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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

803–818

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Leene, Hendrik

Titel/Untertitel:

Auf der Suche nach einem redaktionskritischen Modell für Jesaja 40–55

Trotz aller Unterschiede stimmen neuere redaktionskritische Entwürfe für Jes 40-55 in diesem Punkt überein: Nach Abzug von späteren Zufügungen oder ,Fortschreibungen' behält man eine Art Grundschrift übrig. Der erste Teil (I) dieses Artikels vergleicht einige rekonstruierte Grundschriften, nämlich die von Hermisson, Kratz und van Oorschot,(1) und untersucht, in-wiefern die wichtigsten der von diesen Autoren vorgeschlagenen Abgrenzungskriterien für ein solches Dokument einleuchtend sind. Der zweite Teil (II) skizziert ein redaktionskritisches Modell, das bewußt auf die Rekonstruktion einer ur-sprünglichen dtjes. Schrift verzichtet, und zwar nicht aufgrund von Ohnmacht oder Resignation, sondern weil der Begriff Grundschrift als solcher in Frage gestellt wird.

I

Unser Vergleich betrifft folgende Rekonstruktionen: die ,ältesten Sammlungen' von Jes 40-55 laut Hermisson, numeriert von 1 bis 6 (Sammlung 6, die die vier Gottesknechtlieder enthält, wird in unserem Vergleich bisweilen außer Betracht gelassen);(2) die ,Grundschrift' laut Kratz;(3) die ,Grundschrift' (Dtjes G) laut van Oorschot, die aus vier Teilsammlungen besteht, numeriert von I bis IV.(4) Der Kürze halber wird künftig mit ,Grundschrift' meistens eine dieser drei Sammlungen oder Kompositionen bezeichnet, obwohl der Terminus nach Ansicht Hermissons nicht völlig gerecht wird.

Auf eine ,synoptische' Wiedergabe in parallelen Spalten, die einen Vergleich der rekonstruierten Texte in Einzelheiten ermöglichen würde, muß in einem Aufsatz wie diesem leider verzichtet werden. Vergleicht man die drei Grundschriften nach ihrem Umfang, so zeigt sich, daß die größten Unterschiede auf dem Gebiet des ,Zion-Materials' liegen. Van Oorschot schließt dieses (im Anschluß an Kiesow) gänzlich von der Grundschrift aus, Hermisson rechnet viel davon zu den ältesten Sammlungen, und Kratz nimmt (im Anschluß an Steck) eine Zwischenposition ein. So nehmen diese Autoren vom Prolog Jes 40,1-11 resp. das Folgende auf: Hermisson vollständig; Kratz 40,1-5*; van Oorschot nichts. Hermisson bezieht viele Zion-Texte aus Jes 49, 51-52 und 54 als ,Sammlung 5' in die Grundschrift ein, während Kratz sich hier auf 52,7-10 beschränkt. Van Oorschot hebt all dieses Material für spätere Redaktionsphasen auf, vor allem für die, wie er es nennt, ,erste Jerusalemer Redaktion' und die ,sekundäre Zionsschicht'. Im Gegensatz dazu betrachten Hermisson und Kratz auch Jes 47* als Bestandteil der Grundschrift, wobei Hermisson sich ausdrücklich auf den Spiegelbildcharakter der Figuren Babel und Zion beruft.(5) Aber auch abgesehen von diesen (Babel- und) Zion-Prophetien zeigt sich, daß Hermisson zur Aufnahme des relativ meisten Materials neigt. So z. B. in Jes 42 (Hermisson 5-9*, 10-13, 14-16; Kratz 10-13, 14-16, van Oorschot 14-16) und in Jes 45 (Hermisson 1-8, 11-15*, 18-23; Kratz 1-7*, 20-21; van Oorschot 1-5a*, 8*, 11-13, 20-23*). Es kommt nur sehr selten vor, daß die Grundschriften der anderen mehr angeben als Hermisson: Kratz 41,5; van Oorschot 44,28b.

Bevor wir auf die vorausgesetzten Unterschiede zwischen dieser ursprünglichen Schrift und ihren jüngeren Ergänzungen eingehen, müssen erst zwei andere Angelegenheiten kurz besprochen werden, nämlich (1) das Verhältnis zwischen dem Basisdokument und dem dahinter liegenden schriftlichen oder mündlichen Material, und (2) die Gesichtspunkte, von denen man hinsichtlich der Anordnung und/oder Bearbeitung dieses ,Hintergrundmaterials' in der Grundschrift ausgeht.

(1) Die drei Positionen können folgendermaßen zusammengefaßt werden: Die Grundschrift besteht aus Sammlungen, und es gibt demnach keinen großen Unterschied zwischen den Texten in und vor der Grundschrift (Hermisson); wenn es überhaupt Unterschiede gab, so kennen wir sie nicht (van Oorschot); die Grundschrift hat die ursprünglichen Texte wesentlich verändert, und manchmal können wir davon noch deutlich Spuren sehen (Kratz).

In Jes 40-41 illustriert Kratz den Unterschied im Akzent zwischen den ursprünglichen Einheiten und ihrer gegenseitigen Abstimmung in der Grundschrift an einer unterschiedlichen Beurteilung der Völker in der Gerichtsrede (Gesprächspartner) einerseits und in Disputation und Heilswort (Feinde zur Vernichtung) andererseits; ein Unterschied, der durch die redaktionelle Verbindung nicht völlig ausgeglichen, und dessen Spannung erst durch die Hinzufügung der Bilderpolemik aufgelöst werden wird, weil dort ja die für die Völker vorgesehene Vernichtung auf die Götter übergeht.(6)

Dies beruht jedoch auf einer Auslegung der ,Menschen' und der ,Berge und Hügel' in 41,8 ff. als feindliche Völker - die Richtigkeit dieser Auslegung bezweifle ich.(7) Ebenso kann man in 40,17 nicht von einer Vernichtung der Völker sprechen, sondern lediglich von ihrer Nichtigkeit gegenüber Gott. Andererseits ist die Beurteilung der Völker in den Gerichtsreden meiner Meinung nach wiederum nicht so positiv, wie Kratz es darstellt. Für die Grundschrift in ihrer Gesamtheit betont er wiederholt, daß wir über ursprüngliches Material wenig wissen, aber andererseits kann er die Festlegung von Deuterojesajas Prophetie in diesem Dokument doch bezeichnen als "Sinnverkürzung".(8) So soll etwas von der Radikalität des ursprünglichen Gottesgedankens, in dem die Unität von JHWH noch nicht an das Heil Israels gebunden war, in der Grundschrift verloren gegangen sein. Ich halte das für spekulativ.

Van Oorschot faßt seine Ansichten zum Verhältnis Grundmaterial-Grundschrift folgendermaßen zusammen: "Eine gegenüber eventuellen Vorstufen eigene Handschrift des Redaktors läßt sich jedenfalls nicht erkennen, so daß man hier - wissend, was man tut - auch von ,Deuterojesaja' als Urheber sprechen kann".(9) Dieser Formulierung kann ich zustimmen. Die ,Einheiten', aus de-nen die rekonstruierten Grundschriften zusammengestellt sind, haben meiner Ansicht nach im allgemeinen keine selbständige Existenz gehabt. Die zwei wichtigsten Argumente hierfür sind: (a) Alle Versuche, um über die Frage nach dem ,Sitz im Leben' der Gattungen eine konkrete Verkündigungssituation für diese Einheiten festzustellen, sind mißlungen; und (b) die Einheiten sind, selbst im Rahmen eines zur Grundschrift reduzierten Textes, bereits so sehr auf ihre literarische Umgebung abgestimmt, daß es schon aus statistischen Überlegungen notwendig ist, davon auszugehen, daß sie von vornherein auf einen derartigen Zusammenhang hin angelegt sind.

Letzteres bedeutet nicht automatisch, daß sie für Jes 40-55 in seiner heutigen Form bestimmt waren, aber daß sie mit Blick auf eine größere Einheit verfaßt wurden. Man muß bei Abstimmung nicht in erster Linie an die zahlreichen semantisch-isotopischen Verbindungen zwischen den Einheiten und ihrer direkten literarischen Umgebung denken (diese könnten eventuell noch durch sekundäre Anpassungen zustande gekommen sein), sondern vor allem an die Tatsache, daß die Textreihenfolge von Einheiten, die zu einer Gattung gehören, meistens eine Handlungsreihenfolge aufzeigen. Mit Texten, die ursprünglich für einen anderen Zweck verfaßt worden waren, konnte man bei der Zusammenstellung ein solches Kunststück nicht fabrizieren. In welcher Form existierten diese Einheiten dann in ihrem vor-literarischen Stadium? Vielleicht in Entwurfform, in einer vorläufigen schriftlichen Version; aber auf keinen Fall, um sie gesondert publik zu machen, um sie auf dem ,freien Markt' anzubieten.

Was unsere Kenntnis dieses Vorstadiums betrifft, noch folgende Bemerkung: An anderer Stelle habe ich die Vermutung geäußert, daß Jes 42,10-13 und 52,7-10 von den JHWH-König-Psalmen und vielleicht sogar von Ps 98 und 96, so wie wir sie aus dem Psalter kennen, abhängig sind.(10) Es wäre jedoch nicht möglich gewesen, diese Psalmen auf der Grundlage der dtjes. Texte zu rekonstruieren. Ebensowenig hätte man die Heilsorakel in Jes 41-44 aus den Heilsorakeln von Jer 30-31, die vermutlich nach dtjes. Vorbild (aber unter Beachtung eines neuen Kontextes) geschrieben wurden, rekonstruieren können. So ist es meiner Meinung nach unmöglich, das Material, das sich vielleicht hinter der Grundschrift von Jes 40-55 verbirgt, rekonstruieren zu können.

