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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

611-613

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schellenberg, Annette

Titel/Untertitel:

Kohelet.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2013. 168 S. = Zürcher Bibelkommentare AT, 17. Kart. EUR 31,00. ISBN 978-3-290-17714-0.

Rezensent:

Ludger Schwienhorst-Schönberger

Noch bis vor einigen Jahrzehnten galt das Buch Kohelet als ein Fremdkörper innerhalb des Alten Testaments. Der Mainstream der alttestamentlichen Forschung sah es als eine Schrift an, die von ihrem Inhalt her gesehen eigentlich nicht in die Bibel gehöre. Die Sentenzen des Buches wurden in ihrer Gesamtheit als Ausdruck einer Philosophie des Absurden verstanden, als Agnostizismus oder Skeptizismus, als Zeugnis eines deistischen Gottesbildes. Seit einigen Jahren hat sich die Sicht des Buches, vor allem in der deutschsprachigen Exegese, grundlegend geändert. In diese jüngere Forschungsgeschichte schreibt sich der Kommentar von Annette Schellenberg ein.
Sie sieht in Kohelet ein Buch, das »inhaltlich […] tief in der israelitisch-frühjüdischen Tradition verwurzelt« ist (31). Zugleich greift es Themen auf, die uns aus den altorientalischen und griechisch-hellenistischen Traditionen bekannt sind (31–38). Der Kommentar wertet die in der jüngeren Forschung erarbeiteten Erkenntnisse umsichtig aus und führt sie zu einer insgesamt überzeugenden und ausgewogenen Synthese zusammen. Ausgangspunkt des jüngeren Verständnisses ist die Entschlüsselung der narrativen Struktur des Buches. Nicht alle Aussagen desselben dürfen »über einen Kamm geschert« werden. Den Schlüssel zum rechten Verständnis bietet die Unterscheidung zwischen »Kohelet, dem König« und »Kohelet, dem Weisen«. S. macht vor allem diese Unterscheidung stark. Was Kohelet als König in den ersten beiden Kapiteln des Buches sagt, wird von Kohelet, dem Weisen, im weiteren Verlauf der Darlegungen zwar nicht direkt, aber doch indirekt kritisiert und relativiert. Mit dieser grundlegenden Unterscheidung lässt sich nach S. ein großer Teil der Spannungen und Widersprüche des Buches auflösen. S. weist aber auch darauf hin, dass damit noch nicht alle Verständnisprobleme gelöst sind. Die Forschung hat sich intensiv mit der Frage befasst, wie die zahlreichen Spannungen und (scheinbaren) Widersprüche des Buches zu verstehen sind. S. entscheidet sich für eine mittlere Position. Abgelehnt wird von ihr lediglich eine radikal literarkritische Option, die mit umfangreichen redaktionellen Überarbeitungen rechnet, eine Position, die allerdings in der neueren Forschung nur noch vereinzelt vertreten wird. Als eine literarisch spätere Ergänzung sieht sie lediglich das Nachwort, bzw. die beiden Nachworte in 12,9–14 an. Im Corpus des Buches, so S., ist von Fall zu Fall zu entscheiden, ob Kohelet eine Ansicht zitiert und kritisch kommentiert, oder ob er bewusst verschiedene Ansichten nebeneinander stellt und dabei offen lässt, wie er selbst sich zu ihnen verhält. »Nicht zuletzt darum fasziniert sein Buch und regt mit seinen Offenheiten zu immer wieder neuen Interpretationen an« (16).
Nach S. lässt sich »im Koheletbuch keine eindeutige Struktur erkennen« (19). In dieser Hinsicht folgt sie nicht dem Trend der neueren Forschung, der sich im Anschluss an den programmatischen Aufsatz von Walther Zimmerli »Das Buch Kohelet – Traktat oder Sentenzensammlung?« (VT 24, 1974, 221–230) immer stärker darum bemühte, den kompositionellen Charakter des Buches herauszuarbeiten. S. hält alle diese Vorschläge für »gesucht bzw. sehr subjektiv« (19). Sie tendiert wieder stärker, ohne die Frage allerdings systematisch zu erörtern, zu der älteren These, wonach das Buch als eine Sammlung von Sentenzen zu verstehen ist. Ihrer Ansicht nach lässt sich im Buch keine lineare Gedankenführung erkennen. Vielmehr werden in lockerer Reihenfolge verschiedene Themen vor allem der weisheitlichen Tradition behandelt. Auffallend ist der durchgehend weisheitskritische Zug des Buches. Kohelet zeigt, »dass das Schwarz-Weiss-Denken der klassischen Weisheit zu kurz greift« (23), er relativiert den Tun-Ergehen-Zusammenhang, stellt ihn aber nicht grundsätzlich in Frage (29 f.). Die klassischen Vorwürfe, die dem Buch gegenüber erhoben wurden und zum Teil noch werden, weist S. überzeugend zurück, wie etwa den Vorwurf, Kohelet sei ein Hedonist: »Dort, wo er von Essen, Trinken und Genuss spricht, geht es ihm nicht um Luststeigerung (vgl. seine Kritik an den Fürsten in 10,16–19), sondern um Lebensfreude.