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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

770–773

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Fritz, Alexis

Titel/Untertitel:

Der naturalistische Fehlschluss. Das Ende eines Knock-Out-Arguments.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg i. Br.: Herder Verlag 2009. 432 S. = Studien zur theologischen Ethik, 124. Kart. EUR 55,00. ISBN 978-3-7278-1643-7 (Academic Press Fribourg); 978-3-451-31064-5 (Herder Verlag).

Rezensent:

Matthias Heesch

Ethik ist, in einem sehr weiten Sinne, die Lehre – oder Wissenschaft– vom rechten Handeln, und rechtes Handeln ist das Tun des Guten. Aber was ist das Gute? Auf jeden Fall der Gegenstand eines positiven Werturteils. Aber ist mit dieser Beschreibung nicht schon gesagt, dass das Gute als solches gar nicht objektiv existiert? Denn schließlich ist ein Werturteil ja kein Tatsachenurteil. Und wenn man – jedenfalls im Alltagsverständnis – sagen kann, dass Tatsachen als Gegenstand von Tatsachenurteilen objektiv existieren, dann scheint dies nicht für die Gegenstände von Werturteilen zu gelten, die vielmehr teils retrospektiv-wertend an schon gesche-hene Ereignisse anknüpfen, teils normativ-fordernd zukünftige Handlungen betreffen, oft mit Bezug auf die durch diese Handlungen zu schaffenden Tatsachen. Aus dieser Konstellation ergeben sich spezifische Probleme: »Existieren« die Gegenstände der Ethik (eben das »Gute« oder das auf dieses realisierend bezogene »rechte Handeln«)? Und wenn ja, in welchem Sinn und unter welchen er­kenntnistheoretischen Vorgaben kann davon die Rede sein? Und schließlich: Erlauben diese Vorgaben von der Ethik als einer »Wissenschaft« zu sprechen – und wenn ja: in welchem Sinne?
Derartige Fragen prägen einerseits die moderne ethische Diskussion, spätestens seit dem Problematischwerden einer naiv-objektiven Denkweise durch die empiristische Philosophie des 18. Jh.s und ihre kritische Transformation bei Kant. Aber auch die Gegenwart, die von der Philosophie (um die es in der hier zu besprechenden Studie überwiegend geht) und auch von der Theologie Antworten auf die Frage nach gültigen »Werten« verlangt, wirft im Hintergrund solcher Anfragen immer wieder Probleme auf, zu denen das Werk von Alexis Fritz seinen Beitrag leisten möchte.
Dieser Beitrag erfolgt unter historischen und systematischen Aspekten, wobei, trotz der Struktur des Werkes als Abfolge von Exkursen zu bestimmten Autoren, der systematische Aspekt dominiert. Das wird realisiert durch die Auseinandersetzung mit der auf G. E. Moore (1873–1958) zurückgehenden Behauptung, die Zu­schreibung des Werturteils gut an einen Gegenstand im Sinne einer (quasi natürlichen) Eigenschaftsfeststellung sei ein Fehlschluss, eben der naturalistische Fehlschluss (115–121). Im Hintergrund dieses Schlusses steht die Vorstellung von einer Transformierbarkeit normativer in objektive Zuschreibungen (116 f.), so dass sich am Ende eine Reduktion aller Aspekte eines Gegenstandes auf dessen (somit das Werthaltige mit umfassende) objektive Beschaffenheit ergibt. Strukturell entspricht dem naturalistischen der metaphysische Fehlschluss, der Wert- und Seinshaltigkeit eines Gegenstandes in einer – wie auch immer gearteten – metaphysischen (an Stelle der natürlichen) Beschaffenheit des Gegenstandes zusammengefasst sieht (117 f.). Der entscheidende Aspekt von Moores Kritik ist nun dieser Reduktionismus. Indem nämlich die Wertfrage auf die – sei es naturalistisch oder metaphysisch – aufgefasste Seinsfrage reduziert wird, entsteht der Eindruck, dass Werturteile sozusagen Be­standteile der Gegenstandsbeschreibung sind, dass sie also aus dieser Beschreibung selbst hervorgehen und mithin (im Sinne der von Moore im Anschluss an Kant verwendeten Terminologie) analytisch sind (129 f.398 u. ö.). Dem widerspricht Moore mit dem Argument eines Kategorienfehlers, das auch die vorliegende Arbeit akzeptiert.