Der Eindruck, daß der Zusammensteller sich von den Formulierungen dieses Materials nicht völlig lösen konnte,(11) kann die Folge seiner Bindung an bestehende Gattungs-Muster sein, Folge seiner Treue gegenüber dem, was er als Konzept bereits vorbereitet hatte, einer Sparsamkeit im Schreiben, die ihn daran hinderte, im bereits ins Reine geschriebenen Teil der Grundschrift etwas vorschnell zu verändern, aber vor allem auch Folge eines Unterschiedes in der ästhetischen Wertschätzung zwischen ihm und dem modernen Leser.

Die Tatsache, daß Kratz auf die Konturen dieses vor-literarischen Stadiums so viel Wert legt und diesbezügliche Rückfragen sogar für theologisch angebracht hält, hängt mit seiner Überzeugung zusammen, daß nur die mündliche Wortverkündigung eines Propheten hinter der Grundschrift dieser prophetische Autorität verleihen konnte (auch bei den beiden anderen Autoren spielt dieser Gesichtspunkt eine Rolle). Kratz suggeriert in diesem Zusammenhang einen Unterschied zwischen dem lj 'bdj 'th in der Grundschrift und dem in späteren redaktionellen Hinzufügungen: Im letzteren Fall beruhe die Verwendung der Botenformel lediglich auf geliehener Autorität;(12) im ersten Fall muß der Prophet die Formel selbst ausgesprochen haben. Mir scheint dies eine gekünstelte Konstruktion. Man sollte die Argumentation besser umdrehen: Offenbar war es dem Autor (den Autoren) von Jes 40-55 möglich, auch in einem schriftlichen Dokument direkt auf das Sprechen von JHWH hinzuweisen, ungefähr so wie alttestamentliche Erzähler dies in der direkten Rede einer Geschichte tun konnten; und daran werden wir des weiteren unsere Auffassung von ,Prophetie' in der Persischen Periode ausrichten müssen. Es ist schwer nachzuvollziehen, wie ein Text seine Autorität der persönlichen Erfahrung eines prophetischen Autors verdanken kann, auf den dieser Text ansonsten nicht hinweist. Wenn schon überhaupt ein Prophet hinter diesem Text gestanden hat, so hätte man ihn darin nur aus der Handschrift des Autographs erkennen können (und somit nur in einem kleinen Kreis von Vertrauten).

(2) Hermisson zufolge besteht die erste Phase auf dem Weg der Entwicklung des Buches lediglich aus einer ,Reihe lockerer thematischer Sammlungen', die eventuell als Flugschriften unter den Exulanten verteilt wurden. Hermisson weckt nicht den Eindruck, daß er in diesen Sammlungen viel kompositorische Züge gewahrt.(13) Kratz hingegen sieht in der rekonstruierten Grundschrift einen wohlüberlegten Aufbau.(14) Die Einteilung wird in erster Linie durch vier abschließende hymnische Stücke bestimmt: Jes 42,10-13; 43,20-21; 44,21-23; 48,20-21, während auch die Verteilung der Gerichtsreden über diesen gesamten Text Kratz zufolge eine auffallende Regelmäßigkeit zeigt. ,Anhand der hymnischen Stücke und der Gerichtsreden in Jes *40-48 zeigt sich somit eine sehr überlegte, gewollte Anlage der Grundschrift in vier - durch 40,1-5 und 52,7-10 gerahmte - Abschnitte, die ihrerseits in sich thematisch wie literarisch stimmig und planvoll angelegt sind'.(15) Das auffallendste Merkmal in Kratz' Argumentation ist, daß er einerseits diachronisch Schichten rekonstruiert, andererseits diese Schichten aber als ausbalancierte Kompositionen beschreibt; er vertritt dann auch ,das Modell einer diachronen Kompositionskritik'.(16) Van Oorschot spricht wiederum sehr viel bescheidener von vier Teilsammlungen, auch wenn diese seiner Meinung nach nicht gesondert in Umlauf waren und vor allem in der Anordnung Anfang-Mittelteil-Schluß doch auch eine ,Gesamtkomposition' bildeten.(17)

Der Leser wäre lediglich dann bereit, in einer kompositionskritischen Analyse wie der von Kratz mitzudenken, wenn er zuerst die redaktionskritische Hypothese akzeptieren könnte, während gerade diese Hypothese nun wiederum selbst zum Teil auf der Evidenz des rekonstruierten kompositorischen Bauwerks beruht.(18) Ich muß mich hier auf ein Beispiel beschränken, eine Stelle, an der die Unverbrüchlichkeit des Bauwerkes für mich nicht offenkundig ist. In Kratz' Grundschrift schließt Jes 42,10-13 sich an 41,21-29* an und bezieht sich auf die Vernichtung der Feinde durch Kyros.(19) Aus dem vorangehenden Kontext wird jedoch nicht deutlich, warum die Küstenländer ausgerechnet über diese Vernichtung - die ihnen doch in 41,5 Angst einjagte - ein neues Lied anstimmen sollten. Wie ich bereits zuvor bemerkte, schätzt Kratz die Beurteilung der Völker in diesem Vers zu positiv ein. Daß die ,Völkerfrage' in 41,1-5.21-29 ,gelöst' wird,(20) ist mehr als man in diesen Passagen tatsächlich liest. Dabei lokalisiert das neue Lied 42,10-13 JHWHs Siegeszug in der Wüste, in einem Gebiet, in dem Kyros weder im vorangehenden noch im folgenden etwas zu suchen hat. Ich tue mich daher schwer, von einer Schrift auszugehen, in der 42,10-13 unmittelbar an 41,21-29* grenzte. Wenn dieses Lied schon eine Antwort auf Kyros' Auftritt sein sollte (was ich sehr in Frage stelle), so war es dramatisch verfrüht. Wenn man an diesem Pfeiler in Kratz' Grundschrift rüttelt, schwankt jedoch das ganze Bauwerk, weil 42,10-13 als versteckte Andeutung von JHWHs Thronbesteigung darin den einzigen Anknüpfungspunkt für die Handlung des (von Kratz angenommenen) Prologs 40,1-5 und des Epilogs 52,7-10 bildet. Derartige Überlegungen können zu der Frage führen, ob ,diachrone Kompositionskritik' methodologisch eine aussichtsreiche Sache ist. Meiner Meinung nach ist Kompositionskritik weiterhin auf die Oberflächenstruktur des überlieferten Textes angewiesen.

Wir kommen damit zum Hauptthema, den Kriterien für die Unterscheidung von jüngeren Ergänzungen und Grundschrift. Gemäß Hermisson findet man die ältesten Sammlungen, die das von Deuterojesaja stammende Material enthalten, indem man nach der sachlichen Einheit des theologischen Konzeptes fragt, dessen Konsistenz sich wiederum durch linguistische und formelle Einheit bestätigen muß.(21) Die beiden anderen Autoren drücken sich ähnlich aus.(22) Es ist Hermissons Verdienst, daß er die, hauptsächlich konzeptionellen, Kriterien übersichtlich ge-ordnet hat (bei den beiden anderen fehlt eine derartige Übersicht, und den Leser beschleicht manchmal das Gefühl, in einem Wald herumzuirren, mit einer Wanderkarte, auf der die Wege erst unterwegs eingezeichnet werden). Hermisson zählt 12 Kriterien auf: Hiervon richten sich die Kriterien 1-6 gegen diejenigen, die seiner Meinung nach zu viel, die Kriterien 7-12 gegen diejenigen, die zu wenig zum ältesten literarischen Stadium rechnen wollten. Die ersten sechs Kriterien werden von den beiden anderen Autoren geteilt, manche der letzten sechs stoßen bei ihnen auf Beschwerden. Ich werde die 12 Kriterien durchgehen, dabei jeweils Hermissons Ansicht mit der der beiden anderen vergleichen und meinen eigenen Kommentar geben - wobei ich vorläufig den Sinn und Zweck dieser Suche nach der Grundschrift noch nicht in Zweifel ziehe.

1. Bilderfabrikation: Der konzeptionelle Aspekt, der in Hermissons Artikel nicht ausdrücklich zur Sprache kommt, wird von Kratz bei Jes 41,6 f. folgendermaßen erklärt: Die Argumentation hinter diesen Versen ,bezieht sich in keiner Weise auf den vorher geführten Beweisgang, sondern verschiebt das intellektuelle Problem der Erkenntnis JHWHs auf die Ebene der Materie von Göttern, an der die Nichtigkeit der fremden Götter und die daraus resultierende Vergeblichkeit ihrer Herstellung und Verehrung demonstriert werden' [Kratz (o. Fußn. 1), 37]. Man kann dem entgegen halten, daß erst in 44,9-20 mit der Herstellung von Götterbildern argumentiert wird; d. h. erst nachdem, in der heutigen Konstellation von Jes 41-44, der Gerichts-prozeß über die Geschichte zwischen JHWH und den Völkern zu einem vorläufigen Beschluß gebracht wurde. Erst nachdem die vermeintlichen Götter im Prozeß um die Geschichte auf ihre Bilder zurückgeführt worden sind, werden diese Bilder definitiv auf die bloße Summe von Material und Handarbeit zurückgeführt. Ich beschränke mich für den Augenblick auf diese eher ,dramatische' Betrachtungsweise des Problems, gegenüber der statisch-konzeptionellen Betrachtungsweise von Kratz.

