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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1249–1251

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Staab, Nicolai

Titel/Untertitel:

Rumänische Kultur, Orthodoxie und der Westen. Der Diskurs um die nationale Identität in Rumänien aus der Zwischenkriegszeit.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2011. 382 S. m. 1 Abb. u. zahlr. Tab. = Erfurter Studien zur Kulturgeschichte des orthodoxen Christentums, 5. Geb. EUR 62,80. ISBN 978-3-631-60357-4.

Rezensent:

Stefan Tobler

Die Ausgangsbeobachtung dieser Studie formuliert Nicolai Staab in Anknüpfung an den rumänischen Historiker Lucian Boia so: »Eine Überzeugung oder ein Gefühl der Verbundenheit der eigenen Ethnizität mit der Religionszugehörigkeit, bei gleichzeitig nicht notwendigerweise hoher Frömmigkeit […], muss erst konstruiert worden sein.« (19) Die gezielte Ausarbeitung eines »orthodoxen ethnischen bzw. nationalen Identitätscodes« in Rumänien für die Zwischenkriegszeit soll auf­gewiesen werden. Dafür werden die Texte von sechs bedeutenden Intellektuellen analysiert: Nichifor Crainic (1889–1972), Nae Ionescu (1890–1940), Lucian Blaga (1895–1961), Du­mitru St ăniloae (1903–1993), Mircea Vulcănescu (1904–1952) und Mircea Eliade (1907–1986).
Im ersten Kapitel (13–29) wird die Problemstellung skizziert. Der »Orthodoxismus« als eine Lebenseinstellung, die dem orthodoxen Glauben normativen Einfluss über viele gesellschaftliche Bereiche einräumt, hat in Rumänien in der Zwischenkriegszeit eine Blüte erlebt, als das Land auf der Suche nach seiner nationalen Identität war. Die sechs genannten Intellektuellen lassen sich bei allen Unterschieden dieser Strömung zuordnen. Identitätsbildung ge­schieht durch die Konstruktion der Andersheit (24), und im Prozess der Selbstklassifikation wird oft mit einem binären Schema gearbeitet, in dem das Eigene dem Fremden gegenübergestellt wird. Eine solche Klassifikationspraxis ist tendenziell asymmetrisch. Mit der Methode einer »qualitativen, framing-bezogenen Diskurs­analyse« (73) soll »die Rolle von Religion in der […] nationalen Identitätsbildung […] aus einer religionswissenschaftlichen und soziologischen Perspektive behandelt« (25) werden, wobei drei Ausgangsthesen leitend sind: »Durch ihre Transformation in nationale Mythen, Werte, […] unterstützt Religion eine asymmetrische Klassifikationspraxis«, 2. die »Orthodoxie trägt im Identitätsdiskurs zur Sakralisierung des nationalen Selbstbildes bei« und 3. dient im Falle von Widersprüchen die Religion als Mittel zu deren Aufhebung (26 f.).
Die Begriffe und die Methode werden im zweiten Kapitel (31–73) näher präzisiert, unter Bezugnahme auf einschlägige Literatur (zum Identitätsbegriff und dem binären Klassifikationsschema vor allem bei R. Eickelpasch/C. Rademacher). Mit diesem Instrumentarium soll die Konstruktion einer rumänischen nationalen Identität und deren Bezug auf die Orthodoxie veranschaulicht werden.
Ein ausführlicher historischer Überblick (75–158), unter Rückgriff auf bestehende Forschungsresultate, beschreibt den ge­schichtlichen Vorlauf und den kulturellen und politischen Kontext des zu analysierenden Diskurses und führt kurz in das Leben der sechs Persönlichkeiten ein.
Das Herzstück der Arbeit ist Kapitel 4, das drei Themenblöcke umfasst: »Der Stellenwert der Orthodoxie«, »Orthodoxie und Volkskultur«, »Religion im nationalen Identitätsdiskurs: coincidentia oppositorum mit Sakralisierungsfunktion?«. Neben den Büchern der sechs Intellektuellen werden deren Aufsätze in zehn wichtigen Periodika in die Analyse einbezogen. Als Resultat ergibt sich eine Fülle von Begriffspaaren rund um die nationalen Selbst- und Fremdbilder, wobei dieses binäre Klassifikationsschema im An­hang (326–342) für jeden Diskursbeteiligten nochmals separat zu­sammengefasst wird. Unter wechselnden thematischen Schwerpunkten vervollständigt S. das Bild Stück für Stück, wobei oft auch noch die Ideen anderer Intellektueller jener Zeit mit berücksichtigt werden. Von der Fülle inhaltlicher Elemente sei nur die berühmte Diskussion angesprochen, was es heißt, ein »guter Rumäne« zu sein: Muss man dafür orthodox sein, oder kann ein griechisch-katholischer Rumäne auch als solcher gelten, noch ganz abgesehen von ethnischen Minderheiten (208–222)? – Eine kurze Zusammenfassung (319–321) schließt den Textteil ab, während im Anhang außer dem genannten Schema und dem Literaturverzeichnis eine statistische Übersicht über die Religionen (324 f.) und eine nütz-liche Synopse von politischen Ereignissen und literarischen Publikationen der Jahre 1918–1938 (343–356) das Bild ergänzt.
