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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

839–841

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dierken, Jörg, u. Malte Dominik Krüger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Leibbezogene Seele?Interdisziplinäre Erkundungen eines kaum noch fassbaren Begriffs.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. X, 339 S. = Dogmatik in der Moderne, 10. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-153573-4.

Rezensent:

Elisabeth Gräb-Schmidt

Der auf eine Fachtagung an der Theologischen Fakultät der Universität Halle zurückgehende Band widmet sich einem Thema, das in jüngerer Zeit wieder verstärkt Beachtung findet: dem Leib-Seele-Verhältnis und der Klage über den Verlust der Seele im Bereich der Wissenschaft.
Jan Patocka, der tschechische Philosoph, hat hervorgehoben, dass das Erbe der klassischen griechischen Philosophie die Sorge um die Seele sei. Wenn Begriffe selbst für etwas stehen, dann ist zu erwarten, dass mit ihrem Verschwinden zugleich Vorstellungswelten und Seinsdimensionen verblassen. Wenn, wie für Heidegger, die Sprache das Haus des Seins ist, werden deren Veränderungen Einfluss auf unsere Behausung haben. Mit dem Verschwinden des Begriffs der Seele aus der Wissenschaft wird zumindest auch ein Teil dessen, wofür dieser Begriff stand, der Nichtbeachtung und damit der Unsichtbarkeit anheimfallen. Mehr und mehr erscheint dieser Verlust einer Innerlichkeit daher zugleich als ein rationales Defizit, das beklagt werden muss.
Der aristotelische Nous als derjenige Seelenteil, der den Menschen bestimmt, und der platonische Ewigkeitsbezug des Menschen fanden im Begriff der Seele ihren Angelpunkt. Diese kulminiert in dem Verständnis menschlichen Lebens als einem, das der Einsicht fähig ist und das sich nach dieser Einsicht richtet. Solche Einsicht setzt Verständigung und Selbstverständigung voraus, die ein Festhalten an einer Geltungsdimension menschlichen Lebens impliziert. Beide Verständigungsaufgaben sind für sich genommen von Bedeutung für die Kennzeichnung einer an Einsicht und Geltung orientierten Verständigungspraxis. Noch nicht im Blick ist dabei allerdings der Leib bzw. die Leibbezogenheit der Seele. Die Autoren dieses Bandes nehmen nun gerade diesen Bezug auf.
In 16 Beiträgen wird die Frage nach der Seele und ihrer Beziehung zum Leib aus den verschiedenen Disziplinen der Theologie, Philosophie, Psychologie, Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, aber auch der Literaturwissenschaften, wieder ins Blickfeld gerückt. Nicht von ungefähr ist es doch dieser Bezug, der einen Erinnerungsmarker bildet für die Defizite einer seelenlosen Wissenschaft, die auf kontext- und gefühlsloser Rationalität ihr Nachdenken aufgebaut hat. Es ist der Leib, der in den Blick rückt, weil offensichtlich die Rationalität selbst Defizite erkennen lässt, sei es in den Versuchen, durch künstliche Intelligenz die Verständigungsleistung und Selbstverständigungsleistung des Menschen abzudecken und lernfähige Roboter zu entwickeln, oder sei es durch die Versuche, menschliches Leben durch Statistiken und spieltheoretische Versuchsanordnungen zu erfassen. So ist es der Leib, durch den wir auf das gestoßen werden, was in unserem Nachdenken, in unserer Wissenschaft und den Regeln, denen die Gesellschaft folgt, durch das Raster fällt. Der Leib steht für den Bezug des Individuellen, der sich diesen Betrachtungen entzieht, des Individuellen, das manifest in der Leibhaftigkeit des Menschen erfahren wird. Die Missachtung des Leibes ist insofern Mahnmal für die Tatsache, dass schon länger auch die Seele der Kultur entfremdet wurde. In der Literatur hatte sie zwar immer Bestand, nicht aber in den Wesens- und Geltungsdimensionen, die der Rationalität ihren Anhalt an Wahrheit und Gerechtigkeit verheißen haben.