Auch wenn die Debatte über die ,Echtheit' der Stücke Bilderpolemik in Jes 40-55 inzwischen der vom Schachspiel her bekannten ,Wiederholung der Züge' ähnelt, so lassen sich meiner Meinung nach allmählich eine Reihe von Argumenten für ihre tiefe Verwurzelung im heutigen Kontext anführen: (a) die vielen Wortverbindungen mit der direkten Umgebung; (b) die Tatsache, daß der nähere Kontext essentielle Elemente aus der Beschreibung der Bilderfabrikation entlehnt; (c) die Tatsache, daß die Art und Weise, wie sie über Jes 41-46 verteilt sind, aus textproduktiver Sicht, stark an die Verteilung der anderen ,Gattungen' erinnert; (d) die Tatsache, daß sie im literarischen Zusammenhang nicht nur eine einzige Funktion erfüllen: Sie unterstreichen als Kontrast die Einzigartigkeit von JHWH, fungieren als Umkehr-Linse für sein Handeln, vor allem für sein Schöpfungswerk an Israel (die Bilderfabrikation als ,Anti-Schöpfung') und dienen darüberhinaus (in Jes 46 und 48) zur Ermahnung an das Haus Israel. Das ist mehr als man - alles in allem - von einer mehr oder weniger oberflächlichen ,Ergänzung' erwarten würde. Durch diese Multifunktionalität verliert van Oorschots Erklärung der Tatsache, daß die (auch seiner Meinung nach erst in einem sehr späten Stadium hinzugefügte) Bilderpolemik sich auf Jes 40-48 beschränkt (nur in diesem Teil des Buches wird JHWHs Unität thematisiert), ihre Überzeugungskraft. Gerade der beschränkte Textbereich läßt die Frage, ob die Bilderpolemik nicht doch, ebenso wie Heilswort und Gerichtsrede, zu den ursprünglichen Zutaten des Buches gehört haben könnte, nicht verstummen.

2. Das geteilte Israel: Hermisson geht davon aus, daß im ursprünglichen Material lediglich von einem ungeteilten Israel die Rede ist, und daß Texte wie Jes 50,10 und 42,23 deshalb nicht in diesen Grundbestand gehören. Mir stellt sich die Frage, ob man nicht auch bereits in den zu der Grundschrift gerechneten Texten einen gewissen Abstand zwischen demjenigen, der darin als ,Knecht Jakob-Israel' bezeichnet oder angesprochen wird, und den wirklichen Adressaten dieser Texte voraussetzt (zur Adresse siehe unter 8.).

3. Verzögertes oder bedingtes Heil: Nach Hermisson, dem sich Kratz und van Oorschot hierin anschließen, müssen wir für die Grundschrift an der Tatsache festhalten, daß das Heil sich jetzt vollzieht oder vollzogen hat. Das heißt, daß wir es überall dort, wo eine gewisse Zeitspanne zwischen dem zu erwartenden Heil und der Gegenwart, in der Autor und Leser über den Text kommunizieren (sei es auch nur in der Aussage, daß dieses Heil lediglich erst nahe ist) sichtbar wird, mit späteren Ergänzungen dieser Grundschrift zu tun haben müssen. Am deutlichsten wird dies an Stellen, wo der Durchbruch des Heils mit einer expliziten Bedingung verbunden wird.

Wir kommen hier zu einem der Kernpunkte in der redaktionskritischen Diskussion. Wenn wir für einen Augenblick von der Endfassung von Jes 40-55 ausgehen, dann sehe ich den Zusammenhang zwischen Heil und Bedingung darin folgendermaßen: Das performative Heilswort vollzieht sich am Knecht Jakob-Israel, und dieses realisierte Heil steht ab Jes 48 im Knecht der Lieder vor uns. Das bedingende Element im Text ist dann auch jeweils mit diesem Knecht verbunden: Hierbei geht es um Gehorsam gegenüber seinem Wort (48,17-19; 50,10-11) oder um Gehorsam nach seinem Vorbild (51,1-8; 51,12-16; 55,6 f.). Auch über die Nähe des Heils wird (in Hermissons ,qarob-Schicht') vor allem im Zusammenhang mit dem Knecht gesprochen (siehe 50,8; 51,5; aber möglicherweise muß man auch in 46,13 schon an 49,3 denken), wie übrigens Hermisson selbst auch ausdrücklich andeutet.(23)

Worum es nun meiner Meinung nach geht, ist die Frage, ob man hier von Ergänzungen aus einer total anderen Konzeption als aus der in der Grundschrift vorausgesetzten sprechen muß oder aber ob lediglich ausgearbeitet wird, was in der Grundschrift faktisch bereits verborgen ist. Ein solches Dokument (falls es existierte) wollte die Leser wohl auf jeden Fall von irgend etwas überzeugen - sie zu etwas anregen, so daß von Anfang an eine gewisse Spannung zwischen dem Heil, das dieses Dokument als bereits realisiert voraussetzte, und der Veränderung, die sich in den Lesern noch vollziehen mußte, bestand. Hermisson hat sicherlich darin recht, daß nicht überall in Jes 40-55 auf diesen Unterschied reagiert wird und auch darin, daß die Passagen, in denen das geschieht, einen eigenen theologischen Jargon mitbringen; aber man darf den Unterschied nicht überbewerten. Eine methodische Reflexion meiner redaktionskritischen Gesprächs-partner über Adresse und Ziel einer eventuellen Grundschrift würde das Gespräch an diesem Punkt womöglich erleichtern.

4. Partikularismus: Ich werde dieses Kriterium hier nicht weiter erörtern. Es bezieht sich hauptsächlich auf die Auslegung und redaktionskritische Analyse von Jes 45,9-25, über die auch die Meinungen der drei Autoren weit auseinander gehen. Gemäß Hermisson (o.Fußn. 1) 296 lassen die Ergänzungen in dieser Passage den Völkern ,nur die Wahl zwischen Untergang oder Sklavenlos', wodurch sie vor allem auf gespanntem Fuße mit dem Universalismus der Gottesknechtlieder stehen. Gegen die von mir vertretene Auffassung, daß ,Samen Jakobs' in 45,25 auch Nicht-Israeliten mit einschließt [H. Leene, Bijdragen 35, 1974, 309-334 (332 f.); vgl. ders. (o. Fußn. 7), 198], führt Van Oorschot (o. Fußn. 1), 41 n. 100 als Einwand an, daß man im 6. Jahrhundert noch keine Proselyten kannte. Meine Auslegung von Jes 45,9-25 steht jedoch nicht im Widerspruch zu meiner Beurteilung der Datierung von Jes 40-55, siehe unten Fußn. 47.

5. Ezechielismen, Deuteronomismen und andere Zitate: Hermisson verweist auf diese ,ismen' in Passagen, die er zugleich zu der bereits genannten qarob-Schicht rechnet. Er geht davon aus, daß Jes 48,1-11 von ,jeremianisch-deuterojesajanischen Tradentenkreisen' abstammt.(24) Daß es in Jes 40-55 Passagen gibt, die an Deuteronomium und Ezechiel erinnern, ist unverkennbar. Die Kernfrage scheint mir hier zu sein: Haben die Zusammensteller hier zu einem derartigen Jargon gegriffen, weil sie zu einem ganz anderen Kreis gehörten als der, aus dem die Grundschrift stammte, oder weil die Eigendynamik ihres entstehenden Textes sie dazu veranlaßte, an den Angelpunkten andere ,Schichten' ihrer literarischen und theologischen Ausbildung anzuzapfen?

6. ,Deuterojesajanische' neue Konstruktionen und Schriftgelehrtentum: Als Beispiele für aus der Schule des Propheten stammende ,Florilegien' nennt Hermisson Jes 51,12-14 (15 f.); 51,4-8 und 49,7.8-12. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß er solche Anthologien erst in Jes 49-55 vorfindet. In dem Maße, wie der Text fortschreitet, gibt es mehr Anlaß, allerlei Linien darin miteinander zu verbinden. Ich bin mir daher nicht sicher, ob diese Anthologien mit dem zunehmenden Abstand zum Propheten zusammenhängen; es ist auch möglich, daß sie schlichtweg mit dem zunehmenden Abstand zum Beginn des Buches zu tun haben. Schriftgelehrte Arbeit findet man übrigens auch bereits in der Art und Weise, wie z. B. in Jes 41-44 angrenzende Texte der vorausgesetzten Grundschrift miteinander verbunden sind.

7. Beziehungen zur aktuellen Geschichte: Standen Hermisson, Kratz und van Oorschot bisher auf einer Seite, so trennen sich ihre Wege ab diesem Punkt. Ein Kriterium, das bei Hermisson fortwährend eine Rolle spielt, ist, daß nur diejenigen Passagen vom Prophet selbst abstammen und zur Grundschrift gehört haben können, die man historisch mit dem Fall von Babel 539 und der diesem vorangehenden Periode verbinden kann. Dies scheint eine Konzession bezüglich seiner früheren Aussage zu sein, daß er nicht von der Einheit des Autors, sondern von der Einheit des Konzepts ausgehen wolle. In diesem Zusammenhang wehrt er sich vor allem gegen eine späte Datierung von Jes 46,1-2 und 47. Andere Ausleger werden dazu geneigt sein, die Sache umzudrehen, und die Frage, ob ein Text zu einem literarischen Zusammenhang gehört, nicht von der Datierung abhängen zu lassen, sondern sich erst im Licht des gefundenen Zusammenhangs für eine mögliche Datierung zu entscheiden. Siehe auch bei 4.

8. Jakob und Zion: ,Wenn ein so sorgfältig durchdachtes Konzept schwerlich erst das Ergebnis sekundärer Reflexion sein kann, so ist damit nur grundsätzlich sichergestellt, daß die Frau Zion neben dem Ahnherrn Jakob zur deuterojesajanischen Botschaft gehört'.(25) Hermisson hatte vorher schon bemerkt, daß Deuterojesajas Zuhörer ihm berechtigterweise einen Vorwurf hätten machen können, wenn er sie ohne deutlich um-schriebenes Endziel in die Wüste geschickt hätte. Die beiden anderen Autoren rechnen, wie wir bereits gesehen haben, die (meisten) Zion-Texte gerade nicht zur Grundschrift. Ihre Einwände gegen Hermissons Auffassung stimmen nicht ganz über-ein. Man könnte sie folgendermaßen affichieren: van Oorschot nicht dieselbe Adresse, Kratz nicht dasselbe Konzept.

