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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

789–791

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kubik, Johannes

Titel/Untertitel:

Paul Tillich und die Religionspädagogik. Religion, Korrelation, Symbol und Protestantisches Prinzip.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2011. 391 S. = Arbeiten zur Religionspädagogik, 49. Geb. EUR 54,99. ISBN 978-3-89971-901-7.

Rezensent:

David Käbisch

Als Paul Tillich nach akademischen Zwischenstationen in Marburg und Dresden 1929 an die Philosophische Fakultät in Frankfurt am Main berufen wurde, kam er an eine Stiftungsuniversität ohne Theologische Fakultät. Die Stadt, die sich 1914 eine weltliche, säkularisierte und liberale Universität gewünscht hatte, ermöglichte stattdessen eine Gymnasiallehrerbildung für das Fach Religion mit Lehraufträgen und Professuren an der Philosophischen Fakultät. Nach den ersten Semestern an der neuen Wirkungsstätte veröffentliche Tillich seinen ersten explizit religionspädagogischen Text »Zum Problem des evangelischen Religionsunterrichts« (1931), der – wenngleich nur drei Seiten lang – weitreichende Aussagen formuliert. Johannes Kubik kommt in seiner Göttinger, von Martin Rothgangel betreuten Dissertation das Verdienst zu, Tillichs »Religionspädagogik« und die Tillichrezeption in der Religionspädagogik erstmals umfassend analysiert zu haben.
Ausgangspunkt der Darstellung ist eine doppelte Beobachtung: Im Zentrum des religionspädagogischen Interesses standen und stehen die Begriffe Religion, Korrelation und Symbol, die jedoch in Tillichs eigenen religionspädagogischen Überlegungen keine Rolle spielten; in deren Zentrum steht das sogenannte Protestantische Prinzip, das als moderne Reformulierung der Rechtfertigungslehre – wie K. überzeugend herausarbeitet – wiederum in der religionspädagogischen Diskussion keine systematische Bedeutung erlangt hat. Aus dieser Beobachtung leitet nun K. die Fragestellung und Gliederung seiner Arbeit ab: Im ersten, rezeptionsgeschichtlichen Teil beschreibt er die religionspädagogische »Aneignung« und Diskussion der Begriffe Religion, Korrelation und Symbol (33–201). Im zweiten, werkgeschichtlichen Teil stehen die Genese von Tillichs Verständnis des Protestantischen Prinzips und seine explizit religionspädagogischen Texte im Mittelpunkt des Forschungsinteresses (205–342). Der »Schluss« führt beide Teile zusammen, indem K. den bleibenden Ertrag der Tillichrezeption systematisiert, die Bedeutung des Protestantischen Prinzips für die heutige Religionspädagogik herausstellt und schließlich – und darin liegt die eigentliche Integrationsleistung – den systematischen Zusammenhang des Protestantischen Prinzips mit dem Religions-, Korrelations- und Symbolbegriff darlegt (343–363).
Aus der Fülle an weiterführenden Einsichten seien einige wenige hervorgehoben. So gelten Hubertus Halbfas und Siegfried Vierzig seit Wilhelm Sturms einflussreicher Darstellung religionspädagogischer Konzeptionen als die beiden Tillichrezipienten, die sich in der katholischen und evangelischen Religionspädagogik für einen allgemeinen Religionsbegriff eingesetzt haben. Mit seiner sorgfältigen Textanalyse erbringt K. den Nachweis, dass Halbfas in der Tat »sein Lebensthema ganz entscheidend mit Hilfe von Tillichs Theologie ausgearbeitet hat« und sich in allen Arbeiten als ein Kenner von dessen Texten erweist (49). Vierzigs Bezugnahme be­schränkt sich demgegenüber auf die Formel, dass Religion das sei, was uns »unbedingt angeht«. Kein einziges Element der religionspädagogischen Konzeption Vierzigs lasse sich jedoch, wie K. herausstellt, von Tillich herleiten (53).
