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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1145–1147

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hazony, Yoram

Titel/Untertitel:

The Philosophy of Hebrew Scripture.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2012. 286 S. m. 1 Abb. Kart. US$ 26,99. ISBN 978-0-52117667-5.

Rezensent:

Wolfgang Oswald

Der Autor Yoram Hazony ist im deutschsprachigen Raum eher unbekannt, in Israel und im englischsprachigen Raum aber ein vielgelesener Publizist. Der Gründer zweier think tanks in Jerusalem, des Shalem Center und des Herzl Institute, gehört dem konservativen Lager an, eine Zeitlang war er Berater von Benjamin Netanjahu. Er schreibt über aktuelle Themen des heutigen Israel, über philosophische Grundfragen des Judentums, aber auch und nicht zuletzt über die Hebräische Bibel.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen im ersten Hauptteil des Buches (»Reading Hebrew Scripture«) ist die »reason-revelation dichotomy«, die dazu führe, dass die Hebräische Bibel stets als Offenbarung gelesen wurde und wird und nicht als das, was sie eigentlich ist, nämlich ein Werk der Vernunft: »I will argue that the Hebrew Scriptures can be read as works of philosophy […] con-cerning the nature of the world and the just life for man.« (4) H. beschränkt sich dabei nicht nur ausdrücklich auf die Hebräische Bibel, er setzt diese auch sehr pointiert vom Neuen Testament und der gesamten christlichen Tradition bis hin zu den Aufklärungsphilosophen ab. Aber auch die historisch-kritische Forschung, die doch den offenbarungskritischen Ansatz teilt, lehnt er ab, denn diese erachte die Hebräische Bibel als das Ergebnis von Pfusch und Missbrauch (»centuries of tampering and abuse by anonymous scribes«, 18).
H.s exegetischer Ansatz besteht demgegenüber in der Befragung des Endtextes nach den darin enthaltenen Ideen. Als Ge­währsleute nennt er Robert Alter, Meir Sternberg, aber auch Brevard Childs, John Barton und einige mehr (20). Schwerpunktmäßig be­handelt H. die Bücher Genesis bis Könige, die seiner Meinung nach eine »His-tory of Israel« bieten. Philosophisch sei diese »His-tory«, weil sie in typologischer Manier elementare Möglichkeiten des Menschseins darbiete, etwa die Hirte-Bauer-Typologie, die ausgehend von Kain und Abel die gesamte Hebräische Bibel durchziehe. Weiter sei der Gott, der in Gen–Kön zur Sprache kommt, nicht allein der Gott Is-raels, sondern der Schöpfer von Himmel und Erde, weshalb alles Gesagte für die gesamte Menschheit gelte und daher Philosophie genannt werden könne. Die Texte der Hebräischen Bibel enthielten »political, moral, and metaphysical truths of a general nature« (23). Sie seien »instructional narrative« und lehrten die Menschen – in Aufnahme einer Formulierung von Leon Kass – »not what happened, but what always happens« (79).
Zwei Fragen drängen sich auf: Wie kann ein Werk, das in paradigmatischer Weise erzählt, was immer geschieht, zugleich Ge­schichtsschreibung sein? Und: Machen jene literarischen Eigenarten, auf die H. hinweist, die Hebräische Bibel tatsächlich zu einem philosophischen Werk? H.s Auslegungen sind weder konsequent historisch noch konsequent philosophisch. Immer wieder rekurriert er auf ein bestimmtes historisches Modell, das für sein Verständnis grundlegend ist: Das literarische Werk Gen–Kön sei während der Exilszeit entstanden mit dem Ziel »of preventing the disappearance of the Jews as a people after the destruction of Judah and Jerusalem and their exile from the land.« (22) Historisch wahrscheinlich sei, dass – wie es auch der Talmud sagt – Jeremia oder einer seiner Schüler der »final author« (37 f.) war. Sein Anliegen war es, »to prepare the Jews for their ultimate return to their land« (58). Meines Erachtens lassen sich die vielen Texte in Gen–Kön nicht in diesem historischen Kontext erklären, und noch weniger legt die von H. vorgeschlagene Intention nahe, dass es in den Texten um Philosophie geht.
