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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

802–804

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Stegmann, Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Evangelische Kirche in Deutschland in den 1970er Jahren. Beiträge zum 100. Geburtstag von Helmut Claß.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 421 S. m. Abb. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-374-04025-4.

Rezensent:

Martin H. Jung

Zugegeben: Als großen Kirchenmann hatte ich ihn nicht in Erinnerung, Helmut Claß (1913–1998), württembergischer Landesbischof von 1969 bis 1979 und EKD-Ratsvorsitzender von 1973 bis 1979, aber der von Andreas Stegmann als Herausgeber und Hauptautor gestaltete Sammelband anlässlich des 100. Geburtstags von Claß machte mich doch einerseits neu mit einem Mann bekannt, der in einer schwierigen Zeit Vorbildliches geleistet hat, und erinnerte mich an eine nun schon lange zurückliegende Zeit turbulenter Ereignisse und Umbrüche, verbunden mit sowohl großen Be­fürchtungen als auch hohen Erwartungen.
Zu Recht trägt die Festschrift für Claß den Titel »Die Evangelische Kirche in Deutschland in den 1970er Jahren«, denn sie beginnt, verknüpft mit Claß und seinen Ämtern, erstmals mit der Aufarbeitung einer jüngeren Epoche der deutschen Geschichte unter kirchen-, theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Fragestellungen, ist also keineswegs nur für Württemberger interessant. Zur Horizonterweiterung trägt auch eine »Bibliographie zur Geschichte des westdeutschen Protestantismus in den 1970er Jahren«, er­stellt von Stegmann, bei (237–252).
Der Band beginnt mit einer umfassenden »Bio-Bibliographie« zu Helmut Claß, die nicht nur sein Leben, aus Quellen dargestellt, und seine Schriften präsentiert, sondern auch zahlreiche von Claß stammende Texte aus den Jahren 1948–1996. Siegfried Hermle würdigt Claß’ Tätigkeit als württembergischer Landesbischof und Karl-Heinrich Lütcke sein Wirken als EKD-Ratsvorsitzender. Zu den Konflikten, in die Claß involviert war, gehörten die Infragestellung der Bibelautorität durch württembergische Vikare 1969, die Gründung des Bengel-Hauses als Konkurrenz oder Alternative zum landeskirchlichen »Stift« in Tübingen 1970, der Streit um das Antirassismusprogramm des ÖRK 1974–1978 und der Konflikt um den Sonnenberg-Brief Tübinger Theologiestudenten 1977. Hermle stellt dar, wie Claß in allen Auseinandersetzungen vor allem »be­strebt war, Schaden von der Landeskirche abzuwenden« (182), und wie er immer wieder das »Gespräch« als »Mittel der Kirchenleitung« wählte (190). Gescheitert ist unter und mit ihm allerdings am Widerstand breiter protestantischer Kreise in Württemberg 1976 das Inkrafttreten einer neuen Grundordnung der EKD, die die EKD gegenüber den Gliedkirchen stärken sollte. Hermle gibt Claß’ »übergroßen Fairness« die Schuld dafür (190). Karl-Heinrich Lütcke enthält sich in dieser Frage einer Bewertung. Ganz in Übereinstimmung mit Hermle charakterisiert er aber Claß mit den Stichworten »Ausgleich, Sammlung, Dialog« (209).
Im zweiten Teil des Bandes folgen ein Überblick über die Ge­schichte des westdeutschen Protestantismus in den 1970er Jahren (Andreas Stegmann), eine Darstellung der Beziehungen zwischen der EKD und dem DDR-Kirchenbund (Claudia Lepp), ein Beitrag zur Bildungsreform und der Rolle der EKD (Friedrich Schweitzer), ein Aufsatz über das Verhältnis des westdeutschen Protestantismus zu den linken Bewegungen (Anne Käfer), eine Darstellung der Beziehungen der EKD mit den jungen Kirchen Afrikas und Asiens (Andreas Feldtkeller), eine Erörterung der Beziehung der EKD zur Orthodoxie (Martin Illert) und ein Bericht über das Verhältnis der württembergischen Landeskirche zur EKD (Matthias A. Deuschle).
