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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1470–1472

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Voigt, Karl Heinz

Titel/Untertitel:

Ökumene in Deutschland. Internationale Einflüsse und Netzwerkbildung – Anfänge 1848–1945.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2014. 311 S. = Kirche – Konfession – Religion, 62. Geb. EUR 44,99. ISBN 978-3-8471-0269-4.

Rezensent:

Reinhard Frieling

Seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 und dem Westfälischen Frieden 1648 waren die interkonfessionellen Beziehungen in Deutschland jahrhundertelang auf die römisch-katholische Kirche und auf die reformatorischen Landeskirchen ausgerichtet – da­mals »Religionsparteien« genannt. Der sogenannte »linke Flügel der Reformation« wie z. B. die Täuferbewegung und auch die angelsächsische Entwicklung mit der anglikanischen Church of England und den verschiedenen »Dissidenten« spielte in Deutschland bis in die Nachkriegszeit kaum eine Rolle.
Das Werk des methodistischen Autors Karl Heinz Voigt rückt hier nun einiges Vergessene zu Recht ins Licht: nämlich die Exis­tenz und den Beitrag der anderen Kirchen, die leider oft nur als kleine »Freikirchen« oder »Sekten« abgewertet wurden. V. zeigt, wie seit dem 19. Jh. diese Kirchen mit ihren weltweiten Vernetzungen (und ähnlich auch die orthodoxen Ostkirchen) zunehmend das Bild der Christenheit in Deutschland mitprägten. Die Entstehung der verschiedenen konfessionellen Weltbünde, die weltweite Evangelische Allianz und die zahlreichen interkonfessionellen kirchlichen Werke und Verbände wie der YMCA/CVJM, der Christliche Studen tenweltbund usw. haben – wie V. ausführlich belegt – zu einer wachsenden Ökumene in Deutschland geführt.
V. beschreibt erstmals in gut belegter Ausführlichkeit für das 19. Jh. die Bemühungen um eine Einheit unter den deutschen evangelischen Landeskirchen (Kirchentage zur Gründung eines »Deutschen Evangelischen Kirchenbundes«), während die ersten interkonfessionellen Organisationen wie die Evangelische Allianz außerhalb Deutschlands zunächst in Deutschland selbst kaum Resonanz fanden. Zwischen evangelischen Landes- und Freikirchen gab es mehr »Entfremdung statt Zusammenfinden« (37). Die Deutsche Evangelische Kirchenkonferenz, die als sogenannte Eisenacher Kirchenkonferenz in die Geschichte einging, sah in der Vielzahl der Freikirchen und deren ökumenischen Kontakten eine Angelegenheit, welche die deutschen evangelischen Landeskirchen nicht berührte.
Anders waren die interkonfessionellen Berührungen bei den verschiedenen kirchlichen Werken und Verbänden wie der Missionsbewegung, den Jugendbünden, den diakonischen Werken usw., die sich zunehmend international und interkonfessionell aufstellten und so die Vorläufer der modernen ökumenischen Bewegung wurden, auch in Deutschland. Hier schließt V.s Darstellung eine langjährige ökumenische Lücke in der deutschen Kirchengeschichtsschreibung.
In der ersten Hälfte des 20. Jh.s haben vor allem zwei Entwicklungen die ökumenischen Beziehungen der evangelischen Kirchen in Deutschland ökumenisch beeinflusst und auch behindert: Zum einen entstanden mit dem Ersten Weltkrieg und der nachfolgenden Frage der »Kriegsschuld« tiefe Entfremdungen zwischen den Christen verschiedener kriegführender Länder und Konfessionen: Bisweilen wollte man nicht mit den früheren Feinden zusammenarbeiten. Und zweitens hat die Zeit des deutschen Nationalsozialismus die Beteiligung der evangelischen Christen und Kirchen an den verschiedenen ökumenischen Konferenzen und Organisationen wie der Bewegung für »Praktisches Christentum« (Life and Work) und für »Glauben und Kirchenverfassung« mächtig beeinträchtigt.
Im 20. Jh. war es vor allem der »Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen«, der mit und neben den Landeskirchen die Freikirchen einbezog (in dem seit 1931 Dietrich Bonhoeffer mit seinen Kontakten zu England und den USA mitwirkte) und der mit Friedrich Siegmund-Schultze die Kontakte der deutschen Landeskirchen mit den ersten Weltkirchenkonferenzen in Stockholm 1925 und in Lausanne 1927 organisierte. Dieser Weltbund war seinerzeit ziemlich einflussreich, im deutschen Zweig vor allem in der Friedens- und Versöhnungsarbeit. Friedrich Siegmund-Schultze wurde hier mit seiner Tätigkeit als Moderator der verschiedenen Gruppierungen in den Landes-und Freikirchen sowie den Fakultäten und Werken und Verbänden und nicht zuletzt durch seine Zeitschrift »Die Eiche« der markanteste deutsche ökumenische Pionier. Kurz nach Hitlers Machtergreifung musste er ins Schweizer Exil fliehen, wirkte aber von dort aus auch ökumenisch weiter.
V.s Werk konzentriert sich auf den Weg des ökumenischen Gedankens im Protestantismus und hat hier eine einzigartige Bedeutung. Römisch-katholische und orthodoxe Lesende mögen eigene Kapitel über deren Beitrag zur Ökumene in Deutschland vermissen. Aber dieses Fehlen im vorliegenden Werk hat auch sachliche Gründe: Der orthodoxe Beitrag zur Ökumene außerhalb Deutschlands ist immens – und ein eigenes Thema. In Deutschland wurde die orthodoxe Präsenz freilich besonders nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend, als viele osteuropäische orthodoxe Christen im Westen Exil fanden und als einzelne Theologen und als Gemeinden und Kirchen hier ökumenische Partner wurden.
Die römisch-katholische Kirche hatte sich von der beschriebenen modernen ökumenischen Bewegung im 19. und 20. Jh. zu­nächst zurückgehalten und ihren Mitgliedern sogar die Teilnahme daran oder Mitwirkung bei einzelnen Konferenzen verboten. Der beginnende katholische Ökumenismus in Gebetswochen für die Einheit der Christen und die »Una-Sancta-Bewegung« (vor allem in Deutschland) förderten ein ökumenisches Bewusstsein unter katholischen Christen, aber die offizielle lehramtliche Position hielt daran fest, dass diese moderne ökumenische Bewegung eine Einheit sucht, welche bereits in der römisch-katholischen Kirche vorhanden sei und in die die anderen nur zurückkehren müssten. Solche »Rückkehr-Ökumene« wurde erst durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) etwas anders eingeordnet.
Allein dieser Hinweis lässt gespannt sein auf V.s Fortsetzung seines Werkes im zweiten Teil ab 1945: Was bewirkt ökumenisch die »Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen« statt die Arbeitsform eines »Ökumenischen Rates der Kirchen« in Deutschland? Wie wirken in Deutschland die beiden großen Kirchen (die evangelische Kirche und die römisch-katholische Kirche in Deutschland) und die vielen kleinen Freikirchen und die orthodoxen Kirchen theologisch und praktisch zusammen?