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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

135-136

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Hanisch, Helmut, u. Christoph Gramzow [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionsunterricht im Freistaat Sachsen. Lernen, Lehren und Forschen seit 20 Jahren.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 424 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-02997-6.

Rezensent:

Frank M. Lütze

Mit erheblicher Verspätung, an der allein der Rezensent schuld ist, ist hier ein Sammelband zu besprechen, der einen repräsentativen Einblick gibt in die religionsdidaktische Forschung in Leipzig unter der Ägide von Helmut Hanisch. Der Band, der anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Religionsunterrichts in Sachsen erschienen ist, vereinigt bekannte sowie bislang unveröffentlichte Beiträge Helmut Hanischs und Christoph Gramzows, ergänzt um je einen Text von Roland Biewald und Dieter Reiher sowie ein von allen evangelischen Religionspädagogen in Sachsen gemeinsam verabschiedetes »Positionspapier«. Die Beiträge lassen sich grob einteilen in (a) empirische Studien, (b) konzeptionelle Beiträge sowie (c) Standortbestimmungen der Religionsdidaktik in Sachsen.
Einen Schwerpunkt am Leipziger Institut für Religionspädagogik bilden seit den 1990er Jahren empirische Untersuchungen vor allem zum Religionsunterricht in Ostdeutschland sowie zur religiösen Entwicklung. Einige forschungsgeschichtlich bedeutsame Studien sind im vorliegenden Band, zum Teil gekürzt, abgedruckt.
Dazu zählt etwa die 1994 durchgeführte und 2003 erstmals replizierte Schülerbefragung zum sächsischen Religionsunterricht, de­ren wichtigste Ergebnisse vorgestellt werden (19–36.37–88.89–108). Die zu beobachtenden, von H. andernorts dargestellten Veränderungen zwischen der ersten und der zweiten Befragungswelle bleiben in der Darstellung ausgespart, werden aber bei der Auswertung der dritten Befragungswelle im Winter 2015/16 sicherlich im Fokus stehen. Abgedruckt ist sodann eine Kurzfassung von H.s bekannter, in der Forschung breit diskutierter Untersuchung zu den Gottesbildern (177–197), seine Untersuchung zur Theodizeefrage aus Sicht Jugendlicher (363–383), zentrale Ergebnisse aus G.s Studie zum diakonischen Lernen (241–257) sowie eine von beiden genannten Autoren durchgeführte Elternbefragung an evangelischen Schulen (259–286). Damit sind wichtige empirische Skizzen in einem Band versammelt, an denen eine an der vorfindlichen Realität ausgerichtete Religionsdidaktik nicht vorbei kann.
Die Entscheidung für einen unkommentierten Wiederabdruck der zum Teil aus den 1990er Jahren stammenden Texte führt allerdings dazu, dass aktuelle Impulse ausgespart bleiben, die die Ergebnisse kontextualisieren (so könnte z. B. zur abnehmenden Bedeutung der Theodizeefrage bei Jugendlichen der analoge Be­fund bei C. Smith, Soul Searching, Oxford 2005, hinzugezogen werden), kritisch diskutieren (etwa die Untersuchung gemalter Gottesbilder und ihre dichotome Einteilung in an­thropomorphe vs. symbolische Gottesbilder), oder die den dargestellten institutio nellen und rechtlichen Rahmen betreffen (z. B. im Blick auf die Bestandsaufnahme zum ostdeutschen Religionsunterricht, 46–56, wo sich die Rechtslage in Sachsen-Anhalt durch das sogenannte Germann-Gutachten 2004 verändert hat).
Die (meist auf empirischer Basis argumentierenden) konzeptionellen Beiträge spiegeln charakteristische Akzente der religionsdidaktischen Forschung der Autoren. Einen ersten Schwerpunkt bilden Texte zum Diakonischen Lernen, darunter lerntheoretische Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen religiöser Handlungsmotivation im Rahmen einer prosozialen Erziehung (H., 307–321), Beobachtungen zur Rolle von biographischen Modellen (G., 331–344) oder Impulse für eine auf die Entwicklung des kindlichen Gerechtigkeitsverständnisses abgestimmte Thematisierung prophetischer Sozialkritik (G., 405–418). Ein weiterer Akzent, H.s Plädoyer für einen sachbezogenen, strukturiertes Wissen aufbauenden Religionsunterricht, spiegelt sich in seinen Beiträgen zu Kindern als Philosophen und Theologen (199–218) sowie zur religiösen Begriffsbildung (345–361). Das Anliegen ist im Blick auf den ostdeutschen Kontext, in dem Schülerinnen und Schülern oft basales religionsbezogenes Wissen fehlt, prinzipiell nachvollziehbar.
Gleichwohl scheint mir gerade vor diesem Hintergrund wichtig, den Modellcharakter aller religiösen Rede zu betonen, die im Kern eher einem Geheimnis nachspürt, als eine Wissensdomäne neben anderen zu errichten. – G. untersucht in seiner Habilitationsvorlesung die Bedeutung von Kompetenzmodellen für den Religionsunterricht in Ostdeutschland (115–133) und plädiert dabei für eine reflektierte Präsenz von Religion im Schulleben. Unter den weiteren konzeptionellen Beiträgen ist schließlich ein – auf Basis von Gesprächen mit Jugendlichen verfasster – Beitrag H.s zum Umgang mit Fundamentalismus bei Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht (385–403) hervorzuheben, der eine keineswegs nur im südlichen Sachsen virulente Herausforderung aufnimmt, sensibel interpretiert und mit ausgesprochen anregenden Handlungsoptionen versieht.
Zu den Standortbestimmungen im Blick auf religionspädagogische Forschung in Sachsen gehören ein ebenso kenntnisreicher wie nüchterner (und ernüchternder) Blick auf den Stand des Religionsunterrichts an beruflichen Schulen in Sachsen von Roland Biewald (135–147), eine von Dieter Reiher verfasste Revue der nach 1990 erschienenen ostdeutschen Religionsbücher (149–159), eine kurzgefasste Geschichte des religionspädagogischen Instituts in Leipzig (163–176) sowie ein 2007 veröffentlichtes »Positionspapier zum Fach Evangelische Religion im Freistaat Sachsen« (109–114), ein pro loco et tempore verfasstes, eher bildungspolitisches denn religionsdidaktisches Dokument.
Insgesamt ist der vorliegende Band eine repräsentative Aufsatzsammlung aus dem langjährig von H. geleiteten Leipziger Institut für Religionspädagogik, die – insbesondere mit den drei letztgenannten Beiträgen – zugleich Züge einer Festschrift trägt. Wer auf eine der empirischen Studien von H. und G. Bezug nehmen möchte, bekommt übersichtliche, aus erster Hand stammende Zusammenfassungen zu Methode und zentralen Ergebnissen. Und wer sich am Beispiel Sachsens über den bis zur Gegenwart andauernden (Wieder-)Aufbau des Re­ligionsunterrichts in den ostdeutschen Ländern sowie seine wissenschaftliche Wahrnehmung und Begleitung informieren möchte, findet hier reiches Material.