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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

203-205

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Windsor, Lionel J.

Titel/Untertitel:

Paul and the Vocation of Israel. How Paul’s Jewish Identity Informs his Apostolic Ministry, with Special Reference to Romans.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XII, 305 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 205. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-033188-2.

Rezensent:

Felix John

Die Dissertation Lionel J. Windsors, Geistlicher der Anglikanischen Kirche Australiens, entstand in Durham bei Francis Watson. W.s Paulusinterpretation lässt sich – zumindest aus einer Außensicht – der Paul-Within-Judaism-Perspective (auch: The New View of Paul oder Radical New Perspective on Paul) zuordnen. In kritischer Weiterentwicklung der new perspective on Paul soll der Apostel hier – auch und gerade als Heidenmissionar – ganz als Jude begriffen, ein auch nur ansatzweises Gegenübertreten von Judentum und christlichem Glauben konsequent vermieden werden. Für W. fallen Paulus’ apostolisches Selbstverständnis und seine jüdische Identität in eins. Die Heidenmission sei unmittelbarer Ausdruck des Judeseins Paulus’ (1), so W.s Fazit seiner Analysen einschlägiger Texte des Römerbriefs. Das Schreiben dokumentiere weiterhin Paulus’ Be­schäftigung mit der Tatsache, dass die Mehrheit seiner Mitjuden ihr Judesein in anderer Weise verstanden hätte. W. nennt sie die Angehörigen des »mainstream«-Judentums (5), das er durch gelegentliche Einschübe mittels externer Quellen, vor allem Josephus und Philo, rekonstruiert. Die entscheidende Differenz zwischen dem paulinischen und dem landläufigen jüdischen Selbstverständnis bestehe in der Auffassung von der »vocation« (9) Israels, der Rolle, die Gott seinem Volk – im Gegenüber zu den Heiden – gegeben habe.
Nach einem kurzen Überblick über ausgewählte Forschungspositionen (22–43) erarbeitet W. die Grundlagen seines Beweisgangs anhand von Untersuchungen der paulinischen Termini »Juden«, »Israel(iten)«, »Judaismos«, »Hebräer«, »Beschneidung« (44–95). Die von Paulus vorgenommene Unterscheidung zwischen Juden und Nicht-Juden sei keineswegs eine zwischen den Sphären des Heils und des Unheils. Vielmehr spiele jüdische Identität für Paulus auch unter dem Vorzeichen des Glaubens an Christus eine, ja die zentrale Rolle. Denn Israel habe in Schrift und Mosetora göttliche Offenbarung empfangen (vgl. Röm 3,2). Ihr verdanke es seine spezifische Berufung im Gegenüber zu den Völkern. Worin Israels Berufung konkret besteht, sei kontrovers beurteilt worden. Vor seiner Le­benswende habe Paulus etwa sich für berufen gehalten, für die Reinheit des Gottesvolkes einzutreten. Danach sei er aufgrund seiner Christuserkenntnis zu der Einsicht gekommen, dass die Mission zu den Heiden Bestandteil der in Israel ihren Ausgang nehmenden universalen göttlichen Rettung sei. In diesem Kontext habe er sich dann als berufener Heidenmissionar verstanden.
Im Zuge der Begründung und Entfaltung seiner Position im Römerbrief zeige sich die »Jewishness of Paul’s vocation« (96–139). Der »Knecht Christi Jesu« (Röm 1,1) führe sich als Repräsentant Israels (vgl. Jes 49,3LXX) ein. Die von ihm betriebene Heidenmission verorte er im Kontext des prophetisch verheißenen Heilsgeschehens für ganz Israel und die Heiden (vgl. Jes 40–55). Seinen Dienst (Röm 15,14–21) ordne der Völkerapostel der priesterlichen Aufgabe Israels (vgl. Jes 60 f.; Jer 1) zu.
