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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

908–909

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Beutel, Albrecht

Titel/Untertitel:

Spurensicherung. Studien zur Identitätsgeschichte des Protestantismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. X, 320 S. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-16-152660-2.

Rezensent:

Christian Albrecht

Identitäten sind unbeständig. Darin geht es einer personalen Identität nicht anders als der konfessionellen Identität einer religionshistorischen Größe wie dem Protestantismus. Identitäten sind geschichtlich bedingt, durchlaufen Krisen sowie Gefährdungen und bedürfen darum immer wieder der Selbstvergewisserung. Freilich unterliegen solche identitätsstabilisierenden Vergewisserungen ihrerseits historischem Wandel. Vielfach hinterlassen sie nicht mehr als Spuren – Anhaltspunkte für ihre Motive, Erinnerungen an die Umstände ihrer Entstehung oder Wirkung, Hinweise auf die Problemlagen, denen sie sich verdanken. Die Aufgabe der Spurensicherung besteht insofern darin, solche Mo­mente der Identitätsbildung nicht lediglich archivalisch zu konservieren, sondern sie ihrerseits in den historischen Kontext zu stellen, damit im Lichte ihrer kritischen Interpretation die spezifischen Konturen der gegenwärtigen Identität, deren Ge­wordensein wie deren Herausforderungen, umso deutlicher hervortreten können.
Damit ist die Kernaufgabe evangelischer Kirchengeschichte, wie sie der Münsteraner Kirchenhistoriker Albrecht Beutel versteht, beschrieben. Er realisiert sie als philosophisch geschulter Germanist und Theologe in der Verbindung von Kirchen-, Theologie- und Christentumsgeschichte mit dem ständigen Seitenblick auf dogmatische, praktisch-theologische und kirchenrechtliche Fragestellungen.
Dass dieser weit gespannte Rahmen durch exakte Problemwahrnehmungen, präzise Beschreibungen und detaillierte Argumentationen ausgefüllt zu werden vermag, demonstriert der hier zu besprechende, nach den »Protestantischen Konkretionen« (1998) und der »Reflektierten Religion« (2007) dritte Band mit Aufsätzen B.s ein weiteres Mal. Er enthält 14 zwischen 2002 und 2012 entstandene Studien zur Identitätsgeschichte des Protestantismus.
Der Band wird eröffnet mit drei Längsschnitten, die unter der Rubrik »Panoramen« sich zunächst der Predigt als zentralem theologischem Vermittlungsmedium in der Frühen Neuzeit widmen, sodann Umrisse und Konkretionen des frühneuzeitlichen Toleranzdiskurses zeichnen und schließlich einen Prospekt über Zensur und Lehrzucht im Protestantismus bieten. Elf Fallstudien in drei Abteilungen schließen sich an. Die erste Gruppe befasst sich mit Luther und dem Luthertum, die Aufmerksamkeit gilt hier Luthers Predigtwerk, den Konfessionswechseln in der brandenburgischen Kirche und Paul Gerhardts Abendlied »Nun ruhen alle Wälder«. Die zweite Gruppe versammelt Studien zur Theologie im Zeitalter der Aufklärung; begriffs- und strukturgeschichtliche Überlegungen zum Verhältnis von Aufklärung und Protestantismus stehen hier neben Miniaturen zu Lessing, Spalding und Salzmann. Drittens wird der Band abgeschlossen mit vier Wegmarken in die Gegenwart, sie reichen vom Lutherbild Friedrich Nietzsches über Otto Dibelius und Gerhard Ebeling bis zu theologiegeschichtlichen Erinnerungen an die Herausforderungen, die die Evolutionsbiologie für das Christentum darstellte.
Die einzelnen Beiträge sind untereinander durch vielfältige Verbindungslinien verflochten. Die sie vereinende Herkunft aus demselben Programm- und Methodenbewusstsein war oben schon genannt. Hinzu kommt die allen gemeinsame Familienähnlichkeit der sprachlichen Eleganz. B.s Texte bewegen sich auf einer konstant komplexen Argumentationshöhe – und dennoch bereitet ihre Erfassung dank einer stets leicht wirkenden Sprache niemals Mühe.
Verbunden sind die Texte außerdem durch inhaltliche Gewichtungen. B. wirbt konstant für die Wahrnehmung von Prägekräften der theologischen Aufklärung insbesondere dort, wo sie sich nicht als unmittelbare Wirkungen zeigen. Am deutlichsten wird das vielleicht in den drei Längsschnitten. Und er weist regelmäßig auf die nachhallende Bedeutung der Sprachkraft Luthers hin, weit über die Fallstudien in der entsprechenden Rubrik hinaus. Vor allem aber veranschaulichen fast alle Beiträge (nachgerade als ein Ergebnis der Sensibilität für die Beteiligung protestantischer Impulse an neuzeitlichen kulturellen Hervorbringungen, die nun ihrerseits auch auf das im engeren Sinne religiöse Gebiet zurückwirken) die religionskulturelle Bedeutung der Predigt, des Gesangbuches oder der Pfarrers- bzw. Theologenfiguren für die öffentliche Präsenz des Christentums in der Neuzeit gerade dort, wo diese Präsenz über das unmittelbar kirchliche Milieu hinausreicht.
Gemeinsam ist den Studien auch ihr mehr oder weniger deutlich hindurchschimmerndes Gegenwartsinteresse. Dazu gehört, dass die Wahlverwandtschaft zwischen Protestantismus und Aufklärung nicht nur einen historischen Befund, sondern eine gegenwärtige Aufgabe darstellt. In vielleicht subtilster und zugleich unmittelbarster Weise kommt dieses Gegenwartsinteresse in dem letzten Beitrag über die Evolutionsbiologie als Herausforderung des Christentums zum Ausdruck. Er bildet, recht unverhohlen, einen historisch informierten Kommentar zu den gegenwärtigen bioethischen Debatten, in denen ja ebenfalls soteriologisch konzipierte Schöpfungsmetaphern als moralische Appelle missbraucht werden. Dass der Historiker sich angesichts dessen »einer gewissen Ermüdung« (293) nicht erwehren kann, ist ebenso nachvollziehbar wie die mit der Wiederholung der Konstellationen sich nahelegende Erinnerung daran, »daß die Bücher der Kirchengeschichte jedermann zur freien Einsicht offenliegen« (ebd.).
Man muss sie freilich zu lesen wissen, diese Bücher, und mehr noch: Man muss es verstehen, ihren Gehalt aufzuschließen, um gegenwärtiger Identitätssuche behilflich zu sein. Der vorliegende Band leistet dies, indem er die konfessionelle Identitätsgeschichte fortschreibt als sogleich sich selbst historisierende Anleitung zum Selberdenken. Was könnte man Besseres erwarten angesichts der Notwendigkeit, Erschütterungen der eigenen Identität beherzt wahrzunehmen und konstruktiv zu bewältigen?