Im zweiten Teil des Buches (»The Philosophy of Hebrew Scripture: Five Studies«) versucht H., seine Grundlegung in fünf thematischen Blöcken zu substanziieren. Dies soll hier am Beispiel der »Political Philosophy« (140–160) der Bücher Gen–Kön dargestellt werden.
H. betrachtet dazu vor allem das Königsgesetz Dtn 17,14–20, die Diskussion um die Monarchie 1Sam 8 und die Salomoerzählungen 1Kön 3–11. Das Zugeständnis Gottes an Samuel, einen König einzusetzen (1Sam 8,7), kommentiert er mit den Worten: »The Jews are to have their state« (150). Das politiktheoretische Ideal der »History« sei in den Passagen über den jungen Salomo zu finden. Hier sei Israel unabhängig und stark (»Israel has won all its wars«, 156) und zugleich sein König bescheiden und nicht überheblich.
Hier zeigt sich, dass H.s Buch eher auf Teilhabe an aktuellen Diskursen zielt und weniger auf die differenzierte Rekonstruktion historischer Diskurse. Die Königebücher sagen präzise, wer die besten Könige waren: Hiskia (2Kön 18,5–6) und Josia (2Kön 23,25) sowie David als großes Vorbild, von Salomo wird solches nicht gesagt. Und überhaupt ist das Staatsideal der Hebräischen Bibel im Pentateuch zu finden, aber in diesen Texten steht das Gesetz an der Stelle, an der sonst im alten Orient und im alten Israel der König stand.
Die exegetische Durchführung seines Programms will H. nicht recht gelingen, und das ist schade, denn er hat im Prinzip Recht, wenn er die Hebräische Bibel als ein Werk der Vernunft versteht. Kategorien wie »Offenbarung« oder »Glaube« taugen in der Tat nicht, ein angemessenes Verständnis der Hebräischen Bibel zu erlangen. Zutreffend ist auch H.s Hinweis, dass die Tatsache, dass Gott redet, nicht bedeutet, dass irrationale Inhalte vermittelt werden sollen. Fraglich ist aber, ob die Rationalität der Hebräischen Bibel mit Allgemeinbegriffen erfasst werden kann, die Kategorie »Philosophie« scheint als Generalschlüssel genauso wenig geeignet wie »Theologie« oder »Geschichtsschreibung«. Vielmehr muss man für jedes Buch der Hebräischen Bibel individuell ermitteln, welche Inhalte es vermitteln will. Und wenn es die Inhalte nahelegen, muss man gegebenenfalls auch literarkritisch differenzieren. Die Bücher Gen bis Kön der Hebräischen Bibel sind in der Tat »instructional narrative«, aber die Instruktionen ergehen mal aus der Sicht Ephraims, mal aus der Sicht Judas, mal aus der Sicht von Laien, mal aus der Sicht von Priestern. In der Urgeschichte geht es in der Tat um das Menschsein an sich, aber anderwärts sehr viel konkreter um die Gesetzgebung und um den Kult in Israel.
Der Versuch, sich dieser thematischen und positionellen Vielstimmigkeit zu entziehen, kann nicht gelingen. Grundsätzliche Einsichten philosophischer oder theologischer Art lassen sich aus der Hebräischen Bibel nicht gewinnen, indem man ihre historisch gewordene Vielfalt ignoriert. Statt zu behaupten, die Hebräische Bibel mache allgemeine Aussagen, wäre es sicher sachgemäßer zu sagen, sie mache ausgehend von der individuellen Aussage eines jeden Textes verallgemeinerbare Aussagen. Das führt dann aber nicht zu einer »Philosophie der Hebräischen Schrift«, genauso wenig wie zu einer »Theologie des Alten Testaments«, sondern zu einer Diskurslandschaft über politische und ethische, aber auch philosophische und theologische Themen. Das wäre ein rationaler Umgang mit der Rationalität der Hebräischen Bibel.
Die Lektüre von H.s Buch regt an, weil es eine durchaus neue Perspektive auf die Hebräische Bibel eröffnet, aber sie regt auch auf, weil der gewollt umfassende Blick durch eine sehr eigentümliche Brille viele Eigenheiten der biblischen Texte verschwimmen lässt.