökumenischen Operationalisierung. Demgegenüber haben die breiten quellenanalytischen Passagen spürbar sowohl eine inhaltlich absichernde als auch eine theologisch vergewissernde Funktion: Die umfang- und detailreichen, manchmal etwas zu tastend und daher umständlich anmutenden Durchgänge durch Luthers Werke bieten zwar viel allzu Bekanntes, suchen aber auch das kritische Gespräch mit teilweise wegweisenden Beiträgen der älteren und jüngeren Forschung (z. B. 109 f.116.141.161.174.202.206.288–291.325–327.427 f.). Gerade diese diskursiven Passagen gewinnen – wie die Arbeit insgesamt – durch kluge Selbstbeschränkungen (z. B. 228) und vor allem durch die sinnvolle Entscheidung C.s, sich von der bloßen Formel zu lösen und gezielt auch ihre Varianten sowie Ausführungen Luthers, die sich thematisch-inhaltlich mit ihren theologischen Füllungsoptionen befassen, in den Blick zu nehmen. Schließlich formuliert der Reformator auch mittels jener Formel einen Kernbestand seiner schöpferischen Neubestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch, also seines neuen Wesensverständnisses der christlichen Religion (prägnant z. B. 440–443.462 f.); dies hat Luther aber ja nie rein für sich ausgearbeitet, sondern in immer neuen Anläufen in und an bestimmten vorgegebenen Sachfragen und -zusammenhängen. Und in diesen Kontexten hat er es dann jeweils ganz eigenständig von Grund auf durchexerziert und -formuliert. Genau diesen Prozess im originell-produktiven Denken Luthers gleichermaßen exemplarisch wie akribisch nachvollziehbar zu machen, ist vielleicht das entscheidende Verdienst des ersten und des zweiten Teils der vorliegenden Studie.
»Dass für Luther selbst die simul-Formel eine prägnante Zu­sam­menfassung, eine Kurzformel seiner Rechtfertigungslehre darstellt, kann als zentrales Ergebnis unserer Analysen gelten« (687). So wenig überraschend nun diese Feststellung erscheinen mag, so sehr macht sie verständlich, warum konstruktive römisch-katholische Annäherungsversuche an Luthers simul iustus et peccator im Modus der Umdeutung stehen bleiben: Für katholische Theologen lässt sich eine Anknüpfungsfähigkeit jener Formel an ihr eigenes theologisches Denken nur um den Preis der Verkürzung oder der Neufüllung konstruieren; damit gehen sie unter ihren eigenen Denk- und Wahrnehmungsvoraussetzungen naturgemäß am Kernanliegen des Reformators vorbei, und zwar in der Regel ganz bewusst (vgl. 35–52). Ob vor diesem Hintergrund und im Wissen um die Auseinandersetzungen rund um die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (53–68) die Überlegungen C.s zum »ekklesiologischen und interkonfessionellen Stellenwert des ›simul iustus et peccator‹« (687–699) mit ihrer Fokussierung auf das Leuenberger Modell als ökumenisch wegweisend oder auch nur tragfähig zu stehen kommen können, ist sicher fraglich und bleibt zu diskutieren. Schließlich münden sie in folgendes Votum: »Somit wird nochmals deutlich, dass eine unterschiedliche, ja gegensätzliche Bewertung und Einschätzung des simul iustus et peccator nach evangelischem Verständnis […] niemals Kirchengemeinschaft aufheben bzw. ihre Erklärung verhindern kann und darf, es sei denn, man wollte die Formel dem ›gemeinsamen Verständnis des Evangeliums‹ zuordnen, das allein Kirchengemeinschaft begründet und sie zu erklären ermöglicht. Diese Einschätzung will die vorliegende Studie aber nicht vertreten, so sehr sie dazu einladen möchte, Luthers simul iustus et peccator in Theologie, kirchlicher Lehre, ökumenischem Dialog und nicht zuletzt in der Verkündigung weiterhin zu affirmieren« (699). Die Wahrscheinlichkeit, dass unter diesen Voraussetzungen der ökumenische Dialog mit der katholischen Kirche zwangsläufig zu einem protestantisch getragenen Monolog wird, erscheint jedenfalls nicht gering.