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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

902–905

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Dornheim, Stefan

Titel/Untertitel:

Der Pfarrer als Arbeiter am Gedächtnis. Lutherische Erinnerungskultur in der Frühen Neuzeit zwischen Religion und sozialer Kohäsion.

Verlag:

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2013. 323 S. m. Abb. = Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 40. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-86583-617-5.

Rezensent:

Andres Straßberger

Zwei Überlegungen, die grundsätzliche, aus der Lektüre resultierende Vorbehalte des Rezensenten markieren, dem Autor Stefan Dornheim allerdings nur mittelbar anzulasten sind, seien vorab notiert: Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine geschichtswissenschaftliche Dissertation, die anfänglich am Dresdner Sonderforschungsbereich 537 »Institutionalität und Ge­schichtlichkeit«, später dann am SFB 804 »Transzendenz und Gemeinsinn« angesiedelt war. Durchgängig, vor allem aber in den einleitenden und zusammenfassenden Ausführungen, wird zentral auf die in den genannten Forschungsverbünden entwickelten Leitlinien und Perspektiven re­kurriert. So drängte sich bei der Lektüre bald der Eindruck auf, als bestünde die Relevanz des bearbeiteten Themas bzw. seiner Ergebnisse vor allem in der vollständigen Kompatibilität mit Thesenbildungen des Teilprojektes, dem die Arbeit innerhalb des SFB zugeordnet war.
Möglicherweise ist solches Arbeiten mittlerweile gängige Praxis in einer drittmittelabhängigen Wissenschaftskultur. Der Rezensent aber fühlt sich durch eine solche eigentümlich selbstreferentielle Art der Wissenschaftspraxis irritiert. Denn in seiner Zeit wissenschaftlicher Qualifizierung ist er von den Doktorvätern stets dazu ermuntert worden, mit Theoriebildungen zurückhaltend zu agieren und stattdessen stärker den von Quellen inspirierten Fragestellungen nachzugehen, die am Ende nicht selten Erkenntnisse zutage förderten, die die Ausgangsthesen in Frage stellten. Dieses theoriekritische Potential quellenbezogener historischer Forschung vermisst der Rezensent bei der vorliegenden Arbeit.
Ein zweiter Vorbehalt hängt mit dem ersten zusammen, denn er betrifft die spezifische Forschungsperspektive der Studie. Diese verknüpft erinnerungskulturelle Fragestellungen mit religionskulturellen und sozialhistorischen bzw. sozialwissenschaftlichen Zugriffsweisen. Dieses Vorgehen erweist sich in summa für die theologische und kirchenhistorische Pfarrhausforschung als nicht anschlussfähig. Denn im Gefolge der an den genannten Sonder-forschungsbereichen präferierten historiographischen Zugriffe werden die religionskulturellen Aspekte des Themas vom Vf. hauptsächlich religionssoziologisch bzw. religionswissenschaftlich pers­pektiviert. In der Kirchengeschichtswissenschaft wird das Religionsthema, zumindest im Zusammenhang der Pfarrhausforschung, hingegen noch immer primär theologisch fokussiert.
Beide Perspektiven sind nach Meinung des Rezensenten nicht ohne Weiteres kompatibel. Es ist und bleibt für ihn nach der Lektüre des Buchs daher eine ebenso herausfordernde wie offene Frage, inwieweit die Kirchengeschichtsschreibung sich um ihrer interdisziplinären Dialogfähigkeit willen von theologischen Ausrichtungen lösen und auf andere Forschungsperspektiven hinbewegen kann und muss. Aber ebenso scheint die umgekehrte Frage im Raum zu stehen, wie eine religionswissenschaftlich perspektivierte Geschichtsschreibung sich fähig erweist, theologiehistorische Perspektiven in ihre Darstellungszusammenhänge zu integrieren, anstatt sie – wie im vorliegenden Fall – nahezu vollständig zu ignorieren. Das bloße, auf Ignoranz gegründete Nebeneinander der unterschiedlichen Behandlungen des Religionsthemas führt in der Addition eben nicht zu einander ergänzenden, sondern zu zwei verschiedenen Bildern. Einen solchen Zustand empfindet der Rezensent unter historiographischen Gesichtspunkten als hochgradig unbefriedigend.