Besonders interessant und gegenwartsrelevant ist die Auseinandersetzung der EKD mit Bildungsfragen, vollzogen in zahlreichen Denkschriften und Stellungnahmen, wobei diese Dinge wohl unter Claß, aber nicht von ihm selbst initiiert und durchgeführt wurden. Schweitzer stellt heraus, »dass Bildungsfragen in prominenter Weise zur Geschichte der Kirche in den 1970er Jahren gehören« und dass dabei »auch das Verständnis von Kirche, ihre Stellung in der Gesellschaft und ihre Ausrichtung für die Zukunft« zur Debatte standen (295), weist dabei aber auch auf zahlreiche bestehende Forschungsdefizite hin. Den schon im württembergischen Teil des Bandes behandelten Sonnenberg-Brief greift Käfer erneut auf und diskutiert ihn und die mit ihm verbundenen Kontroversen im Horizont des Grundsatzthemas »Kirche und Staat« (297). Am 16. Mai 1977 schickten 28 Tübinger Theologiestudenten dem bei einem Feuergefecht mit der Polizei verwundeten »Günther« (319; richtig: Günter) Sonnenberg, der RAF-Mitglied und möglicherweise am Buback-Mord beteiligt war, einen Brief mit Genesungswünschen und einen Blumenstrauß. Claß reagierte empört und sprach von »Verblendung« (320). Vor der Landessynode nahm er Stellung zum Thema »Staat und Kirche heute« und warnte vor von jungen Menschen ausgehenden »Fehlentwicklungen« wie in der Weimarer Zeit (322). Im Herbst desselben Jahres verlautbarte die Demokratie-Denkschrift der EKD: »Die Evangelische Kirche […] bejaht den Staat, in dem wir leben.« (325) Käfer betont, dass die EKD unter Claß damit die Linie Luther-Barmen-Bonhoeffer verließ, wo nie von »der Bejahung eines konkreten, real-existierenden Staates als solchen [sic!]« die Rede gewesen sei (325). Sie arbeitet den Kontrast zur nicht mehr von Claß verantworteten Demokratie-Denkschrift des Jahres 1985 heraus, wo nicht mehr von Bejahung, sondern »Verantwortung« die Rede ist (326).
»Zeittafeln [der] 1970er Jahre« (beginnend mit dem Jahr 1969, endend mit dem Jahr 1980) rufen in Erinnerung, was alles sich damals ereignet hat, darunter viele Dinge, die selbstverständlich in dem zu rezensierenden Band nicht behandelt werden, die aber darauf warten, auch hinsichtlich ihrer Implikationen für die Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte entdeckt und erforscht zu werden: Mondlandung (1969), Radikalenerlass (1972), Moskauer und Warschauer Vertrag (1972), Münchener Olympia-Attentat (1972), Militärputsch in Chile (1973), Ölkrise (1973), Leuenberger Konkordie (1973), Fristenregelung (1974), KSZE-Schlussakte (1975), Ausbürgerung Biermanns (1976), Lutherübersetzung 1975, Filbinger-Rücktritt (1978), Camp-David-Abkommen (1978), Johannes Paul II. (1978), Nato-Doppelbeschluss (1979), Lehrverbot für Hans Küng (1979).
Der materialreiche, sorgfältig gestaltete, auch mit einem Personenregister ausgestattete Band lässt eigentlich nur eine kritische Rückfrage aufkommen: Ich verstehe nicht, was junge Kirchenhis­toriker wie Stegmann und Deuschle davon haben, im Jahre 2015 noch die alte deutsche Rechtschreibung zu kultivieren, und warum ein renommierter Verlag das zulässt. Die Verantwortung gegenüber der jungen Generation, der das heutige richtige Deutsch beigebracht werden muss, würde gerade einem evangelischen Theologen die Anpassung gebieten, auch wenn man selbst aus Überzeugung die alten Schreibweisen für die besseren hält.