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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1218–1219

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Graulich, Markus, u. Martin Seidnader [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Unterwegs zu einer Ethik pastoralen Handelns.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2011. 175 S. Kart. EUR 16,80. ISBN 978-3-429-03436-8.

Rezensent:

Volker A. Lehnert

Pastorales Handeln predigt nicht nur Ethik, pastorales Handeln bedarf auch selbst ethischer Reflexion, steht hier doch die Glaubwürdigkeit der Kirche auf dem Spiel. Der anzuzeigende Band bietet eine Sammlung von Beiträgen katholischer Autoren und bezieht sich, ausgehend von den Missbrauchsskandalen im Jahre 2010, im Wesentlichen auf die katholische Kirche. Gleichwohl bietet er eine Fülle von Anregungen, die auch die evangelische Pastoraltheologie bereichern. Im Einzelnen:
Lothar Wehr fasst exegetische Aspekte neutestamentlicher Ethik unter dem Leitmotiv der Predigt Jesu von der Gottesherrschaft zusammen. Jesus radikalisiert das Gebot der Nächstenliebe in der Feindesliebe, für Paulus impliziert das Liebesgebot Verzicht auf das eigene Recht, die Apokalypse ruft auf zur Bewahrung der Reinheit. Konsequenz für die pastorale Praxis: Die rigorose Ethik des Neuen Testaments darf nicht unter dem Vorwand der Gesetzlichkeit entschärft werden. Sie zielt vielmehr auf die tatsächliche Verwirklichung des Willens Gottes. Darin besteht die Gegenwart der Gottesherrschaft.
Markus Graulich reflektiert den Zusammenhang zwischen Ethik und Kirchenrecht, dem eine »ethosstützende Funktion« (25) zukommt. Liebe, Gnade und Charisma gehen dabei dem Recht immer voraus. Das Recht dient der Entfaltung und nicht der Bevormundung des allgemeinen Priestertums. Das schließt »Pfarr-Herren-Mentalität« (31) aus. Das Volk Gottes ist Rechtsgemeinschaft und ethische Bewährungsgemeinschaft.
Maria Widl plädiert für eine lebensweltbezogene Pastoral. Das Christsein muss wieder als »umfassende Lebensperspektive« (49) entworfen werden. Praktische Theologie muss in diesem Sinne realitätsbezogene »Evangelisierungswissenschaft« für die Postmoderne werden.
Heribert Wahl macht einige beziehungsethische und psychoanalytische Einsichten für die Pastoral fruchtbar. Pastoral muss fundamental auf die »Subjektwerdung im Glauben« und nicht »primär auf Kirchlichkeit« (74) abzielen. Kirche muss daher empathisch, mystisch, geschwisterlich und politisch-diakonisch sein. Die traditionelle »Betreuungspastoral« (79) ist zu überwinden.
Thomas Menamparampil eröffnet – stark an das Projekt Weltethos erinnernd – weltkirchliche und interreligiöse Perspektiven und benennt interkulturell und -religiös gemeinsame Werte wie Verantwortung, Liebe, Altruismus, Familie, Gemeinschaft, Menschlichkeit etc. Die Liebe Gottes zeige sich in der Übernahme von Verantwortung für andere.
Martin Seidnader charakterisiert die Kirche als »societas imperfecta« (102). Seelsorge ist einerseits der Wahrhaftigkeit und der gelebten Sittlichkeit verpflichtet und muss andererseits doch zugleich immer wieder ihr eigenes Scheitern anerkennen. Sie hat sich in erster Linie geschichtlich und nicht dogmatisch zu verstehen und vollzieht sich daher erfahrungsoffen und dialogbereit.
Karl Hillenbrand stellt einige ethische Anfragen an die gegenwärtige Pries­terausbildung, insbesondere an die gegenseitige Verwiesenheit von »Humanum« und »Christianum« (118). Zu reflektieren sind die Bereiche Nachreifung und Aufarbeitung von Persönlichkeitsdefiziten sowie ein erweitertes Verständnis von Berufung. Zwar repräsentiere der Priester Christus als das Haupt der Kirche, dies bedeute aber keinesfalls eine Höherstellung, sondern eine »Hinordnung auf die Gemeinschaft«, die auf den Grunddynamiken von Kommunikation und Kooperation beruht. Dabei gehe es um affektive Reife und nicht allein um einen Verzicht auf Sexualität. Der Priester bringe in seinen »Übersetzungsdienst der Pro-Existenz Jesu sein ganzes Leben« ein einschließlich seiner eigenen Schattenseiten. Hier muss Glaubwürdigkeit vor moralischer Vollkommenheit stehen. Vor allem Dienst steht die Erfahrung, dass Gott »aufrichtet, rettet und heilt« (125).
Wunibald Müller geht der schwierigen Frage der Vergebung bei Missbrauch nach. Die narzisstische Persönlichkeitsstruktur, die ihre dunkle Seite verdrängt, hat oft ein eingeschränktes Schuldbewusstsein. Wenn Schuldgefühle oder Schuldbewusstsein auftauchen, reicht die klassische Beichte nicht aus, sondern muss von psychotherapeutischer Beratung vorbereitet werden. Die Beichte verstärkt auf diese Weise einen therapeutischen Prozess und besiegelt ihn sakramental.
Andreas Müller-Cryan skizziert unter dem Stichwort »Seelsorge am Karsamstag« die hohe Relevanz der Notfallseelsorge für die Pastoraltheologie zwischen dem »Nichtmehr und Nochnicht« (149) aus der Perspektive der österlichen Hoffnung.
Christine Pollmann steuert Perspektiven aus der Klinikseelsorge bei. Hier werden an die in der Pastoral Tätigen besonders hohe Anforderungen gestellt. Spezielle Ausbildungen sowie enge Kooperation zwischen Seelsorgern, Ärzten und Pflegepersonal sind erforderlich. Pollmann plädiert darüber hinaus für die Pflege eines Lebens »neben der Arbeit« (156).
Jürgen Erbacher reflektiert die Rolle der Medien, die die »entscheidende Voraussetzung für die Entstehung von Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung« darstellen (160). Ins Zentrum des medialen Interesses rücken seines Erachtens Menschen, »die die Ideale einer Organisation authentisch leben« (170). Medien halten der Kirche einen »Spiegel vor« (172) und fördern auf diese Weise die Ethik pastoralen Handelns.
Alles in allem bietet der Band eine Vielzahl bedenkenswerter As­pekte. Nicht alles ist neu, aber vieles bedarf durchaus der Wiederentdeckung. Bis zu einer dringend erforderlichen umfassenden Pastoralethik im Sinne der neutestamentlichen Kategorie der Heiligung ist sicherlich noch ein langer Weg zurückzulegen, aber diese lesenswerte Aufsatzsammlung ist ja auch selbsterklärtermaßen lediglich »Unterwegs zu einer Ethik pastoralen Handelns«.