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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1520–1521

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dietz, Alexander, u. Stefan Gillich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Barmherzigkeit drängt auf Gerechtigkeit. Anwaltschaft, Parteilichkeit und Lobbyarbeit als Herausforderung für Soziale Arbeit und Verbände.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 284 S. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-374-03337-9.

Rezensent:

Johannes Eurich

Der »klassische« Sozialstaat der Nachkriegszeit mit seinen starken korporatistischen Elementen und der privilegierten Stellung der Wohlfahrtsverbände wurde seit den 1990er Jahren sukzessive nach dem Leitbild des aktivierenden Staates umgebaut. Die Einführung wettbewerblicher Elemente in immer mehr sozialen Handlungsfeldern führte nicht nur zur Dominanz ökonomischer Kriterien in der Erstellung von Dienstleistungen, sondern veränderte auch die Stellung der Wohlfahrtsverbände innerhalb der bisherigen So­zialpartnerschaft mit dem Staat. Die bis dato von den Verbänden wahrgenommene Interessenvertretung sozial benachteiligter Menschen, die sogenannte Sozialanwaltschaft, wurde nun kritisch hinterfragt, denn die Anbieter von sozialen Diensten könnten nicht stets gleichzeitig die Anwälte ihrer Nachfrager sein. Verbandliche Lobbyarbeit zugunsten von Verlierern gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse geriet so in eine defensive Lage, zumal sie sich auch noch mit dem Vorwurf des Paternalismus auseinandersetzen musste.
In diese Situation hinein erläutert der Sammelband Positionen verbandlicher Anwaltschaft. Das Buch ist von Praktikern und Wissenschaftlern geschrieben und bietet eine gute Einführung in die Spannungsfelder von Lobbying, Sozialanwaltschaft und parteilicher Arbeit. So erinnert Stefan Gillich in dem eröffnenden Beitrag über »Lobbyarbeit, Anwaltschaft, Parteilichkeit« an die grundsätz-liche Parteilichkeit sozialer Arbeit im Sinne der Hilfe zur Ermächtigung betroffener Menschen und führt in unterschiedliche Anwaltsfunktionen ein. Bereits hier kommt das Gemeinwesen als Zielperspektive anwaltschaftlichen Handelns in den Blick, ebenso wie die eigenen Interessen als Dienstleister in potentieller Spannung dazu wahrgenommen werden. Die Notwendigkeit des Einsatzes für marginalisierte oder von Armut betroffene Menschen macht Wolfgang Gern anhand der Stichworte »Option für die Armen – Menschenrechte – Armut bekämpfen« deutlich. Dieser eher auf die politische Ebene zielende Beitrag unterstreicht den Zusammenhang von Ge­rechtigkeit und Armutsbekämpfung und erkennt den Schwächsten die gleiche Würde zu wie den Stärksten. Mit welchen Ansätzen dies umzusetzen ist, untersucht Peter Szynka in seinem Beitrag »An­waltschaft versus Empowerment, Selbstorganisation und Selbsthilfe?«. Szynka spannt den Bogen zurück zu Saul Alinskys Ansatz des Community Organizing und verdeutlicht, dass hier kein wirklicher Gegensatz besteht, sondern anwaltschaftliches Handeln auf die Gemeinwesen-Entwicklung bezogen sein sollte. Freilich tauchen auch hier personenbezogene soziale Dienstleistungen in Spannung dazu auf. Entsprechend differenziert Katharina Wegner in ihrem Beitrag zur »Lobbyarbeit bei der Europäischen Union« zwischen den eigenen verbandlichen Interessen und den Interessen anderer. Dieselbe Perspektive wird von Bernd Schlüter hinsichtlich der »Rolle des Sozialrechts bei der Interessenvertretung der Wohlfahrtsverbände« eingenommen, wobei Schlüter das Sozialrecht als Interessenvertretung versteht und kritische Blicke auf die Unterscheidung zwischen förderungswürdigen und -unwürdigen Gruppen wirft. Markus Lin­den unterstreicht diese Perspektive, indem er die politische Repräsentation schwacher Interessen anhand des Theorems der »Issuefähigkeit« innerhalb des politikwissenschaftlichen Diskurses herausarbeitet. Stärker praxisbezogen geht dagegen Alexander Dietz vor, der »Un­günstige Rahmenbedingungen für verbandliche Sozialarbeit« darstellt. Die unterschiedlichen Funktionen verbandlicher Arbeit als Sozialdienstleister, Sozialanwalt und Solidaritätsstifter werden gut in ihrer Komplexität dargestellt, jedoch nicht in Bezug auf die unterschiedlichen Ebenen (Dachverband und Dienstleister) und die daraus erwachsenden Konsequenzen hinreichend differenziert. So kommt die Ökonomisierung sozialer Dienste vor allem als Fehlentwicklung in den Blick – hilfreicher wäre es zu überlegen, wie Sozialanwaltschaft mit neuen Formen etwa des Socialentrepreneurs verbunden werden könnte.