Die zentrale Frage der Arbeit ist, wie dieser Kategorienfehler vermieden werden kann. Dafür wird eine Reihe von Optionen geprüft, die in der Moore vorausliegenden und nachfolgenden angelsächsischen Diskussion vorgebracht worden sind. Ein erster längerer Ex­kurs ist der Moralphilosophie D. Humes (1711–1776) ge­widmet. Seiner empiristischen Erkenntnistheorie entsprechend argumentiert Hume von der Affektbestimmtheit des Willens her (56 u. ö.). Er bestimmt daher das ethisch Vorzuziehende im Sinne einer affektiven Beschaffenheit des Willens (60 u. ö.), die sich von der Sympathie als einem Grundbewusstsein der Verbundenheit der Individuen aufgrund der identischen menschlichen Natur leiten lässt (61–64). Dies ist nicht unbedingt subjektivistisch zu verstehen, denn im Gefühl der Menschen manifestiert sich eine Art (affektives) Wissen um das von der Motivation her Angemessene (67.70–73, insbesondere 71). In gewisser Weise liegt also auch hier ein Reduktionismus vor, denn das Gute wird zwar nicht als Implikation von Gegenständen, sehr wohl aber als Implikation der menschlichen Selbsterfahrung verstanden, soweit diese immer auch unmittelbares Be­wusstsein um die (allgemeine) menschliche Natur ist (62 f.67 u. ö.).
Auf der anderen Seite des empiristischen Spektrums stehen Versuche, das Gute doch zu objektivieren, indem man es der (menschlichen) Natur zuschreibt und zwar im Rahmen eines Bewusstseins, das sich auf das objektiv Lebensdienliche richten soll. Im Rahmen der naturalistischen Tendenzen in der neueren analytischen Philosophie hat man etwa die Auffassung vertreten, dass das Wissen um das Gute (aufgrund der biologischen Beschaffenheit des Menschen Lebensdienliche) und entsprechende Motivationen immer schon – faktisch a priori – zusammen auftreten (375 u. ö., Ph. Foot). Damit ist Humes bewusstseinstheoretisches Argument ins Objektive gewendet. Der hier vorausgesetzte Objektivitätsanspruch ist freilich, wie man, ebenfalls im Rahmen der analytischen Philosophie, kritisiert hat, nicht unanfechtbar (323 u. ö., J. McDowell). Zwar gibt es handlungsleitende Phänomene in der Welt, aber sie lassen sich nicht auf einer Ebene mit Tatsachen verstehen (331, McDowell), wenn sie auch in gewisser Weise unabhängig sind von der Frage, ob sie im Einzelfalle handlungsleitend sind (334 f., McDowell). Wenn sie handlungsleitend werden, dann im Rahmen von Erfahrungen, die nicht in jedem Fall rational begründet und analysierbar sind (337, McDowell).
Letztlich wirft die Arbeit Moore ja vor, den synthetischen Charakter moralischer Urteile verkannt zu haben: Die Kritik am naturalistischen Fehlschluss richtet sich berechtigterweise nur gegen die ohnehin unangemessene Annahme einer analytischen Beschaffenheit moralischer Urteile. Aber auch die angelsächsische sprachanalytische Philosophie, obwohl sie die synthetische Beschaffenheit des moralischen Urteils – es kommt immer zu einer Tatsachenfeststellung eine Wertzuschreibung – überwiegend klar sieht, verfehlt die sachliche Eigenart der Synthese und kommt letztlich über die bloße Behauptung ebenjener synthetischen Eigenschaft nicht hinaus.