Man versteht das heutige Rumänien besser, wenn man das Buch gelesen hat. Heutige Abwehrreaktionen gegen die Vorherrschaft westlicher Lebensstile und Weltanschauungen haben nicht erst seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der plötzlichen und noch kaum verarbeiteten Übernahme kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen und entsprechender Gesellschaftsmodelle eingesetzt, sondern haben ihre Wurzeln in der Zeit, in der Rumänien ansatzweise und unter schwierigen Umständen seine nationale Identität zu entwickeln suchte.
Unbestreitbar ist das Verdienst von S., eine große Anzahl von Quellen umfassend aufgearbeitet zu haben. Nicht nur für den deutschen Sprachraum, sondern auch für Rumänien ist dies einzigartig. In dieser großen Materialsammlung verliert der Leser allerdings auch gelegentlich den Überblick, nicht zuletzt wegen der inhaltlichen Überschneidungen, die zwischen den einzelnen Abschnitten bestehen, und wegen des Versuchs, alle gesammel-ten Bausteine irgendwo unterzubringen. Darum leuchtet auch manchmal die Verbindung von Untertitel und Inhalt nicht ein (z. B. 147 f.155–158). Einige Exkurse (zu Harnack, 185 f., und zu Nietzsche und Scheler, 177 f.) stören den Gedankenlauf eher. Die Übersicht zur Geschichte Siebenbürgens (77 f.) ist hingegen verkürzt, ja fehlerhaft. Doch wie überzeugend und ertragreich ist die gewählte Methode? Das durch ein solches binäres, asymmetrisches Klassifikationsschema erfasste Denken dient der Abgrenzung – man kann sogar von »Erscheinungsformen ethnischen oder kulturellen Rassismus« (24) sprechen.
Dass S. dieses Schema für die Behandlung der sechs rumänischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit verwendet, bedeutet, dass sie zum Vorneherein unter diesem spezifischen Blickwinkel analysiert werden, indem vor allem dasjenige gesammelt wird, was die Ausgangsthesen bestätigt (so ausdrücklich: 65). Da die Referenzautoren zudem bereits mit dem Kriterium ausgewählt wurden, mit dem »Orthodoxismus« in Verbindung zu stehen, ist es nicht verwunderlich, dass auch entsprechende »Nachweise« gefunden werden. Das Ergebnis ist darum nicht weiter erstaunlich, nämlich dass »die Orthodoxie von den behandelten Diskursbeteiligten als Mittel zur Abgrenzung der eigenen Nation von anderen und zur asymmetrischen Klassifikation eingesetzt wird« (294). In diesem Sinn wäre es wohl korrekter, nicht von Thesen zu sprechen (die verifiziert oder falsifiziert werden könnten), sondern von Perspektiven, unter denen die Beiträge der Diskursteilnehmer erfasst werden. Zudem werden diese Personen nicht in ihrer Entwicklung und im theologischen oder philosophischen Zusammenhang ihrer Ideen beschrieben, sondern immer nur punktuell zu einzelnen Themen und immer nur im Hinblick darauf, wo sie ihre Gedanken in Form von Abgrenzungen und Gegenüberstellungen ausdrücken. Ein binäres Schema ergibt ein buntes Puzzle, aber keine Linie.
Das Ergebnis, dass sich Völker auch aufgrund ihrer Religion selbst definieren, ist nichts Neues; ebenso wenig, dass sie sich gegen andere abgrenzen und dabei auch abwertende Urteile fällen. Dies kann von einzelnen Vertretern zur Sakralisierung von politischen Ideen missbraucht werden. Der unbestreitbare Befund, dass es in Rumänien solche Konstruktionen gab, soll aber nicht zur Schlussfolgerung führen, dass jede Verbindung von Orthodoxie und rumä-nischem Volk ›konstruiert‹ ist – was S. so allgemein zwar nicht be­hauptet, aber als Gefahr seines methodischen Ansatzes (z.B. Images und Identitätscodes, 41–47) angesprochen werden soll.
Als Theologe sagt der Rezensent deshalb: Man lernt in diesem in­haltsreichen Buch kaum etwas Neues über die Religion im Allgemeinen oder die Orthodoxie im Speziellen, aber man lernt viel über Rumänien, über wichtige geistige Strömungen und über das Selbstbild des Volkes, wie es heute durchaus noch angetroffen wird.