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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

907–909

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schmid, Hansjörg, Dziri, Amir, Gharaibeh, Mohammad, u. Anja Middelbeck-Varwick [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche und Umma. Glaubensgemeinschaft in Christentum und Islam.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2014. 291 S. = Theologisches Forum Christentum – Islam, 9. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-7917-2583-3.

Rezensent:

Olaf Schumann

Mit diesem Buch erscheint der Berichtsband über die neunte Tagung des von der Katholischen Diözese Rottenburg-Stuttgart jährlich veranstalteten »Theologischen Forums Christentum-Is­lam«, das diesmal vom 1.–3. März 2013 stattfand. 150 Teilnehmer und Teilnehmerinnen nahmen an ihm teil, viele von ihnen aus religiösen Gruppen, die in ihrer Religionsgemeinschaft eine Sonderstellung einnehmen.
»Das Glaubensleben in und mit der Gemeinschaft ist sowohl im Christentum als auch im Islam ein Grundbestandteil religiöser Praxis« (11). Dieser einführende Satz aus der Einleitung (11–20) mag den Eindruck erwecken, als seien »Kirche« und »umma« leicht vergleichbare Phänomene in beiden Religionen. Doch dem ist nicht so. Das Problem wird deutlich, wenn die Frage nach dem »tertium comparationis« gestellt wird (15 f.). Es kann nicht nur darum gehen, Gemeinsamkeiten und Differenzen zu benennen. Bevor dies geschieht, muss über die »kategorische Basis« verhandelt werden, an der beide Größen zu messen seien. Diese Frage wird in sechs Themenkreisen behandelt, zu denen jeweils von mehreren Verfassern unterschiedlichen Hintergrundes Referate vorgelegt werden: 1. Funktion und Identität der Glaubensgemeinschaft; 2. Glaubensgemeinschaft zwischen Vielfalt und dem Ideal der Einheit; 3. Volk Israel – Kirche – Umma; 4. Der politische Auftrag der Glaubensgemeinschaft; 5. Das Verhältnis der Glaubensgemeinschaft zum Verfassungsstaat in Deutschland; 6. Glaubensgemeinschaft im Horizont der Globalisierung.
Es zeichnet diesen Band aus, dass in nahezu allen Beiträgen die Zeitumstände beim Entstehen und in der geschichtlichen Entwicklung der Glaubensgemeinschaften voll präsent sind, und doch bleiben sie nicht in der Historie stecken. Der Blick richtet sich auf die Relevanz, die die Ergebnisse und Analysen für die heutigen Gläubigen in ihrer regionalen und dort grenzüberschreitenden Umwelt haben. Es ist unmöglich, auf alle Einzelheiten, die in diesem Bande behandelt werden, einzugehen, obwohl sie es wegen des Reichtums der Informationen und Einsichten verdienten. Deshalb seien nur einige wenige herausgegriffen, wobei die Auswahl von der Subjektivität des Rezensenten bestimmt ist.
Maha El Kaisy-Friemuth untersucht in seinem Beitrag »Politische oder religiöse Gemeinschaft? Islamische Verständnisweisen von Umma« eine Reihe einflussreicher Korankommentare seit der klassischen Zeit, dazu auch die »Gemeindeordnung von Medina« (55 f., vgl. auch 166 f.), die als die Grundlage der in Medina entstandenen Gemeinschaft zwischen mit Muhammad aus Mekka emigrierten Anhängern und den arabischen Stämmen in Yathrib (alter Name von Medina), die sie in ihrer Mitte aufnahmen, gilt. Dieser Beitrag ist als »erste Stellensichtung« (275) der divergierenden Bedeutungen, die der Begriff umma haben kann, gedacht. Als solcher bietet er sich als Grundlage und Orientierung für alle weiteren Ausführungen zu diesem Begriff an, insbesondere, wenn es um einen Vergleich mit der christlichen Kirche geht. Umma ist die »Glaubensgemeinschaft«. Das war in Mekka die gemeinsame Be­zeichnung für Juden, Christen und die Anhänger Muhammads als »mu’minûn«, Gläubige. Für den innerislamischen Diskurs wäre eine Gegenüberstellung von umma und dem Begriff »dîn«, »Religion« bzw. »Religionsgemeinschaft«, sowie »madîna«, »Lebensraum einer Religionsgemeinschaft« hilfreich gewesen. Die »Glaubensgemeinschaft (umma) ist eine«, so sagt es par. 1 der »Gemeindeordnung«, und