Bei der Behandlung von der Dtjes Z Schicht (= erste Jerusalemer Redaktion) argumentiert van Oorschot, daß diese Schicht nicht dieselbe Adresse haben kann wie Dtjes G: Letztgenannter Text richtet sich an die golah, erstgenannter an die Bewohner von Jerusalem. ,Besonders die Heilworte in 49,14-21*.22 f. richten sich kaum unter bloß veränderter Redeform an dieselbe Zuhörerschaft in Babylon'. Die Not, von der diese Texte sprechen, ist eine andere als die Not, auf die die Grundschrift reagiert. ,Somit läßt sich für Kap. 40-46* und Dtjes Z ursprünglich nicht derselbe Verkündigungshorizont voraussetzen.(26)

Man geht hier von einer Prämisse aus, die ich nicht teilen kann. Die Adresse der Grundschrift kann nicht mit der in der Grundschrift angesprochenen Jakob-Israel Gestalt identisch sein. In dem Moment, als Heilsorakel für Jakob-Israel mit Texten verbunden wurden, die sich nicht an diese Gestalt richten (wie z. B. das Kyros-Orakel und die meisten Gerichtsreden), fiel die Adresse dieser Grundschrift automatisch nicht mehr länger mit Jakob-Israel zusammen - bzw. wurde deutlich, daß diese Adresse nicht mit Jakob-Israel zusammenfällt. In dieser Hinsicht verändert sich dann auch in dem Moment, als ihr an die Frau Zion gerichtete Worte hinzugefügt werden, nichts an der Grundschrift. Auch diese Frauenfigur ist lediglich eine Textgestalt, die man nicht mit der Leserschaft verwechseln darf. - Es läuft eigentlich darauf hinaus, daß ein Autor sich, nach van Oorschots Meinung, nicht innerhalb eines Werkes in zwei Gestalten (oder in zwei Perspektiven) hineinversetzen könnte. Es ist richtig, daß in Jes 49-52* andere Fragen zur Diskussion stehen als in Jes 40-46*, und das kann eventuell auf einen anderen Autor hinweisen - aber man kann auch dem(n) Verfasser(n) eines Textes schwerlich verbieten, darin hintereinander verschiedene Fragen zu beantworten.

Van Oorschot weist anschließend auf eine ganze Reihe terminologischer und konzeptioneller Unterschiede zwischen seinen Schichten Dtjes G und Dtjes Z hin,(27) aber diese fügen der Argumentation nichts wesentliches hinzu und können meistens auf das folgende zurückgeführt werden: Unterschied bezüglich der Adresse und der Notsituation, auf die reagiert wird.

Auch für Kratz legt die Kombination Jakob-Zion die schwerste Hypothek auf die ursprüngliche Einheit von Jes 40-55. ,Vielleicht am schwersten aber wiegt die Differenz, die in vorstellungsgeschichtlicher Hinsicht zwischen den beiden Teilen besteht'. Er bringt hierbei jedoch einen neuen Gesichtspunkt ins Spiel: ,Von dem Schema her ist schlechterdings nicht einzusehen, warum die Exulanten in Jes 40-48 als Erzvätervolk Jakob-Israel ausziehen und in Jes 49-54 als Kinder der Frau und Got-tesbraut Zion einziehen.'(28) In einem integrierten Werk würde man erwarten, daß Zion-Jerusalem die Rückkehr von Jakob-Israel herbeisehnt; und das wird nirgendwo in Jes 49-54 so gesagt. Diese Betrachtungsweise, die faktisch über das Statisch-Konzeptionelle hinausgeht und die nach dem Anschluß zwischen den Handlungen und den Mustern der Handlungsträger im ersten und zweiten Teil des Buches fragt, ist vielversprechend. Die Frage ist jedoch, ob dieser scheinbare Mangel an Anschluß nicht mit der Tatsache zusammenhängt, daß der Name Israel ab Jes 49 nur noch auf den Knecht zutrifft, so daß die Frau lediglich all diejenigen, für die dieser Knecht Bund und Licht geworden ist, herbeizusehnen braucht; die Zurückkehrenden bedürfen keiner anderen Legitimation mehr.(29) Obgleich ich die von Kratz signalisierte ,Unebenheit' also erkenne, betrachte ich sie höchstens als ein Argument gegen seine Auffassung, daß die Hinzufügung der meisten Zion-Texte der ,Israel-Interpretation' der Gottesknechtlieder vorausgegangen sein muß.(30)

Dies alles gibt Anlaß, kurz den Begriff ,konzeptionelle Einheit' zu bedenken - als eine Gesamtheit von Gedanken und Vorstellungen, die einander nicht ausschließen oder widersprechen. Es zeigt sich, daß dieser Begriff in der redaktionskritischen Analyse von Jes 40-55 ungenau und schwer anwendbar ist, und es gibt dafür einfache Erklärungen: (a) Die vorausgesetzten Grundschriften sind selbst auch nicht frei von ,konzeptionellen' Spannungen, so daß die Diskussion schon schnell in der Frage versandet, wieviel Spannung noch erträglich ist; (b) Die schlichte Tatsache, daß zwei unterschiedliche Vorstellungen in einem Text stehen, hebt an sich schon viel der gegenseitigen Spannung auf, stärker noch: lädt dazu ein herauszufinden, ob nicht gerade das Zusammenhalten der beiden Vorstellungen zu größerer Kenntnis der Wirklichkeit führt (,metaphorische Spannung'). Und das kann wiederum dazu führen, daß zwei Exegeten, die in Bezug auf eine bestimmte Unebenheit in einem Text an sich nicht unterschiedlicher Meinung sind, daraus doch unterschiedliche Schlußfolgerungen ziehen. Man kann hier an die unentschiedene Diskussion über die Bilderpolemik denken (siehe oben bei 1), aber auch an die Diskussion über die Gestalten Jakob und Zion, Hermisson zufolge ein ,sorgfältig durchdachtes Konzept', Kratz zufolge ,zwei grundverschiedene Konzepte'.(31) Aus diesem Grund spreche ich selbst lieber nicht von Unterschieden in der Konzeption, sondern von Veränderungen der linguistischen und terminologischen Spielregeln sowie von Sprüngen im Handlungsablauf und im Aktantenmuster, die vielleicht als Zeichen von Textproduktion dienen könnten.

9. Babylon: Daß Hermisson und Kratz (im Gegensatz zu van Oorschot) Jes 47 zur Grundschrift rechnen, wurde bereits festgestellt. Ich verweise hier noch auf einen Unterschied zwischen Hermisson und Kratz. Hermisson weckt den Eindruck, daß Jes 47 und die kontrastierenden Zion-Texte in Jes 51 und 52 zu einem Konzept gehören, während Kratz, der Jes 47 zwar als eine unentbehrliche Fortsetzung der Kyrostexte in 41-46 betrachtet, dieses Kapitel im Verhältnis zu den Zion-Texten aber als einzeln erhältlich erachtet.

10. Chaosstreit: Auch hier geht es wieder um die Frage, was innerhalb eines Konzeptes noch und nicht mehr akzeptabel ist. Gemäß Kiesow unterscheiden sich die Betrachtungsweisen des Exodus in Jes 43 und Jes 51 dafür zu viel, aber Hermisson bestreitet dies.

11. Worttheologie:Bei der Besprechung verteidigtHermisson die Authentizität von Jes 55,8 f. Nach van Oorschots Meinung muß man in 40,6-8; 44,25.26a; 50,4-9 (Ebed-Lied!) und 55,10 f. an eine extra Schicht denken: die ,Wort- und prophetentheologische Linie' der ,sekundären Zionsschicht'. Diese Texte werden durch die Thematisierung von JHWHs Wort in Ausdrücken, die in der Grundschrift fehlen, gekennzeichnet.

Während ich meine Bedenken gegenüber dem Begriff ,Konzeption' als exegetische Kategorie geäußert habe, bin ich der Meinung, daß der Begriff ,Konzeptionalisierung', als Kategorie des Textes selber, verdeutlichend ist. Man kann sagen, daß die dramatische Handlung, die sich in Deuterojesajas Text abspielt, in manchen Passagen ,konzeptionalisiert', d. h. begriffsmäßig zusammengefaßt wird. So verhalten sich die erwähnten Wort-Texte als Konzeptionalisierung zu der Handlung, von der wir über Gerichtsrede und Heilswort direkt Zeuge sind. Gerade weil diese Wort-Texte von soviel Verständnis für den performativen Charakter des Dramas zeugen, entgeht mir, mit Hermisson und gegen van Oorschot, die Notwendigkeit, hier an verschiedene diachronische Schichten zu denken.

12. Gottesknechtlieder: Hier verweist Hermisson auf die ,prophetische' Auffassung der Gottesknechtlieder, die er an anderer Stelle ausführlich auseinandergesetzt hat. Sie können (außer Lied IV) Deuterojesaja nicht abgesprochen werden, und müssen seiner Meinung nach somit zu den ältesten Sammlungen gehören. Die beiden anderen Autoren denken hier an spätere redaktionelle Schichten. Ich kann hier nicht ausführlich auf die Identität des Knechtes eingehen, und bemerke lediglich, daß meine frühere Aussage, daß der Text von Jes 40-55 nicht auf einen Prophet dahinter verweise, unter anderem mit meiner Auffassung zusammenhängt, daß die Gottesknechtlieder nicht auf einen historischen Propheten blicken können, der als Autor von (der Grundschrift von) Jes 40-55 in Betracht kommt [siehe meinen Aufsatz über Jes 53 in: GTT 93, 1993, 232-253, bes. 249 f.].