Einen kurzen Überblick über Praxisregeln bieten anschließend Albert Schmidt und Michaele Hustedt mit ihren »12 ›Goldene Regeln‹ für gute Lobbyarbeit«. Roland Pelikan nimmt den Faden von Alexander Dietz wieder auf und untersucht die Spannung zwischen Dienstleister und Sozialanwalt. Schon die Überschrift »Eigene Glaubwürdigkeit als Voraussetzung für soziale Forderungen« zeigt das Problembewusstsein, welches Pelikan über grundlegende Reflexionen zu theologischen Grundlagen der Diakonie einbringt. Es folgen einige Beiträge zu Praxisbeispielen: Hildegund Niebch stellt »Voraussetzungen erfolgreicher Lob­byarbeit und Anwaltschaftlichkeit am Beispiel der Flüchtlingsarbeit und kritische Überlegungen« vor, Maria Loheide wechselt mit ihrem Thema »Sozialpolitisches Lobbying der Diakonie Deutschland« auf die politische Bühne, Horst Rühl diskutiert »Gesellschaftliche Diakonie auf der Ebene eines Landesverbandes am Beispiel der Pflege«, Peter Nickel und Wilfried Kehr stellen kirchliche bzw. diakonische Sozialanwaltschaft auf Kirchenkreisebene dar und Ursula Stegemann plädiert für eine »Politische Tafelarbeit«.
Dazwischen ist noch ein Beitrag von Dieter Oelschlägel über Gemeinwesenarbeit und Lobbyismus platziert, der aufzeigt, dass Lobbyarbeit als Teil von Gemeinwesenarbeit zu verstehen ist, sofern sie transparent und parteilich geschieht. Wie kreativ auf bestehende soziale Missstände aufmerksam gemacht werden kann, wird bei »Kunst trotz(t) Armut« von Andreas Pitz deutlich. Den Schlusspunkt setzen Jens Rannenberg und Rolf Keicher mit ihrem Plädoyer, für die Verwirklichung bestehender Rechte am Beispiel der Wohnungslosenhilfe zu streiten.
Den Band zeichnen die vielen unterschiedlichen Perspektiven auf Lobbyarbeit und Sozialanwaltschaft aus, die zu großen Teilen eine hohe Praxisrelevanz besitzen. Er ist als Einführung in die heutigen Spannungsfelder verbandlicher Anwaltschaftlichkeit gut geeignet und stellt einen wichtigen Beitrag zu dieser Diskussion aus der Perspektive eines Wohlfahrtsverbands dar. Überraschend ist, dass die vor allem im katholischen Bereich (Caritaswissenschaft) diskutierten Modelle zur Lösung der Spannung zwischen Dienstleister und Sozialanwalt überhaupt nicht vorkommen. Dies zeigt zugleich auch ein Manko des Bandes an: Er verbleibt zu sehr in der Darstellung der eigenen verbandlichen Aktivitäten wie der Herausforderungen, die sich dabei stellen, ohne herauszuarbeiten, wie die unterschiedlichen Funktionen etwa als sozialer Dienstleister und als Sozialanwalt im Miteinander von Dienstleistungsorganisationen und Dachverband konzeptionell gefasst werden können. So werden die unterschiedlichen Interessen, die es innerhalb eines Wohlfahrtsverbands gibt, lediglich als Spannungsfeld gekennzeichnet. Zudem hätte eine gründliche Analyse sozialer Ungleichheit zu Beginn des Bandes die Notwendigkeit sozialer Anwaltschaft deutlicher unterstrichen. So stellt der Band einen wichtigen Diskussionsbeitrag aus einer verbandlichen Perspektive dar, der zwischen den unterschiedlichen Polen verbandlicher Arbeit changiert: mal kommt der Verband als Berater der Politik in den Blick, mal als deren Kritiker, mal als deren Vertragspartner als Dienstleistungserbringer.
Man wünscht sich einen Folgeband, der die hier bereits angedeuteten Perspektiven hinsichtlich einer Zukunftsvision verbandlicher Sozialanwaltschaft und Lobbyarbeit fortschreibt: Denn ohne eine konsequente Subjektorientierung mit dem Ziel, aus Betroffenen Beteiligte zu machen, und Wegen, wie dies mit kollektiven Strategien verzahnt parteilich und zugleich transparent umgesetzt werden kann, ist Sozialanwaltschaft nicht zukunftsfähig. Die im Band versammelten Beiträge zeigen hier Ansätze, die es weiterzuentwickeln gilt.