so wird es par. 25 wiederholt (56). Das entspricht auch Sura 21,92 (47). Doch scheint es in Spannung zur Aussage zu stehen, dass Juden und Muslime einer verschiedenen »Religion« (dîn) anhängen, ebenfalls par. 25, und, als Konsequenz zu ergänzen, eine verschiedene »madîna« bilden. Das wird m. E. bei der Verhältnisbestimmung von jüdischer Gemeinschaft und islamischer madîna in Yathrib zu wenig beachtet: Wurden die Juden wirklich Teil der madîna – und das war in Yathrib die madînat an-nabî, die madîna Muhammads –, wie gelegentlich in der Literatur angenommen wird? Par. 25 nennt die jüdischen Banû‘Auf als Teil der »umma der Gläubigen«, nicht aber der »umma der Muslime«, und darauf folgt die Feststellung über die verschiedene Religion (dîn) von Juden und Muslimen, vgl. 57: den Juden ihre Religion, den Muslimen ihre Religion. Die »Einheit der umma« verweist auf die Einheit im Glauben an den Einen Gott, die Unterschiedlichkeit der »Religion« be­tont die Trennung als soziale und politische Größen je in der Nachfolge eines bestimmten Propheten. Worin steckt die Relevanz dieser Aussage heute? Erst nach Muhammads Tod wurde umma zunehmend exklusiv für die islamische Gemeinschaft gebraucht, während sich als Bezeichnung der (monotheistischen) Nicht-Muslime der aramäische Begriff milla (auf türkisch: millet, »Religionsgemeinschaft«) durchsetzte, vor allem im späteren Staatsrecht. So wundert es nicht, dass Christian Polke darauf hinweist, dass manche muslimischen Gelehrten dort, wo es um Rechtsfragen – etwa das Verhältnis zum Staat – geht, »nicht vom Umma-Gedanken, sondern vom Begriff der milla […] ausgehen« (232). Noch schärfer urteilt Ertuğrul Şahin: »Der Existenzbehauptung der Umma bleibt nach einer nüchternen Aufnahme der Realität nichts anderes übrig, als sich entweder mit der Bezeichnung der Glaubensgemeinschaft und der Spiritualität […] als einzigem Kriterium zu begnügen oder sich aufzulösen.« (265) Damit bleibt die Frage nach ihrer gesellschafts-politischen Vertretung offen. Auf eine andere Option sei nur verwiesen: Unter Rückgriff auf die islamischen Philosophen, die unter Aufnahme der Gedanken Platons zur πόλις das Konzept der madînat an-nabî weiter zur madîna fâḑila (»die vorzügliche madîna«) entwickelten und damit die spätere westeuropäische Debatte um die société civile beeinflussten, bietet sich auch der Begriff madîna an; in den biblischen aramäischen Schriften bedeutet er eine weitgehend autonome Provinz im Persischen Reich. Im modernen Arabisch steht er für »Stadt«, im Ivrit für »Staat«.
In christlich-islamischen Dialogen, aber auch im jüdisch-christlichen theologischen Gespräch ist oft betont und mit verschiedenen Argumenten unterstrichen worden, dass solche Gespräche ein Torso bleiben, solange der dritte Partner nicht an ihnen teilnimmt, eine Einsicht, zu der bereits Lessing und Moses Mendelssohn kamen. Dieser Einsicht wird im dritten Teil dieser Dokumentation (151–176) voll Rechnung getragen, mit einem kleinen Manko: Es fehlt die jüdische Originalstimme, trotz eingehender Zitate aus kompetenten jüdischen Quellen. Zukunftweisend erscheint der Hinweis von Nekroumi (176, unter Bezug auf S. Horsch-Al Saad, 168 f.) auf das (mögliche) Werden einer »intertextuellen Gemeinschaft«, in der sich die verschiedenen Akteure um Erkenntnis bemühen, »wie sich das Zusammenleben der Textgemeinschaften durch das wechselseitige Wirkungsverhältnis im Geflecht des Handlungs- und Deutungsprozesses vollzieht und verändert« (176). So kann sich die von Gott gewollte monotheistische Gemeinschaft als vielstimmige Schöpferlobpreisung bunter Vielfalt verstehen, wobei der strenge Textbezug ein Abgleiten in eine naive Relativierung theologischer Konzepte verhindert.
Es ist eine äußerst interessante und facettenreiche Dokumentation, die hier vorliegt und nicht nur zu intensiver Lektüre, sondern auch zu weiteren Diskussionen einlädt. Sie kann nur nachdrücklich allen an einer gesunden pluralen und gesprächsfähigen Gesellschaft Interessierten empfohlen werden.