Ich fasse meine wichtigsten Fragen zu den 12 Kriterien zu-sammen. Sie beziehen sich auf die folgenden Punkte:

(1) Die Art und Weise, wie historische und literarische Argumente durcheinander laufen (siehe bei Kriterium 7): Meiner Meinung nach muß man zuerst die eventuelle relative diachronische Schichtung beschreiben und erst danach versuchen, die Schichten historisch zu verankern. Die Frage ,Welche Passagen kann ich berechtigterweise mit dem Propheten Deuterojesaja am Vorabend von 539 v. Chr. verbinden und welche nicht?' scheint mir kein tauglicher Ausgangspunkt zu sein, da wir nicht wissen, ob es einen solchen Prophet gab, geschweige denn, ob es ihn damals gab (siehe auch bei Kriterien 4 und 12).

(2) Es fragt sich, ob ein anderer Jargon immer auf einen anderen Tradentenkreis hinweisen muß, anstatt auf eine andere ,Schicht' der eigenen literarischen und theologischen Ausbildung (siehe bei Kriterien 5 und 11).

(3) Die Unklarheit der Begriffe Konzept, konzeptionelle Konsistenz und konzeptioneller Unterschied (siehe Kriterien 1, 8 und 10): Ich selbst würde lieber zu einer Methode zurückkehren, bei der die Erforschung von linguistischen und stilistischen Unterschieden an erster Stelle steht, und bei der anschließend der Handlungsverlauf mit seinen eventuellen Spannungen analysiert wird. Das bedeutet nicht, daß solche Unterschiede automatisch auf eine ,andere Hand' hinweisen, doch sie müssen immer der Ausgangspunkt in der redaktionskritischen Diskussion bleiben.

(4) Die Identifikation der Leserschaft mit einer im Text angesprochenen Gestalt (siehe bei den Kriterien 2, 3 und 8): Der Leser kann sich tatsächlich in einer solchen Gestalt (der Knecht Israel oder die Frau Zion) erkennen, aber dies ist keineswegs notwendig, und es kann sogar zur Strategie eines Textes gehören, dem Leser eine Gestalt absichtlich zu entfremden und die Identifikation rigoros zu behindern.

II

In den Kapiteln Jes 40-48 gehören nach Hermisson, Kratz und van Oorschot resp. 70%, 56% und 40% der Verse zur Grundschrift.(32) Für die Kapitel 49-55 sind diese Angaben 43%, 3% und 0%. Das bedeutet, daß für jeden dieser Autoren das sekundäre Material mit dem Fortschreiten des Textes umfangreicher wird. Man kann diese Tendenz bereits feststellen, wenn man die Kapitel 40-44 und 45-48 miteinander vergleicht. Für 40-44 sind die Angaben: 77%, 65%, und 50%; für 45-48: 57%, 39%, und 25%. Es handelt sich hier um die Bestätigung eines Eindrucks, den man auch ohne diese Zahlen bereits von den redaktionskritischen Hypothesen hatte: Der Anteil der Grundschrift im letztendlichen Text nimmt nach Meinung dieser Autoren allmählich ab, wobei es offensichtlich keinen Unterschied macht, wie weit oder wie eng man die Grundschrift abgrenzt.

Wie ist diese Beobachtung zu erklären? Sie verträgt sich nicht mit einer Auffassung, derzufolge ein bereits abgeschlossenes Dokument später aufs neue bearbeitet wurde. In dem Fall hätte es nämlich auf der Hand gelegen, daß dieses sekundäre Material einigermaßen gleichmäßig über den letztendlichen Text verteilt worden wäre. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, daß jüngeres Material lediglich am Ende des ursprünglichen Dokumentes hinzugefügt worden war; aber auch das entspricht nicht der Beobachtung. Gerade diese allmähliche Zunahme von Passagen, die auf viele Ausleger einen sekundären Eindruck machen, bringt mich zu einer alternativen Hypothese. Ich fasse diese Hypothese zuerst in neun Punkten zusammen und werde sie dann am Beispiel einiger Passagen aus Jes 40-48 prüfen.

1. Das Corpus Jes 40-55, wie wir es kennen, kam zustande, weil eine Person oder eine Gruppe den Plan faßte, einen solchen Text zu schreiben. Der Text ist somit nicht das Resultat eines Wachstumsprozesses, sondern eines Prozesses von Planung und Steuerung.(33)

2. Der Begriff ,Plan' gehört in die diachrone Analyse des Textes, nicht in die synchrone Analyse oder ihre Kritik. Der Plan des Textes (genitivus objectivus) ist etwas anderes als die Struktur des Textes (genitivus subjectivus).

3. Diejenigen, die an dem Text arbeiteten, waren hierfür durch einen Auftrag oder eine Absprache bevollmächtigt. Sie mußten sich an den Auftrag oder die Absprache halten, auch wenn sie sich in der weiteren Ausarbeitung eine gewisse Freiheit erlauben konnten.(34)

4. Die Ausarbeitung des Projektes kann sich über eine längere Periode hingezogen haben und auch zwischenzeitlichen Unterbrechungen unterworfen gewesen sein. Doch wird man sich sicherlich darum bemüht haben, das Projekt in der Generation desjenigen/derjenigen, der/die damit angefangen hatte/n, zu vollenden.

5. Externe Ereignisse während des Prozesses wird man im Licht des bereits Geschriebenen gesehen haben. Die innere Dynamik des Prozesses muß wichtiger gewesen sein als die Einflußnahme von außen.

6. Versionen des Textes, die der Endfassung vorausgegangen sind, hatten den Charakter einer vorläufigen Version. Man betrachtete sie als noch nicht abgeschlossen. Sie waren nicht für die Verteilung im größeren Kreise bestimmt.

7. Die ,Ökonomie' muß in der Textproduktion eine Rolle gespielt haben. Man wird Texte nicht immer wieder umgeschrieben haben. Der Schreibprozeß war (bei einem dramatischen Text wie Jes 40-55) in der Regel linear. Manchmal wird man während des Schreibens an einen Punkt gelangt sein, an dem Korrekturen oder Veränderungen des Vorangegangenen unvermeidlich wurden. Die Spuren von derartigen Eingriffen bilden den wichtigsten Anknüpfungspunkt für eine redaktionskritische (oder vielleicht besser: textproduktionskritische) Analyse.

8. Im oben Genannten geht es um das vorherrschende Modell der Textproduktion. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß es außerdem zufällige (und manchmal undeutliche) Gründe gab, redaktionelle Veränderungen, die eher einem ,Wachstumsmodell' als einem ,Projektmodell' entsprachen, anzubringen. Aber wenn man viele Ergänzungen im Text aufzeigen kann, die nicht als Veränderungen aufgrund späterer Entwicklungen im Drama selbst zu erklären sind, würde ich dies als eine Falsifizierung des von mir dargestellten Modells betrachten.

9. Es ist eine vergebliche Mühe, für einen Vers oder ein Kolon sorgfältig vollständige redaktionelle Schichten zu rekonstruieren. Von solchen Konstruktionen darf man im allgemeinen kein intersubjektives Resultat erwarten. Es ist jedoch vielleicht möglich, eine gewisse Einstimmigkeit über die Prinzipien und großen Linien des textproduktiven Prozesses zu erreichen.

Jes 41,27: Kratz neigt dazu, die Crux von Jes 41,27 nicht textkritisch, sondern redaktionskritisch zu lösen.(35) Er rechnet den Vers zu den ,Zion-Fortschreibungen'. Daß der Vers in gewissem Sinn den regelmäßigen Aufbau von 41,21-24.25-29 stört, will ich nicht abstreiten. Er gehört nicht mehr zur Beweisführung im Prozeß mit den Göttern.(36) Problematisch ist Kratz' Auffassung, daß dies ,nicht für ein einheitliches Konzept einer durchgehenden dramatischen Komposition, sondern für spätere Zufügung spricht'.(37) In dieser Formulierung zeigt sich ein Dilemma, das ich nicht akzeptieren kann. Daß die dramatologische Beschreibung von Jes 40-55 mit Antizipationen und Retroversionen rechnen muß, habe ich bereits an anderer Stelle betont.(38) Die Beschreibung von 41,27 als Antizipation in Hinsicht auf den dramatischen Verlauf gehört jedoch zur synchronen Analyse, die Beschreibung als spätere Zufügung zur dia-chronen Analyse des Textes. Bei einer methodologisch deutlichen Vorgehensweise brauchen diese Beschreibungen sich nicht zu widersprechen.

Ich stimme mit Kratz darin überein, daß Jes 41,27 dem Text vermutlich erst hinzugefügt worden ist, nachdem dieser inzwischen bis 49,12.16 und 52,7-10 fortgeschritten war.(39) Das Ak-tantenmuster JHWH-Freudenbote-Zion-Zurückkehrende scheint einer Kombination von 49,12.16 und 52,7-10 entlehnt zu sein.(40) Der Ausdruck r'swn in 27a stammt zwar aus der näheren literarischen Umgebung (41,4; vgl. 41,22.26), aber seine Bedeutung verweist auf eine fortgeschrittene Konzeptionalisierung, wobei JHWHs ganzes Werk über Kyros schlichtweg unter dem Begriff ,Früheres' verstanden werden kann: Er, der sich in Kyros als der Frühere erwies, stellt nun Zion etwas Neues in Aussicht. Diese fortgeschrittene Konzeptionalisierung kann man in einer Zufügung, die diachronisch Jes 48 bereits weit hinter sich gelassen hat, erwarten.

Daß ich Kratz hier in wichtigen Punkten beipflichte, bedeutet, daß ich 41,27 nicht ohne weiteres mit der Tatsache, daß der wunderliche Weg durch die Wüste in Deuterojesjas Predigt nun einmal ein Endziel brauchte, erklären möchte.(41) Hier ist durchaus von einem Anzeichen der (literarischen) Textproduktion die Rede. Gleichzeitig muß man feststellen, daß 41,27 nicht ohne den heutigen Kontext existiert haben kann, und daß es an einer gut gewählten Stelle zugefügt wurde. Die angekündigte An-kunft in Zion schließt in 41,27 kontextuell an die in 41,17-20 suggerierte Wüstenreise an.