In dem eigenständigen, nicht eine direkte Fortführung von 2,1–16 bildenden Passus Röm 2,17–29 setze sich Paulus kritisch mit der jüdischen (›synagogalen‹) Identität auseinander (140–194). Das Selbstverständnis, die (Lehre der) Tora zu besitzen (V. 17–20), dekonstruiere Paulus (V. 21–27). Es bewirke aus seiner Sicht das Gegenteil des Erwarteten und werde zudem vom gesetzestreuen Nicht-Juden übertroffen. Jüdische Identität habe für Paulus ihren eigentlichen Ort innerhalb der christusgläubigen Gemeinschaft (V. 28 f.). Die Verse hätten Heidenchristen (als neues ›wahres‹ Israel) gerade nicht im Blick. Auch gehe es nicht um Fragen des Heils. Vielmehr nehme Paulus eine Schwerpunktverschiebung hinsichtlich der Berufung Israels vor, indem er die eigentliche Rolle des Gesetzes klar mache: Es rufe nicht länger zum Tun der Gebote auf, sondern diene der Aufdeckung der Sünde, um zur Glaubensgerechtigkeit zu führen.
Röm 9–11 liest W. als Klimax der apostolischen Selbstreflexion im Kontext seiner Mitjuden (195–247). Die Person des Apostels bilde den Rahmen des gesamten Abschnitts. Thema seien die sich aus Paulus’ apostolisch-jüdischer Existenz ergebenden Spannungen. a) In 9,1–5 bringe er seine Trauer nicht über Israels Unglauben zum Ausdruck, sondern darüber, dass das Gottesvolk seine Berufung im Rahmen des von Gott intendierten Heilsschaffens nicht wahrnehme. Paulus betone die Israel gegebenen Privilegien, etwa das Gesetz. Dessen wahre Bestimmung müsse aber von Christus her verstanden werden. b) Israel verkenne für Paulus seine Mission (Röm 10,1–4). 10,4 etabliere kein »new Christian pattern of religion« (215). Von Christus sei hier als Zweck bzw. Erfüllung des Gesetzes die Rede. c) Paulus begründe seine Heidenmission (Röm 10,8) durch seine (christologische) Gesetzesauslegung. d) Röm 10,14–18 erbringe den Erweis, dass die jüdische Christusmission unter den Heiden unmittelbar dem endzeitlichen Heilshandeln Gottes diene. Das Mainstream-Judentum verkenne diese Aufgabe (V. 19–21). e) Röm 11,1 markiere den Wendepunkt des Abschnitts. Gerade als Heidenmissionar präsentiere Paulus sich als Vorbild Israels. f) In Röm 11,11–14 binde der Apostel sein und das landläufige Verständnis der jüdischen Identität zusammen, so dass er ganz Israel die Rettung ansagen könne (11,15 f.). Israel, so Paulus’ Hoffnung, bleibe nicht länger beim Verkennen seiner Berufung stehen, sondern werde durch das Ingangsetzen der Rettung der Heiden in das endzeitliche Geschehen einbezogen. Durch seine Heidenmission motiviere Paulus auch weitere Mitjuden, sich zu Christus zu bekennen.
W.s Arbeit kommt das sicher zu weiterem exegetischen Nachdenken anregende Verdienst zu, Paulus’ Bemühung um Selbstvergewisserung mittels seiner Jesajarezeption aufgegriffen und in Bezug zu paulinischen Judentum-Aussagen gesetzt zu haben. Ob sich das Potential der analysierten Texte immer innerhalb des durch die Grundthese von der apostolisch-jüdischen Existenzauffassung des Paulus abgesteckten Rahmens erschöpft, sei dahingestellt. Der Frage kann an dieser Stelle nicht erschöpfend nachgegangen werden. Grundsätzlich muss im Einzelfall überprüft werden, ob nicht die jeweiligen Texte mit ihrem Eigenrecht bisweilen hinter das Gesamtkonstrukt der vorgelegten Pauluslektüre zu­rücktreten. Im Hinblick auf W.s Auslegung von Röm 9–11, aber auch auf weitere in seiner Arbeit behandelte sowie nur gestreifte Texte, etwa darf kritisch angefragt werden, ob vollständig ausge-lotet wird, in welcher Weise und wie tiefgreifend der Glaube an Christus aus paulinischer Sicht jüdische (und heidnische) Identität verändert – und ob nicht doch unbedingt von einem entstehenden Novum die Rede sein müsste.
Das Problem des Selbstverständnisses des Juden und Christusverkündigers Paulus müsste auf weiteren, über den Rahmen der Arbeit W.s hinausgehenden Ebenen diskutiert werden. Zu berücksichtigen wäre dabei nicht nur Paulus’ Umgang mit jüdischen Identitätsmerkmalen, sondern auch das Beziehungsgeflecht aus nichtchristusgläubig-jüdischen, judenchristlichen, heidenchristlichen und paganen Perspektiven, auch denjenigen der frühen Paulusrezipienten. Im Idealfall entstünden so Ansätze, die die ge­genwärtig vertretenen, konfligierenden Richtungen der Paulus-forschung verstärkt in einen offenen Dialog miteinander treten lassen.