« (28) Die Auslegung von S. erinnert ein wenig an die »Zwar-Aber-Deutungen« von Hertzberg und läuft letztlich darauf hinaus, Kohelet als einen Weisheitslehrer zu verstehen, der einseitig-radikalen Positionen eine Absage erteilt und in vielen Fragen eine via media lehrt. »Für einen Weisen (vgl. 12,9) äussert (sic!) sich Kohelet auffallend kritisch über die Weisheit […] All das ist nun aber nicht in dem Sinn misszuverstehen, dass Kohelet den Wert von Weisheit grundsätzlich in Abrede stellte. Trotz seiner Relativierungen schätzt auch er die Weisheit und zieht sie der Torheit vor.« (24)
Ein charakteristischer Zug des Kommentars besteht darin, dass S. die Offenheit und Uneindeutigkeiten des Textes hervorhebt, sei es, dass ihrer Ansicht nach Kohelet diese Offenheit selbst intendierte, sei es, dass wir heute nicht mehr herausfinden können, woran Kohelet dachte. »Woran Kohelet selbst dachte, lässt sich nicht mehr entscheiden« (158), ist so ein typischer Satz. Beim Thema Gericht bleiben die Aussagen Kohelets »vage, manche deuten eher auf ein Gericht in der Gegenwart, andere eher auf ein Gericht in der Zukunft. Das ist wohl kein Zufall. Vermutlich hat Kohelet keine konkrete Vorstellung über dieses Gericht.« (26)
Oft ringt sich S. nach Abwägung verschiedener Interpretationen zu einer Deutung durch, um anschließend einzugestehen: »So viele Probleme diese Interpretation löst, kann auch sie nicht wirklich überzeugen.« (162) Auf den ersten Blick erscheint diese offene Auslegung plausibel. Die Stärke des Kommentars besteht vor allem darin, dass S. die Auslegung nicht mit Gewalt in eine Richtung presst und eine Kohärenz zu erzeugen versucht, die dem Text nicht gerecht wird. Vieles bleibt in der Tat offen, und so ist der Leser auf sympathische Weise eingeladen, selbst mit- und weiter nachzudenken. Dabei kann freilich auch die Frage aufkommen, ob S. die denkerische Leistung Kohelets nicht doch ein wenig unterschätzt. Bleibt wirklich offen, »wie genau Kohelet sich das Verhältnis zwischen der Freude über das Leben und dem Denken an die dunklen Tage vorstellt« (155)? Ausdrücklich und ausführlich hat er sich in der Tat nicht dazu geäußert. Aber wird durch die dem Gedicht in 11,9–12,7 vorangestellte Aussage, dass der Mensch sich alle Tage seines Lebens freuen soll (11,8), ein einfaches Neben- oder gar Nacheinander von Freude und Trauer nicht doch in der Weise unterlaufen, dass hier zwei unterschiedliche Ebenen eröffnet werden, auf denen die hier angesprochenen Haltungen zu verorten sind? Gibt es nicht vielleicht doch so etwas wie einen archimedischen Punkt, von dem aus Kohelet seine Lehre vom gelingenden Leben entwirft, wie ihn etwa Ludwig Levy und andere in Koh 5,19 sehen?
Im Kommentar von S. erscheint Kohelet als ein liberaler Weisheitslehrer, der überzogene Geltungsansprüche seiner Kollegen zurückweist, seine Schüler vor den verlockenden Eindeutigkeiten prophetischer und apokalyptischer Überspanntheiten warnt und sie einlädt, ein Leben zu führen, das in heiterer Gelassenheit auf Gott, den Schöpfer, vertraut und sich dabei eingesteht, nicht alles, was unter dem Himmel geschieht, verstehen zu können. Selbst der gewöhnlich als »orthodox« beschriebene Redaktor des Nachwortes macht formal »nichts anderes als Kohelet selbst es mit der ihm vorgegebenen Tradition machte. Insofern bei dieser Art des Umgangs mit älteren Ansichten klar bleibt, dass es zu zentralen Fragen kontroverse Ansichten gibt, wird die Zuhörerschaft dazu eingeladen, selbst Stellung zu beziehen« (165). Auch der Kommentar tut dies auf sympathische und überzeugende Weise.