Die Antizipation Jes 41,27 stört den dramatischen Fortschritt nicht, gerade weil ihm offenkundig mit Absicht eine gewisse Rätselhaftigkeit verliehen wurde. Der Vers deutet spätere Entwicklungen an, ohne dabei mehr als nötig zu enthüllen. Jes 41,27 kann meiner Meinung nach als Modell für die meisten Anzeichen von Textproduktion in Jes 40-55 fungieren. Die Charakteristika solcher Anzeichen sind folgende:

1. Die Passage ist in Hinsicht auf Wortschatz und Aktantenmuster offensichtlich einer viel späteren Episode im linearen Text entlehnt.

2. Nichtsdestotrotz ist sie mit Sorgfalt in den bereits bestehenden Kontext eingeordnet. Wie dieser Kontext vor der Zufügung genau ausgesehen hat, läßt sich nicht immer mit Sicherheit feststellen.

3. Der Text besitzt im heutigen Kontext eine absichtliche Rätselhaftigkeit, was zeigt, daß der Zufüger den dramatischen Fortschritt und die damit korrelierende fortschreitende Enthüllung nicht stören wollte.

4. Die Punkte 2 und 3 weisen darauf hin, daß die Zufügung vermutlich nicht aus dem ursprünglichen Rahmen der Hersteller fällt, und sie plädieren somit gegen einen allzu großen zeitlichen Abstand zwischen dem Zustandekommen der älteren, vorläufigen Textversion und der Zufügung.



5. Aus dem Vorangegangenen folgt außerdem, daß eine Zufügung diachronisch später fällt, je weiter sie im linearen Text vorausweist. Wenn das Modell stimmt, muß dies jedenfalls die Regel sein. Weil Ergänzungen sich, unabhängig davon, auch untereinander diachronisch voraussetzen können, liegt hierin eine extra Möglichkeit, dieses Modell zu testen.(42)

Jes 42,1-4.5-9: Hinsichtlich Wortfeld und Aktantenmuster hebt Jes 42,1-4 sich stark von der direkten Umgebung ab, und erinnert es noch am meisten an Jes 48 und 49. Erst dort tritt in dem Drama ein Knecht auf, der spricht, unter anderem zu den Küstenländern.

Obwohl 42,1-4 außerdem subtile Beziehungen zum nahen Kontext unterhält, ist es vor allem die Fortsetzung 42,5-9, die der Figur dieses Berufenen seinen Platz innerhalb der Komposition von Jes 41,1-42,17 gibt. Das Heil, das durch diesen Knecht vermittelt werden wird, steht als das Neue gegenüber dem Früheren, daß sich dank sei Kyros erfüllt hat. Wenn man auf den genauen Wortlaut achtet, in dem 42,8-9 über das Frühere und das Neue spricht, weist diese Passage weit über sich hinaus. Die Zeitterminologie setzt vermutlich diachronisch Jes 48,1-11 voraus. Meines Erachtens wurden 42,1-4.5-9 gemeinsam in den heutigen Kontext eingebaut, und dies kann erst geschehen sein, nachdem Jes 48 einmal niedergeschrieben war - erst, nachdem die Autoren dort einen fiktiven Torah-Lehrer, den sie offensichtlich mit dem durch JHWH veränderten Knecht Jakob-Israel identifizieren wollten, sprechend in den Text eingeführt hatten (48,16). Daß Jes 42,1-4.5-9 eine spätere Zufügung in eine ältere Phase des Textes ist, wird durch die Tatsache, daß manche Aussagen über den Knecht zwischen 42,10 und 47,13 nicht mit 42,1-4.5-9 zu rechnen scheinen, bestätigt. Wenn wir von einer literarischen Verbindung zwischen dem Bild vom gelöschten Docht in 42,3 und 43,17 sprechen können,(43) dann ist es eher so, daß 42,3 diachronisch 43,17 voraussetzt, als umgekehrt. Auf einige Anpassungen zwischen 42,14 und 47,13 aufgrund der Einschiebung von 42,1-9 werde ich sogleich eingehen.

Gleichzeitig ist es deutlich, daß Jes 42,1-9 sehr sorgfältig in den heutigen Kontext eingebaut, und was die Formulierung betrifft, darauf abgestimmt wurde. Es ist möglich, daß die Einfügung zu einer Neuordnung des ursprünglichen Kontextes geführt hat, wodurch die Möglichkeit einer Rekonstruktion der älteren Textphase sehr eingeschränkt würde. Andererseits bezweifle ich sehr, daß 42,1-4 als Text bereits existierte, bevor es an der heutigen Stelle eingeschoben wurde. Dieses Knechtslied ist gerade durch seine rätselhaften negativen Aussagen in jeder Hinsicht für seine heutige literarische Funktion geeignet, nämlich im Rahmen des Dramas bereits mit verblümten Worten anzudeuten, was sich später tatsächlich abspielen wird (siehe oben das 3. Charakteristikum der Textproduktion). Bei 42,1-4 kann man daran vielleicht noch zweifeln, bei 42,5-7 gilt jedoch sicherlich, daß es außerhalb des Buchkontextes nicht existierte. Aber auch hier liegt Jes 48 nicht in weiter Ferne. So kann man einen Zusammenhang sehen zwischen der versprochenen ,Bewahrung' des Knechtes (42,6) und den neuen Dingen, die JHWH bereits ,in Gewahrsam hatte' (48,6).

Jes 42,10-13: Dieses neue Lied kann schwerlich im Text gestanden haben, solange Jes 42,8-9 noch nicht drinstand. Das bedeutet, daß die Zufügung von 42,10-13 ebenfalls diachronisch auf Jes 48 folgen muß. Dramatisch gesehen greift der Inhalt dieses Liedes noch viel weiter voraus. Wenn meine Annahme korrekt ist, daß es vom Thronbesteigungslied Ps 98 oder Ps 96 inspiriert wurde, muß JHWHs eigentliche Thronbesteigung in 42,10-13 absichtlich ausgespart worden sein. JHWHs Auszug in die Wüste will dann seinen zukünftigen Einzug in Zion erahnen lassen. Die Regel der Rätselhaftigkeit in Hinsicht auf spätere dramatische Entwicklungen scheint mir auch hier zuzutreffen. Dennoch ist es wahrscheinlich, daß 42,10-13 noch vor dem Zustandekommen von 49,1-6 eingefügt wurde, weil dort ja die Bilder vom Knecht und von JHWH als Krieger (die in Jes 42 noch mehr oder weniger lose nebeneinander stehen) im Bild vom Knecht als JHWHs verborgene Waffe kombiniert werden.

Gemäß Hermisson gehörten 42,1-4, 5-9 und 10-13 im ältesten literarischen Stadium zu drei verschiedenen Sammlungen [in seinen Numerierungen resp. Sammlung 6, 2 und 3, vgl. Hermisson (o. Fußn. 1) 311]. Jes 42,10-13 bildete zusammen mit 44,23 die hymnische Umrahmung von Sammlung 3. Erst in einer folgenden redaktionellen Phase entstand der Anschluß mit 42,5-9, womit (noch ohne 42,1-4) Sammlung 2 endete. Auch wenn die Brücke zwischen den 'neuen Dingen' (v.8) und dem ,neuen Lied' (v.10) an sich noch durch die Einordnung von Hermissons Sammlungen gemäß eines oberflächlichen Schlüsselwortprinzips verursacht sein könnte, so scheint mir das angesichts der übrigen semantisch-isotopischen Verbindungen zwischen 5-9 und 10-13 keine annehmbare Erklärung zu sein. [vgl. Leene (o. Fußn. 7), 92 f. 234]. Was das Knechtslied betrifft: Nach Hermissons Meinung bezieht dieses sich ursprünglich auf den Propheten.

Nach Kratz gehörte 42,10-13 zur ,Grundschrift', die Einbauung des Knechtsliedes 42,1-4 und seine Neuinterpretation in 42,5-7 zur ,Kyros-Ergänzungsschicht', und 42,8-9 zur ,Ebed-Israel-Schicht' [Kratz (o. Fußn. 1), Übersicht auf S. 217] Was mir in dieser Auffassung zusagt, ist (a), daß Kratz 42,8-9 ausdrücklich zur selben Schicht rechnet wie 48,1-11 (129), und (b), daß er das ,Neue' zumindest in dieser Schicht auf das Heil eines als ,Israel' interpretierten Knechtes bezieht. Schwieriger finde ich in dieser Rekonstruktion u. a., daß das neue Lied der Völker in 42,10-13 bereits in der Grundschrift stand und dort das (für diese Völker vorläufig noch furcht-erregende) Kyros-Geschehen beantworten mußte.

Kratz ist der Meinung, daß 42,5-9 schwerlich die ursprüngliche Fortsetzung von 42,1-4 gewesen sein kann (128). M. E. kann man die Unterschiede zwischen 42,1-4 und 5 ff. vor allem von einer unterschiedlichen Funktion her erklären: Der erste Text will den Auftritt des Knechtes als Torah-Lehrer ab Jes 48 antizipieren, der zweite Text will ihn mit dem Israel von 41,8 f. identifizieren. Der Ausdruck ,Bund für das Volk' versucht dann zu vereinen, daß der Knecht Israel ist und sich gleichzeitig (vor allem ab Jes 48) vom empirischen Gottesvolk unterscheiden wird (anders Kratz: 's bezieht sich in 42,6 auf die Menschheit).