Die Beiträge zeigen nun aus ihren verschiedenen Perspektiven, wie sich dieser Verlust von Leib und Seele und vor allem die Wiedergewinnungsanstrengungen auswirken auf die Erlangung einer angemesseneren Sichtweise der Realität des Menschen und seiner Welt und vor allem auf die Erfassung einer dem Menschen angemessenen Rationalitätsstruktur. So zeigt die Geschichte des Seelenbegriffs, dass ihm bis in das »18. Jahrhundert hinein eine prominente Stellung in naturwissenschaftlichen, religiösen, ästhetischen und metaphysischen Erörterungen des Menschlichen als höchster Stufe des Lebendigen« (V) zukam. Seine Ablösung in der Moderne durch Begriffe wie Individualität, Subjektivität und Personalität hat dabei aber jeweils unterschiedliche Aspekte hervortreten lassen, ohne den umfassenden Horizont dessen, was durch die Seele zum Ausdruck kam, aufrechtzuerhalten. Die transzendente Dimension, die die Seele auch repräsentiert hat, wird dadurch, dass der Seelenbegriff nicht mehr verwendet wird, ihrer Leistungskraft beraubt. Mit dem Seelenbegriff fallen daher nicht nur bestimmte Bereiche des menschlichen Lebens, der Selbstverständigung, weg, sondern auch jener Rahmen, der Selbst- und Weltverständigung überhaupt ermöglicht hat. Eine solche rudimentäre, auf Funktionalität eingeschränkte Sicht teilt der Seelenbegriff insofern mit dem auf Funktionalität ausgerichteten Naturbegriff der neuzeitlichen Physik. Der Begriff der Seele gewinnt an dieser Umstellung Anteil, konnte er doch ehemals sogar als Äquivalent mit dem Naturbegriff auftreten, wie der Beitrag von Johannes Hübner zum Seelenbegriff bei Aristoteles und Platon deutlich macht. Die Veränderungen, die der Begriff dann durchlaufen hat und die sich nicht zuletzt dramatisch äußern im Verschwinden des Begriffs in der modernen Medizin, entfalten die Beiträge von Florian Steger und Jürgen Brunner. Sie künden von der Reich- und Tragweite dieser Geschichte der Modifikationen bis hin zur Auflösung des Begriffs in der Wissenschaft, aber auch in der Philosophie.
In philosophie- und theologiehistorischem Durchgang über Luther (N. Slenczka) bis hin zu Jacobi, Fichte (M. Ivaldo) und Schelling (M. D. Krüger) wird dieses neuzeitliche Schicksal der Seele geschildert, wie es in der Erlebnispsychologie ein – allerdings sehr rudimentäres – Erbe antritt. Ulrich Barth zeigt in seinen minutiösen, analytisch scharfen Nachzeichnungen der neuzeitlichen Konstellationen des Themas auf, dass schließlich – mit Kant – aufgezeigt werden kann: »Der Aufstieg der Subjektivität ging auf Kosten der Seele« (120). Und eben damit wich auch die substanzielle Betrachtung des Bewusstseins zugleich einer funktionalen, die bereits als solche der Seele als Begriff ihre Relevanz streitig machte. Die dieser funktionalen Bezugnahme auf die Seele gerne folgende Hirnforschung ( M. Kurthen) wird zwar für therapeutische Maßnahmen hilfreich sein und auch für die Psychotherapie (B. Boothe; W. Mack) und Seelsorge (A. Steinmeier) in Anspruch genommen werden können. Das nicht hinreichend zur Kenntnis genommene und philosophisch nicht austarierte Verhältnis der empirischen und rationalen Psychologie wirft dabei aber auch Schatten voraus auf das unbewältigte Problem des Leib-Seele-Verhältnisses. Dass der Begriff der Seele gleichwohl nicht auf allen Gebieten verschwunden war, zeigt sich in den ästhetischen Beiträgen zur Literatur (D. Fulda) und Hermeneutik bei Gadamer (D. Evers) und der Phänomenologie (F. Fellmann). Ein die problemgeschichtlichen Linien aufnehmender und fundamentalphilosophischer (R. Langthaler) und ein religionstheoretischer Beitrag (R. Barth), die die Leib-Seele-Bezüge systematisch aufnehmen und auf ihren grundlagentheoretischen Stellenwert beleuchten, runden den Band ab.
Neben den rahmentheoretischen Gewinnen philosophischer Selbstverständigung, die aus dieser Lektüre erwachsen, bieten die Beiträge eine Fülle von Detailwissen und wichtigen Beobachtungen, mit denen sich die Bedeutsamkeit des Leib-Seele-Verhältnisses veranschaulichen lässt. Zugleich zeigt sich damit, dass durch das Verschwinden des Begriffs der Seele insofern auch der damit angesprochene Horizont aus dem Visier gerät. Dass dies nicht in Gänze gelingen kann, illustrieren die gleichsam in absentia weiter wirkenden Dimensionen der Seele. In detaillierter Nachzeichnung und reflektiertem Problembewusstsein geben die Beiträge Auskunft über die Variationen und Verschiebungen, die nicht nur das Verständnis des Leib-Seele-Verhältnisses in seiner Geschichte be­treffen, sondern das Philosophie- und Wissenschaftsverständnis und darüber hinaus das Selbstverständnis des Menschen insgesamt. Insofern bedeuten die Beiträge einen unverzichtbaren Lektüreauftrag für alle, die die Ideengeschichte als Ausdruck der Selbstinterpretationen des Menschen im Kontext verstehen wollen.
Es handelt sich bei diesem Buch um eine fulminante, den zeitgenössischen interdisziplinären Diskurs bereichernde und dringend notwendige Aspekterweiterung. Sie ist allen Lehrenden und Studierenden der beteiligten Disziplinen und darüber hinaus allen am Verständnis des Menschen und seiner Stellung in der Welt Interessierten zur Lektüre empfohlen.