Doch zum Buch selbst. Der Vf. bestimmt seine Aufgabenstellung mit eigenen Worten wie folgt: »Die Fragen nach den Ursprüngen und Grundlagen der sozialen politischen Ordnung eines Gemeinwesens und die Deutung seiner Geschichte berühren in der Vormoderne stets auch theologische Probleme, die im Rahmen einer öffentlichen Fest- und Gedenkkultur verhandelt wurden. An diesem Punkt setzt das vorliegende Buch an, das der Verbindung von Religion und sozialer Kohäsion am Beispiel der lutherischen Erinnerungskultur zwischen Reformation und Spätaufklärung nachgeht. Dabei wird insbesondere die Rolle der Pfarrer als Spezialisten des Gedenkens untersucht und nach den konfessionsspezifischen Formaten und Entwicklungslinien der lutherischen Gedenkkultur gefragt.« (Umschlagtext) In Anknüpfung an diese Fragestellungen, die in der Einleitung methodisch und forschungsperspektivisch entfaltet werden (11–24), folgt eine thematische Überleitung, welche der »besondere[n] Rolle von Tradition und Erinnerung im Luthertum« (25–43; Zitat: Kapitelüberschrift) gilt. Ein evangelisch-lutherischer Theologe reibt sich spätestens dann verwundert die Augen, wenn die erinnerungskulturellen Aspekte des Themas, die ohne jeden Zweifel gegeben sind, ausgerechnet mit Ausführungen zu mnemonischen Aspekten der römisch-katholischen Messliturgie eingeführt werden (25 f.).
Es folgen fünf quellenorientierte Kapitel, die in der Analyse und Darstellung von »Formen und Entwicklungslinien lutherischer Erinnerungskultur in der Frühen Neuzeit« »[d]e[n] Pfarrer als Arbeiter am Gedächtnis« erweisen sollen (beide Zitate bilden die Hauptüberschrift zu den nachfolgenden Kapiteln 1 bis 5). Das erste Unterkapitel widmet sich verschiedenen Aspekten pastoraler Totenmemoria (45–80): Pfarrergalerien im Kirchenraum, Pfarrern gewidmeten Epitaphien und – in begründet knapper Form – dem Thema Leichenpredigten. Das zweite Unterkapitel geht den 50-jährigen Amtsjubiläen von Pfarrern im Kontext mit akademischen (Promotions-)Jubiläen sowie Ehejubiläen nach (80–136), um daran die Rolle der Pfarrer bei der »Entstehung einer personalen Jubiläumskultur« (Überschrift) aufzuzeigen. Das dritte Unterkapitel thematisiert unter der Metapher des »archivarische[n] Gedächtnis[ses] des Pfarrhauses« den Problemkreis der von Pfarrern angelegten Kirchenbücher bzw. von ihnen geschriebenen Ortschroniken (136–160). Am Beispiel der Feier des Jahreswechsels fokussiert der Vf. im vierten Unterkapitel auf »Zeitwahrnehmung und Gedenken zwischen Religion und Gemeinsinn« (161–201; Zitat: Kapitelüberschrift). Im fünften, letzten Unterkapitel, das metaphorisch mit »Zeitkapseln« überschrieben ist, wird in ritualtheoretischem Zusammenhang ein Blick auf Grundsteinlegungs- bzw. Turmbekrönungsfeierlichkeiten geworfen (201–254). Die Arbeit bietet abschließend zusammenfassende Ausführungen zu jenem Thema, das zugleich den Untertitel der Publikation formuliert: »Lutherische Erinnerungskultur in der Frühen Neuzeit zwischen Religion und sozialer Kohäsion« (255–266). Ein Bild- und Quellenanhang, die üblichen Quellen- und Literaturverzeichnisse sowie ein hilfreiches Personen- und Ortsregister runden die Arbeit ab.
Unbedingte Anerkennung verdient der Umstand, dass der Vf. mit seiner Untersuchung zum Teil weithin unbeachtete Quellen und Quellengruppen in den Fokus der (kirchen-)historischen Forschung gerückt hat. Dem wohnt zweifelsohne ein innovativer Impuls inne, etwa wenn der erinnerungskulturelle Blick auf Pastorengalerien, Amtsjubiläen, Neujahrsfeierlichkeiten oder Turmknopffeste (12, Z. 3 irrtümlich »Turmkopffeste«) gelenkt wird. In mancherlei Zusammenhängen kommt der Vf. zu kirchengeschichtlich unmittelbar verwertbaren Aussagen, etwa wenn er die Görlitzer Neujahrsblätter in den Zusammenhang eines bereits im 17. Jh. einsetzenden Bedeutungsgewinns des Neujahrstages als eines Termins im bürgerlichen Festkalender einordnet. Auf diese Weise entzieht er gängigen theologie- und liturgiegeschichtlichen Urteilen den Boden, welche die Auflösung des Kirchenjahresgedankens nicht zuletzt unter Hinweis auf diese Entwicklung konstatieren, ihn aber ausschließlich mit einem im 18. Jh. angeblich grassierenden Rationalismus begründen.