Gemäß Kratz hat der Ergänzer in 42,5-7 den Knecht von 1-4 dagegen auf Kyros bezogen (141 ff.; zusammenfassend 144). Die beiden wichtigsten Argumente gegen diese mit Begeisterung vorgetragene Auffassung bleiben m. E.: (a) Ein Ergänzer, der diese Auslegung beabsichtigte, hätte in 42,5-7 aus dem nahen Kontext Kyros-Aussagen (41,1-4.21-29) und nicht, so wie das jetzt der Fall ist, Israel-Aussagen (41,8-13) verarbeitet; und (b) es ist nicht plausibel, daß es einem Redakteur freistand, Texte, die sich (gemäß Kratz, vgl. Steck) ursprünglich auf den Propheten Deuterojesaja bezogen, nur wenige Jahrzehnte später auf Kyros zu beziehen.

Nach van Oorschot ist das Ebed-Lied Jes 42,1-4 eine Zufügung zur Grundschrift, und gehören 42,5-9 und 10-13 zur noch später zugefügten ,Naherwartungsschicht'. Mit dem Knecht der Lieder I, II und IV sei die golah gemeint. Er lehnt eine individuelle Interpretation dieser Lieder zu Recht ab [van Oorschot (o. Fußn. 1), 189]. Daß er 42,5-9 zur ,Naherwartungsschicht' rechnet, hängt mit JHWHs Ankündigung des Neuen, ,bevor es aufgeht' (42,9) zusammen. Das war in der Grundschrift anders: ,jetzt geht es auf' (43,19). Die auf der Hand liegende Erklärung, daß 42,9 derart auf das ältere 43,19 abgestimmt ist, daß sich in ihrer heutigen Textreihenfolge dramatischer Fortschritt abzeichnen konnte, wird von van Oorschot leider nicht erwogen.

Der hauptsächliche Unterschied zwischen diesen Vorschlägen und meinem eigenen Modell ist, daß ich, insofern ich selbst von Zufügungen spreche, dabei immer an Zufügungen aufgrund späterer Verwicklungen innerhalb des sich noch im Ausbau befindlichen Werkes denke. Wenn ich von diesem wichtigen Unterschied absehe, finde ich bei Kratz noch die meisten Anknüpfungspunkte: auch er liest Jes 42 hauptsächlich im Licht von Jes 48.

Jes 42,18-25: Für eine Analyse dieser schwierigen und reichlich mit textproduktiven Spuren versehenen Passage verweise ich auf dasjenige, was ich an anderer Stelle darüber geschrieben habe.(44) Der Zweck dieses Stücks ist, die Episode Jes 42,18-44,23* an die Einfügung des Knechtsliedes 42,1 ff. anzupassen. Die Formulierungen in 42,18-25 setzen also zugleich Jes 48 voraus, so wie das durch das Aktantenmuster JHWH-Gesandter-Torah (vgl. 48,16-19) bestätigt wird. Die übrigen Einheiten innerhalb 42,18-44,23 scheinen diese Veränderungen diachronisch nicht überall zu berücksichtigen, auch wenn man gleichzeitig sagen muß, daß die durch 42,18-25 hervorgerufene Spannung in Hinsicht auf den weiteren dramatischen Verlauf eine dermaßen sinnvolle Funktion hat, daß wiederum die angenommenen redaktionellen Eingriffe nur mit äußerster Sorgfalt und Kongenialität ausgeführt sein können.

Hermisson rechnet 42,18-25 (mit einem ?) zu der qarob-Schicht, die die Verzögerung des Heils durch Israels Haltung zu erklären versucht [Hermisson (o. Fußn. 1), 295.311]. Sie zeichnet sich außerdem durch Deuteronomische, Jeremianische und Ezechielanische Redewendungen aus, die auf eine Verschmelzung von Tradentenkreisen verweisen (298 f.). Hermisson rechnet Teile von Jes 48 zu derselben Schicht. M. E. distanziert sich diese Passage nicht von der realisierten Eschatologie von Hermissons ,Grundbestand', sondern verweist sie lediglich auf das Paradox zwischen diesem gegebenen Heil und der bestehenden Situation: ,... wer ist blind wie der (in 42,1-4 vorgestellte) Knecht JHWHs?'

Kratz rechnet 42,18-25 zur 'Ebed-Israel-Schicht', zu der er u. a. auch 42,8-9 und 48,1-11.16-19 zählt [Kratz (1. Fußn. 1), 217], und erklärt deren Komplexität mit Gründen ,aus der durchgängigen literarischen Verflechtung mit dem Kontext' (139; siehe über die Verbindungen mit Jes 48 vor allem 140).

Van Oorschot rechnet 42,18-23* (wie auch Hermisson) zur ,Naherwartungsschicht'. Die Einheit wurde von R3 (,Gehorsam und Segen') bearbeitet und mit 24-25* ergänzt [van Oorschot (o. Fußn. 1), 209]. Ein auffälliger Unterschied zu Kratz' Betrachtungsweise besteht darin, daß van Oorschot die Einheit noch immer über den bekannten Weg der minuziösen literarkritischen Zergliederung zu erklären versucht. Auch er sieht zwar allerlei Beziehungen zur literarischen Umgebung, aber der primäre Interpretationsrahmen bleibt leider doch eine in Hinsicht auf die Grundschrift veränderte historische Situation, in der sich inzwischen herausgestellt hat, daß der Knecht (= Israel) seinen Auftrag nicht ausgeführt hat (212 f.).

Es ist interessant, daß wir für all diese Zufügungen in Jes 42 nicht nur einen terminus post quem haben, nämlich das Zustandekommen von Jes 48, sondern auch einen terminus ante quem, nämlich das zweite Knechtslied Jes 49,1-6, das nämlich den Text zwischen 42,1 und 44,23 in seiner heutigen Form berücksichtigt (zumindest: mit den soeben genannten Ergänzungen). Es wurde deshalb deutlich später geschrieben als das erste Knechtslied. Auf den Zusammenhang der Verse 44,23b 48,20b und 49,3 wurde bereits von vielen verwiesen.

In textproduktiver Hinsicht kann dieser Zusammenhang so verstanden werden, daß die Autoren eine Verbindung zwischen Jes 48 und 49 zustande bringen wollten, und zwar durch die Zweiteilung der bereits bestehenden Zeile 44,23b. Die Tatsache, daß im Kontext von 44,23 so ausdrücklich von Jakob-Israel als Knecht die Rede ist, wird dabei wohl auch eine Rolle gespielt haben. Die alternative Lösung, nämlich daß 44,21-23 auf der Grundlage von Jes 48-49 neugeschrieben wurde, kommt meines Erachtens nicht in Betracht.(45) Wir können also schlußfolgern, daß 48,20-21 auf der Grundlage von 44,21-23 geschrieben wurde. Das gilt wahrscheinlich auch für 49,1-6. Die von vielen vertretene Vermutung, daß 49,3 eine Glosse im zweiten Knechtslied sei, steht auf gespanntem Fuße mit der Beobachtung, daß 49,1-6 auch ansonsten ständig an Zeilen aus Jes 41-44 erinnert.

49,1a (Küstenländer, usw.) vgl. 42,4

49,1b.5a (Mutterschoß, usw.) vgl. 44,2

49,2 (Schwert, Pfeil) vgl. 42,13 (JHWH als Krieger)

49,3 (Verherrlichung Israels) vgl. 44,23b

49,5a (zurückkehren lassen) vgl. 44,22 (zurückkehren)

Man könnte also sagen: Jes 49,1-6 krönt diachronisch die Integration von Jes 41-44. Es wurde auf der Grundlage von Jes 41-44 geschrieben, nachdem 42,1 ff.18 ff. zugefügt worden war, und legt so Zeugnis ab von einer relecture dieser Kapitel. Am Ursprung des ersten Knechtsliedes könnte man noch zweifeln (siehe aber oben), das zweite Knechtslied kann nicht außerhalb des Buchkontextes entstanden sein.(46)

Diese Beispiele redaktioneller Eingriffe ließen sich noch beliebig ausweiten. Ich wehre mich jedoch gegen den Gedanken, daß es sich dabei im allgemeinen um Zufügungen an einer bereits abgeschlossenen Schrift handele. Es handelt sich vielmehr um Fortschreibungen (oder ,Zurückschreibungen') an einem Werk, das hinsichtlich des Plans des/der Hersteller/s noch fortgeschrieben werden mußte. Veränderungen im bereits Geschriebenen wurden auf der Grundlage von späteren dramatischen Entwicklungen innerhalb des Werkes selber angebracht, und vermutlich nicht auf der Grundlage von neuen historischen Erfahrungen des/der Hersteller/s. Die besprochenen redaktionskritischen Studien haben zurecht die Beschränkungen einer allzu ,holistischen' Auslegung von Jes 40-55 aufgezeigt, aber auch die Hypothese von einer dtjes. Grundschrift ruft ernsthafte Bedenken hervor. Meines Erachtens hat es eine solche Grundschrift nie gegeben.

Bei einem Werk wie Jes 40-55, in dem das Verhältnis von Planung und Realisierung ein so wichtiges theologisches Thema bildet, ist es nicht sinnwidrig, es selbst auch als die Ausarbeitung eines wohlüberlegten Plans, als die Verwirklichung eines literarischen Projektes zu betrachten, als etwas, das in großen Linien bereits im Geist existierte, bevor es dem Papier anvertraut wurde.(47)

Fussnoten:

1 H.-J. Hermisson, Einheit und Komplexität Deuterojesajas. Probleme der Redaktionsgeschichte von Jes 40-55, in: J. Vermeylen (ed.), Le livre d'Isaie, BEThl 81, Leuven 1989, 287-312; R. G. Kratz, Kyros im Deuterojesaja-Buch. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Entstehung und Theologie von Jes 40-55, FAT 1, Tübingen 1991; vgl. O. H. Steck, Gottesknecht und Zion. Gesammelte Aufsätze zu Deuterojesaja, FAT 4, Tübingen 1992; J. van Oorschot, Von Babel zum Zion. Eine literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchung, BZAW 206, Berlin-New York 1993.