Im Sinne einer grundlegenden Alternative greift die Arbeit auf die Ethik des Thomas von Aquin (1225–1274) zurück. Thomas’ Grundüberzeugung ist die der Komplementarität der Sachverhalte des Seins und des Guten (207–209). Diese Grundüberzeugung macht aber die Frage nach der Beziehung von Tatsachen- bzw. Seinsurteil einerseits und Werturteil andererseits auch in der Sicht des Thomas nicht überflüssig (213 u. ö.). Thomas geht vielmehr davon aus, dass der Mensch über ein besonderes, in gewisser Weise synthetisches Vermögen, die Synderesis, verfügt (238 f. u. ö.). Dieses ermöglicht die handlungsleitende Erkenntnis der selbstevidenten Prinzipien des Naturgesetzes, das zugleich die Struktur der Realität wie auch die der ethisch vorzugswürdigen Handlung vorgibt (242 u. ö.). Dabei ist aber die ethische Erkenntnis der Synderesis doch von eigener Art und hat auch ihre eigene Logik, die zuoberst auf einem unmittelbaren Innesein des Guten beruht (253). Die Synderesis kann sich nicht eigentlich irren, denn die von ihr begriffenen praktischen Prinzipien sind selbstevident (245–248.253 u. ö.), wohl aber kann ihr Einfluss verdunkelt werden, wenn auch nicht bis zum völligen Verlust (238 f.). Die faktisch gelingende gute Handlung ist eine solche, in der sich die Synderesis über die Anwendung einer klugen Handlungsweise auf die rational erkennbare Struktur der Welt bezieht (268.286 f. u. ö.). Das Praktischwerden der Synderesis hat also immer synthetischen Charakter, wobei die Ermöglichung dieser Synthese natürlich ihren Grund in der von Thomas als letztes Axiom zugrundegelegten Konvergenz des Seins und des Guten hat. Entscheidend ist aber, dass aus dieser Konvergenz nicht unmittelbare Konsequenzen abgeleitet werden, sondern dass die Konvergenz in der Lebenspraxis über eine synthetische Operation hergestellt werden muss. Ethik und die Lehre vom Sein stellen also komplexe Zuordnungsfragen, erst das Abschneiden dieser Fragen durch einen Reduktionismus bringt die Problemkonstellation des naturalistischen Fehlschlusses hervor, nicht jedoch die Bemühung, Sein und Handeln in einer komplexen Auffassung des Wirklichen aufeinander zu beziehen (387–398).
Die sehr kenntnisreiche und ausführliche Arbeit macht deutlich, dass sich die Frage nach der Beziehung zwischen Sein und Sollen, zwischen objektiv ausgerichteter Theorie und lebenszugewandter Praxis, weder auf einen naturalistischen noch auf einen metaphysischen Generalnenner bringen und auf diese Weise reduzieren lässt. Sie ist vielmehr immer von Neuem aufgegeben und kann letztlich nur zu dem Ergebnis kommen, dass die objektive Welt und die frei verantwortete Lebenspraxis immer neu zugeordnet werden müssen und dass die Bestimmung dieser Zuordnung eine nicht abschließbare Reflexionsaufgabe darstellt. Man könnte diese Aufgabe auch als Frage nach dem Wesen von Freiheit deuten. Diese Frage stellt sich, weil Menschen die ihnen aufgegebene Lebensweise in einer immer teilweise unverfügbaren, andernteils aber auch gestaltbaren Welt realisieren müssen. Aus Gründen, die die Arbeit transparent macht, helfen reduktionistische Behauptungen hier nicht weiter. Das gilt auch für die seit einiger Zeit beliebte Annahme, die Hirnforschung habe »wissenschaftlich« erwiesen, dass es »keine Freiheit« gäbe, also auch nicht die Aufgabe der Synthese von objektiver Welt und kriteriengeleiteter Handlungsfähigkeit. Die besprochene Arbeit erinnert demgegenüber an die Interpretationsleistung älterer Reflexionen auf die Beziehung zwischen reflexiver Lebenspraxis und objektiver Welt. Diese Ansätze sind gewiss nicht einfach wiederholbar. Aber sie markieren ein Niveau, das gegenwärtige Diskussionen nicht unterschreiten sollten. In diesem Sinne sind sie unabgeschlossen – wie alle geschichtlichen (und schon deswegen änderbaren und änderungspflichtigen) Reflexionsleistungen des Menschen. Aber in ihrem Bemühen, die Fülle der Aspekte im Rahmen einer nachvollziehbaren Theorie zu bedenken, sind sie zugleich wissenschaftlich.
Es wäre zu hoffen, dass die vorliegende, alles in allem hervorragende Arbeit dazu beiträgt, dass jedenfalls dies in Erinnerung bleibt.