Neben dem Gewinn, den die Arbeit des Vf.s für die Forschung in dieser und auch in anderer, hier nur pauschal zu resümierender Hinsicht bedeutet, machen sich aber auch handwerkliche Mängel und grundsätzliche Defizite störend bemerkbar.
So wird an keiner Stelle das thematische Tableau der fünf das Thema erschließenden Unterkapitel samt den ihnen zugeordneten Quellen, mithin die Architektur der Arbeit im Blick auf das Thema reflektiert. Man vermisst klärende Überlegungen dazu, welche weiteren Perspektiven neben den fünf genannten für eine Bearbeitung in Frage gekommen wären und aus welchen Gründen ausgerechnet die fünf genannten Teilaspekte ausgewählt, andere hingegen von der Betrachtung ausgeschlossen wurden. Was ist beispielsweise mit den vom Vf. mehrfach beiläufig erwähnten, von Pastoren geschriebenen Pfarrerbüchern (für K. G. Dietmann siehe z. B. 67 f. mit Anm. 77 und 182 mit Anm. 457), in denen bis in die Reformationszeit zurückreichende pastorale Genealogien in lokaler oder territorialer Perspektive konstruiert werden? Wenn man erinnerungskulturell perspektivierte Pfarrerforschung betreibt, wäre dieser Aspekt pastoraler Zeit-Raum-Konstruktionen m. E. der ausgiebigen Berücksichtigung Wert gewesen. Da eine solche Themenreflexion aber fehlt, entsteht beim Leser der Eindruck des Selektiven.
Der gewichtigste Einwand seitens des Rezensenten ergibt sich aber aus der bereits einleitend erwähnten Abstinenz des Vf.s für theo-logische Sichtweisen. Besonders gravierend macht sich das beim (vom Vf. mit Recht in seiner Bedeutung für pastorale Erinnerungskultur betonten) Thema der Pfarramtsjubiläen bemerkbar.
Er behandelt diesen interessanten und facettenreichen Aspekt pastoraler »Erinnerungsarbeit« zu einseitig, nämlich ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Entstehung einer personalen Jubiläumskultur, einem Aspekt, den er unter diesem Gesichtspunkt im Kontext mit Promotions- und Ehejubiläen analysiert. Das ist zweifelsohne eine wichtige Seite des Themas. Aber soweit es die personalen Anteile des Pfarrers betrifft, so ist dieser nicht nur »Person«, sondern er bewegt sich beruflich und privat stets – für sein Selbstverständnis konstitutiv – im Spannungsfeld von »Amt« und »Person«. Das charakterisiert sein pastorales Dasein auf grundsätzliche Weise – damals wie heute. Zunächst und vorrangig feiern Pfarrer Amtsjubiläen als Inhaber eines »Pfarramts«; die personalen Aspekte treten hinzu und dürfen nicht ausgeblendet werden, was vielleicht der kirchengeschichtlichen Pfarrerforschung ins Stammbuch ge­schrieben werden muss. Aber ebenso wenig dürfen die amtstheologischen Aspekte ausgeklammert werden, die im Übrigen im vom Vf. behandelten Zeitraum (1550 bis 1800) einem eklatanten Wandel unterworfen sind, was wahrscheinlich auch Rückwirkungen auf die erinnerungskulturelle Arbeit des Pfarrers und ihre amtstheologischen Begründungen beinhaltet. Dem nachzugehen hätte sich auch für einen Geschichtswissenschaftler gelohnt. Darüber hinaus oder alternativ hätte in diesem Zusammenhang vielleicht auch das Interpretationsangebot professionssoziologischer Ansätze hinzugezogen werden können, in welchen das für den Pfarrberuf charakteristische Wechselspiel von »Amt« und »Person« ebenfalls in den Blick kommt.
So bleibt nach der Lektüre am Ende ein ambivalenter Gesamteindruck zurück, der aus theologisch-kirchenhistorischer Perspektive neben Anregendem und Erhellendem auch bestimmte Defizite sowie die eingangs aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen einschließt.