2 Hermisson (o. Fußn. 1), Schema auf S. 311.

3 Kratz (o. Fußn. 1), Schema auf S. 217.

4 Van Oorschot (o. Fußn. 1), Schema auf S. 345.

5 Hermisson (o. Fußn. 1), 305: ,Rollentausch der beiden Königinnen.'

6 Kratz, (o. Fußn. 1), 45.

7 H. Leene, De vroegere en de nieuwe dingen bij Deuterojesaja, Amsterdam 1987, 76 ff.

8 Kratz, (o. Fußn. 1), 169.

9 Van Oorschot, (o. Fußn. 1), 97.



10 H. Leene, Psalm 98 and Deutero-Isaiah: Linguistic Analogies and Literary Affinity, Actes du Quatrième Colloque International "Bible et Informatique: Matériel et Matière" (Amsterdam 1994), Paris 1995, 313-340.

11 Kratz, (o. Fußn. 1), 161.

12 Kratz, (o. Fußn. 1), 182 f.

13 Hermisson, (o. Fußn. 1), 309. Doch ist die dritte Sammlung 42,10-44,23* ihmzufolge ,durch kleine Hymnenstücke gerahmt', und führt die fünfte Sammlung uns absichtlich von Babel (Jes 47) nach Zion (Jes 49-54*). Der Anfang von Sammlung 5 wechselte bei der Zusammenfügung vielleicht den Platz mit 48,20-21, ursprünglich das passende Ende von Sammlung 4.

14 Zusammenfassend Kratz, (o. Fußn. 1), 148-157.

15 Kratz, (o. Fußn. 1), 150.

16 Kratz, (o. Fußn. 1.), 35. Man könnte sagen, daß bei Kratz, abweichend von den eher üblichen Prozeduren, die synchrone Analyse der diachronen folgt.

17 Van Oorschot, (o. Fußn. 1), 94.

18 Eine vergleichbare Schwierigkeit tritt, in einem kleineren Maßstab, bei der redaktionskritischen Analyse von Jer 30-31 auf, wo Lohfink im rekonstruierten Urtext des poetischen Mittelstücks eine schöne Komposition entdeckte. Siehe H. Leene, ZAW 104, 1992, 349-364, bes. 357 f.



19 Kratz, (o. Fußn. 1), 45 f. 155.

20 Kratz, (o. Fußn. 1), 50.

21 Hermisson (o. Fußn. 1), 289 f.

22 Daß man in verschiedenen Schichten verschiedene Konzepte vorfindet, stellt sich bei Kratz immer wieder als die entscheidende Überlegung heraus. Ebenso bei Van Oorschot (o. Fußn. 1), 23: 'Im Vordergrund steht die Bemühung um die Abgrenzung eines einheitlichen Verkündigungskonzeptes der Grundschicht und ihrer Bearbeitungen'; linguistisch-stilistischen und formkritischen Beobachtungen mißt er lediglich eine heuristische Bedeutung und eine Kontrollfunktion bei.

23 Hermisson (o. Fußn. 1), 295.

24 Hermisson (o. Fußn. 1), 298.

25 Hermisson (o. Fußn. 1), 304.

26 Van Oorschot (0. Fußn. 1), 168.

27 Van Oorschot (o. Fußn. 1), 167 ff.

28 Kratz (o. Fußn. 1), 3. Dasselbe Argument spielt eine entscheidende Rolle in O. H. Steck, Israel und Zion. Zum Problem konzeptioneller Einheit und literarischer Schichtung in Deuterojesaja, in: Steck (o. Fußn. 1), 173-207.

29 Man achte übrigens darauf, daß es bereits in 41-48 nicht Jakob-Israel ist, sondern die Nachkommenschaft von Jakob-Israel, die zurückkehren wird.



30 Ich verweise hier auch auf meine Rezension von Stecks Buch (o. Fußn. 1) in ThLZ 119, 1994, 636-639.

31 Hermisson (o. Fußn. 1), 304; Kratz (o. Fußn. 1), 3.

32 Die Berechnung beruht auf der Zählung der ganzen Verse. Ich lasse Hermissons ,Sammlung 6' (Gottesknechtlieder) außer Betracht.

33 Das ist vielleicht der Kürze wegen zu kraß ausgedrückt. Doch dominiert in den besprochenen Auffassungen m. E. die Vorstellung von einer ,gewachsenen Einheit' zu stark.

34 Es bleibt eine schwierig zu beantwortende Frage, ob man für Jes 40-55 an einen Autor oder an eine Gruppe von Autoren denken muß. Für ersteres spricht die konsequent durchgehaltene dramatische Linie des Werkes; aber

vielleicht hätte ein einzelner Autor spätere Veränderungen mit noch mehr Verständnis für den ursprünglichen Text angebracht und so noch weniger Spuren von Textproduktion im Text hinterlassen. Ich sprechen künftig immer von ,Autoren', Plural.

35 Kratz (o. Fußn. 1), 40 f; s. für das Folgende auch die Übersicht S. 217.

36 So auch Van Oorschot (o. Fußn. 1), 31 n.46.

37 Kratz (o. Fußn. 1), 41.

38 Leene (o. Fußn. 1), 34f. et passim.

39 Kratz (o. Fußn. 1), 41.83; siehe auch Van Oorschot (o. Fußn. 1), 105, der 41,27 zu der ,erste(n) Jerusalemer Redaktion (Dtjes Z)' rechnet.

40 Dem jetzt im Text vorangehenden 40,9-11, das Zion selbst mit dem Freudenboten zusammenfallen läßt, kann 41,27 schwerlich entlehnt sein; 40,1-11 wird in seiner heutigen Form nach der Einfügung von 41,27 datieren.

41 So Hermisson (o. Fußn. 1), 303.

42 So ist 41,27 später zugefügt als 42,1-4 (siehe unten). Die Zufügung von 41,27 setzt diachronisch vermutlich die Aufeinanderfolge von 52,7-10 und 52,13-53,12 voraus. Die definitive Form des Prologs 40,1-11 (inclusive 9-11) kam noch später zustande (siehe o. Fußn. 40).

43 Vgl. Van Oorschot (o. Fußn. 1), 179.

44 Leene (o. Fußn. 1), 139 ff.

45 Daß 41,21-22 erst in Hinsicht auf den Einbau der Gottesknechtlieder zugefügt wurde [vgl. Hermisson (o. Fußn. 1), 311 n. 84], ist angesichts des Unterschiedes im Handlungsmuster nicht wahrscheinlich; 41,21-22 kann sehr gut aus 41-44* (d.h. ohne Einfügung von 42,1 ff. 18 ff.) erklärt werden.

46 Das zweite Gottesknechtlied wurde seinerseits vermutlich in einer noch wieder späteren Phase mit Jes 49,7 ergänzt, nämlich als Jes 52,13 - 53,12 fertiggestellt worden war.

47 Eine andere Frage, auf die in diesem Artikel nicht mehr ausführlich eingegangen werden kann, ist die nach dem Zeitpunkt, an dem dieses Projekt gestartet wurde. Bereits in der ältesten Version des Buches findet man Reminiszenzen an Ps 96 und 98. Es ist nicht annehmbar, daß diese Lieder von Jes 40-55 abhängig sind. Diese Psalmen können also nicht nur für Deuterojesajas Buch in seiner Endgestalt, sondern auch für die ältesten Phasen in der Buchproduktion den terminus post quem bilden.

Bereits im frühesten von mir beschriebenen Stadium wird eine Spannung zwischen der Veränderung, die sich in JHWHs performativem Heilswort an den Knecht Israel vollzogen hat, und dem tatsächlichen Zustand des Hauses Israel spürbar. Die Knechtsgestalt in den Liedern setzt überall diese Spannung voraus. Es scheint mir, daß der Plan an und für sich, ein solches Drama, wie das von Jes 40-55, zu kreieren, nicht vor 515 v.Chr. aufgekommen sein kann. Vielleicht entstand dieser Plan erst, als sich zeigte, daß die Begeisterung über den auf Kyros' Geheiß gebauten zweiten Tempel nicht von der ganzen jüdischen Gemeinschaft geteilt wurde.

Wie schon erläutert hat das Grundmaterial keinen selbständigen Status und braucht demzufolge auch nicht vor die älteste Version des Buches datiert zu werden. Die Tatsache, daß Kyros damals bereits eine historische Gestalt geworden war, stellt für diese Auffassung kein Problem dar. Wie Kratz in seiner gelehrten Studie deutlich macht, konnte ,Kyros' bis in der früh-chronistischen Periode als Symbol für das Persische Reich fungieren. Hinweise auf Ägypten als Lösegeld für Israel, die m. E. zur ältesten Buchversion gehören, berücksichtigen zweifellos bereits historische Entwicklungen während Kyros' Nachfolgern. Das Gericht, das JHWH, aufgrund von aufeinanderfolgenden Etappen in Kyros' Vormarsch, mit den Göttern führt, setzt als literarische Verarbeitung der Geschehnisse einen großzügigen Ab-stand zu diesem Vormarsch selbst voraus.

Wenn wir davon ausgehen können, daß Jes 40-55, abgesehen von vielleicht einer einzelnen ,groß-Jesajanischen' Zufügung, innerhalb höchstens zwei Generationen in großen Linien vollendet wurde, dann könnte man, mit aller Vorsicht, an ein Zustandekommen in den ersten 70 Jahren nach 515 denken. Bei einer viel längeren Periode hätte man die Kontrolle über den Produktionsprozeß verloren, und hätte nicht eine so homogene Schrift entstehen können.

Für die deutsche Übersetzung danke ich Sabine Hiebsch.