Als einflussreich erwies sich auch die von Karl Ernst Nipkow in den 1970er Jahren vorgebrachte Kritik an einem allgemeinen Religionsbegriff. Dieser sei ungeschichtlich und gesellschaftsfern, usur­piere moderne Phänomene als religiös, sei inhaltlich nicht qualifiziert, sei in seiner antidogmatischen Attitüde selbst ideologieanfällig und schreibe Menschen eine Religion zu, die sich selbst als nichtreligiös verstehen (70). K. vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass keiner dieser Einwände von Tillichs Theologie her haltbar sei. Nipkows Kritik, dass eine an Tillich orientierte Religionspädagogik zwangsläufig scheitern müsse, sei daher »aus heutiger Sicht nicht mehr ohne weiteres zu bejahen« (98).
Begünstigt durch einen Synodenbeschluss der Bistümer 1974 hat Tillichs Korrelationsbegriff den katholischen Religionsunterricht nachhaltig verändert und eine bis heute wirksame Didaktik, die sogenannte Korrelationsdidaktik hervorgebracht. K. konzentriert seine Darstellung auf die systematischen Probleme der Korrelationsdidaktik und kommt auch in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis, dass sie sich »von Tillich selber her« lösen lassen (131). So habe bereits Tillich das Missverständnis seiner Methode gesehen, dass biblische Texte nur dann relevant seien, wenn sie Antworten auf existentielle Fragen der Schülerinnen und Schüler geben, und sie im Sinne einer wechselseitigen Abhängigkeit von Frage und Antwort bzw. Situation und Botschaft präzisiert. Hingewiesen sei auch auf die differenzierte Darstellung Peter Biehls, der sich zustimmend und abgrenzend auf Tillichs Symbolbegriff bezogen hat. Wie schon bei Halbfas gelangt K. zu dem Urteil, dass die Symboldidaktik »ohne Tillich nicht denkbar« gewesen wäre (195) und dass sich die u. a. von Michael Meyer-Blanck vorgebrachte Kritik an einer Ontologisierung religiöser Symbole (die seiner Meinung nach als Zeichen in konkreten Kommunikationszusammenhängen zu verstehen seien) mit frühen Texten Tillichs anders darstelle (197).
Die Arbeit ist ein überzeugendes Beispiel für die Bedeutung historischen Denkens in der Religionspädagogik: Denn systematische Tiefenschärfe ist ohne rezeptions- und werkgeschichtliche Sensibilität nicht zu haben! Die Studie führt erneut vor Augen, dass die Theorieentwicklung differenzierter zu zeichnen ist, als es in der von Sturm konstruierten (und in manchen Kompendien noch heute vertretenen) »Konzeptionenabfolge« erscheint, auf die sich K. ungeachtet neuerer historischer Gesamtdarstellungen (u. a. von Bernd Schröder) wiederholt bezieht (13 f.34.50.75 u. ö.). Gleichwohl argumentiert K. in allen Teilen auf einem hohen religionspädagogischen und systematisch-theologischen Niveau. Vor allem in seiner Analyse des Protestantischen Prinzips erweist er sich als ein (u. a. bei Ulrich Barth geschulter) Kenner des frühen Tillich, so dass vor allem der zweite Teil der Arbeit auch für Theologiehistoriker des 20. Jh.s von Interesse sein dürfte.
Die rezeptions- und werkgeschichtliche Fragestellung bringt es auch mit sich, dass andere historische Fragestellungen nur eine nachgeordnete Rolle spielen. So erfährt man beispielsweise nichts über die institutionellen Kontexte der Religionslehrerbildung an der Frankfurter Universität, an der Tillich seinen ersten explizit religionspädagogischen Text verfasst hat. Auch die didaktisch bedeutsame Frage, inwieweit die anspruchsvolle Theoriediskussion zu einer neuen Bildungspraxis im Unterricht und zu entsprechenden Lernaufgaben geführt hat, liegt nicht im Fragehorizont der Untersuchung. Eine noch ausstehende institutionen- und praxisgeschichtliche Untersuchung zu Tillichs Wirksamkeit wird jedoch auf die hervorragende Studie K.s aufbauen können.